Pelé - Warum Fußball?

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Schließlich verkündete der Ansager den Namen des Kapitäns dieser Auswahl von 1950. Es handelte sich bei ihm um einen gefürchteten Verteidiger und mitreißenden Anführer, der immun gegen die Nervosität rund um große Spiele zu sein schien. Möglicherweise hatte das auch damit zu tun, dass er, bevor er als Fußballer Karriere machte, bei der brasilianischen Bundespolizei gearbeitet hatte. Er war nicht unbedingt torgefährlich, als Abwehrrecke konnte er bei 297 Einsätzen für seinen Club Vasco da Gama exakt null Treffer verbuchen. Aber in der Defensive war er wie ein Fels in der Brandung und hatte eine beruhigende Wirkung auf seine Mitspieler, was ideal war für ein Endspiel wie das bevorstehende.

Der Name des Kapitäns? Augusto.

Genau, jener Augusto, der acht Jahre zuvor mit meinem Vater auf dem Spielfeld in Minas Gerais zusammengestoßen war.

Das nennt man wohl Schicksal – der eine Mann erholt sich und führt Brasilien beim Spiel um den Titel aufs Feld, während der andere zurück nach Baurú muss, da sein Knie im Eimer ist, wo er der Übertragung des Spiels im Radio lauscht.

Falls Papa damals eifersüchtig war, so hat er es nie gezeigt. Ich nehme an, dass er einfach nur auf einen brasilianischen Triumph hoffte.

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Die erste Hälfte war ein einziger brasilianischer Sturmlauf. Unsere herausragende Offensive mit ihren fünf Angreifern, die vom schrecklichen „Kiefer“ angeführt wurde, schoss ein ums andere Mal auf das Gehäuse der Urus. Zuschauer, die vor Ort waren, behaupteten, dass es nach der ersten Hälfte gut und gerne 2:0 oder sogar 3:0 hätte stehen müssen. Doch Uruguays Torwart Roque Máspoli schaffte es irgendwie, jeden Schuss bravourös abzuwehren, obwohl er auch sehr viel Glück hatte, wie manche berichteten. Roque schien auch in seinem späteren Leben das Glück für sich gepachtet zu haben: Gleich zwei Mal gewann er die staatliche Lotterie seines Landes. Also war der 16. Juli 1950 nicht der einzige Tag in seinem Leben, an dem die Kugel für ihn richtig rollte.

Zu Beginn der zweiten Halbzeit gelang es Friaça endlich, Máspoli zu überwinden. Während sich Mama und Papa umarmten, sprinteten meine Freunde und ich hinaus auf die Straße und liefen durch die Nachbarschaft. Überall wurden Feuerwerke gezündet, und meine Ohren waren von einem süßen Summen erfüllt. Im Maracanã selbst warfen die Menschen mit Konfetti um sich und zündeten auch dort ein Feuerwerk. Die Euphorie war auf ihrem Höhepunkt, das landesweite Fest hatte begonnen.

Als meine Freunde und ich zurück ins Haus kamen, war die Feier bereits in vollem Gange. Mein Vater und seine Freunde tranken Bier, unterhielten sich über ihre Spiele für BAC und hörten nur mehr mit einem Ohr dem Kommentator im Radio zu.

Und plötzlich, fast nebenbei, hörten wir, wie der Mann von Radio Nacional verkündete:

„Tor für Uruguay!“

Moment mal. Was?

„Tor für Uruguay!“

Der Kommentator sagte später, dass er sich wiederholte, weil er gewusst habe, dass ihm seine Zuhörer beim ersten Mal nicht glauben würden.

Bei uns herrschte Totenstille, als wir seiner Schilderung des Treffers folgten.

„Gutes Kombinationsspiel des uruguayischen Angriffs, das zum Ausgleichstreffer führt“, verkündete der Radiomann mit plötzlich gedämpfter Stimme. „Bigode lässt sich von Ghiggia überrumpeln. Der flankt flach zur Mitte. Eine ideale Flanke. Schiaffino kommt über links und schießt ein!“

Brasilien – Uruguay 1:1.

Nun gut, das war eigentlich noch kein Grund zur Panik. Bei der WM 1950 musste jeder gegen jeden spielen, weil so wenige Teams am Turnier teilnahmen. Und so hätte Brasilien im letzten Spiel bereits ein Remis zum Titel gereicht. Es waren noch 20 Minuten zu spielen. Unser Team hatte im bisherigen Turnier durchschnittlich weniger als einen Gegentreffer pro Spiel hinnehmen müssen. Sie würden doch wohl jetzt nicht noch einen weiteren zulassen?

Jedoch passierte etwas Eigenartiges in dem Moment, als Uruguay den Ball ins Netz bugsierte. Das Publikum im Maracanã spürte es, und auch wir im weit entfernten Baurú konnten es fühlen. Es war, als würde das ganze Selbstvertrauen und all der Hype sich plötzlich ins Gegenteil verkehren, als würde Luft aus einem Ball entweichen. Wir hatten uns in so luftige Höhen gepusht, dass ein Fall von dort oben nun fatale Folgen haben würde – und ganz plötzlich starrte ganz Brasilien in den Abgrund.

Ich blickte flüchtig rüber zu Dondinho, der sich mit weit aufgerissenen Augen in einen Stuhl fallen ließ.

Im Maracanã hatte es 200.000 Menschen die Sprache verschlagen.

Trainer Costa sagte später, dass die Stille seinen Spielern eine Mordsangst eingejagt habe.

Das kleine Uruguay, dieser aufmüpfige Underdog, hatte Blut geleckt.

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Im Fußball besagt die Größe eines Landes oder der Spieler überhaupt nichts aus. Herz, Begabung und harte Arbeit sind die einzigen Dinge, auf die es ankommt. Meine Güte, ich hätte das besser als jeder andere wissen sollen.

Irgendwie hatten wir vergessen, dass Uruguays fußballerische Tradition mindestens so reich wie unsere eigene war, wenn nicht sogar noch reicher. Auf der ganzen Welt war diese Mannschaft berühmt für ihren „garra charrua“, was so viel bedeutet wie Mumm und Kampfgeist. Außerdem spielten bereits ab dem frühen 20. Jahrhundert Spieler afrikanischer Abstammung auf ihrer Seite – viel früher als bei anderen südamerikanischen Nationen wie etwa Brasilien. Uruguay hatte bereits zwei Goldmedaillen im Fußball bei Olympischen Spielen gewinnen können und darüber hinaus auch schon einen Weltmeistertitel auf der Habenseite. 1930 hatte Uruguay das erste WM-Turnier, welches damals auch in Uruguay ausgespielt wurde, für sich entschieden. Auch da fehlten, so wie bei der Endrunde 1950, einige der wichtigsten Mannschaften. Die Welt steckte tief in der Weltwirtschaftskrise, und viele Mannschaften aus Europa konnten sich die Reise schlicht nicht leisten. Deshalb behaupteten manche Leute, der Sieg Uruguays sei reiner Dusel gewesen. Sie hätten es besser wissen sollen.

Als die uruguayische Mannschaft zum entscheidenden Spiel in Rio anreiste und merkte, dass man sie lediglich als Statisten bei der brasilianischen Krönungszeremonie abtat, machte sie genau das, was man von einem Team mit eigenen Titelambitionen erwarten durfte – sie lehnte sich gegen ihre Rolle auf. Die Spieler waren total heiß und trainierten mit außergewöhnlicher Intensität. Und in genau dieser überschäumenden Rage erkannten die Trainer und Funktionäre dieser Mannschaft ihre große Chance.

Am Morgen des Spiels besorgte Manuel Caballero, der uruguayische Konsul in Rio, zwanzig Exemplare jener Tageszeitung, die Brasilien schon vorzeitig als „Weltmeister“ ausrief. Er brachte sie ins Hotel Paissandu, wo die uruguayische Delegation Quartier bezogen hatte. Als die Mannschaft vor dem Match noch eine Mahlzeit zu sich nahm, legte Caballero den Spielern die Zeitungen auf den Tisch und verkündete: „Mein Beileid, ihr habt schon verloren.“

Die Spieler schrien und stöhnten. Einer von ihnen, der als sehr emotional geltende Eusebio Tejera, stand auf und schlug gegen eine Wand.

„Nein, nein, nein! Sie sind keine Weltmeister!“, rief er. „Wir werden sehen, wer der neue Champion sein wird!“

Einem anderen Bericht zufolge schnappte sich daraufhin der Kapitän der Urus, Obdulio Varela, die Zeitungen und trug sie in die Toilette. Er breitete sie auf dem Boden aus, und alle Spieler urinierten auf die Bilder ihrer brasilianischen Gegner.

Als später an diesem Tag im Maracanã die erste Halbzeit torlos geendet hatte, witterten sie die Sensation. Brasiliens Unantastbarkeit war verflogen. Sogar als wir gleich zu Beginn der zweiten Hälfte in Führung gingen, verstärkte das die uruguayische Wagenburgmentalität nur noch. Obdulio hob den Ball aus dem Netz und schrie eine ganze Minute lang sowohl den Schiedsrichter als auch das Publikum an. Er wollte den Ball gar nicht mehr loslassen. Als er ihn schließlich zurück auf den Rasen legte, damit es weitergehen konnte, wandte er sich an seine Kameraden:

„Wir werden hier gewinnen – oder sie werden uns töten!“

Gut, das war natürlich etwas überspitzt formuliert, doch er war sicher nicht die erste Person an diesem Tag in Brasilien, die sich zu einer Übertreibung hatte hinreißen lassen. Sein Team reagierte mit jenem Offensivdruck, den sich Obdulio erhofft hatte – und so folgte kurz darauf der Ausgleichstreffer. Wenig später war es Alcides Ghiggia, ein herausragender Rechtsaußen, der sich knapp zehn Minuten vor dem Schlusspfiff alleine vor dem gegnerischen Tor wiederfand.

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Die Stimme im Radio informierte uns: „Ghiggia passt den Ball zurück … Julio Pérez spielt den Ball tief auf den Rechtsaußen … Ghiggia läuft auf das Tor zu … er schießt. Tor. Tor für Uruguay! Ghiggia! Uruguays zweiter Treffer. Uruguay geht 2:1 in Führung … 33 Minuten sind in der zweiten Hälfte gespielt.“

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Womöglich spürte ich unsere bevorstehende Niederlage. Vielleicht erschreckte mich die Stille in unserem Wohnzimmer. Oder weil ich nur ein Kind war, verließ ich das Haus, um mit meinen Freunden zu spielen, bevor Uruguay zum zweiten Mal zuschlug. Wir droschen den Ball halbherzig durch die Gegend und feierten unsere eigenen Treffer. Aber wir wussten, dass die Dinge im Haus schlecht standen.

Kurze Zeit später schlurften die Freunde meines Vaters ins Freie. Ihre Gesichter sprachen Bände. Nun wusste ich natürlich, was Sache war. Ich legte den Ball auf den Boden, holte tief Luft und ging zurück ins Haus.

Dondinho stand mit dem Rücken zum Zimmer und starrte aus dem Fenster.

„Papa?“

Er drehte sich um, und Tränen rollten über seine Wangen.

Ich war fassungslos. Ich hatte Papa noch nie weinen gesehen.

 

„Brasilien hat verloren“, krächzte er, als würde es ihm Mühe bereiten, diese Worte auszusprechen. „Brasilien hat verloren.“

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„Niemals habe ich in meinem Leben Menschen so traurig erlebt wie die Brasilianer nach dieser Niederlage“, erinnerte sich Alcides Ghiggia, der Schütze des Siegtreffers, viele Jahre später. Mit etwas weniger Mitgefühl fügte er hinzu: „Nur drei Menschen vermochten es, das Maracanã zum Schweigen zu bringen – der Papst, Frank Sinatra und ich.“

Als der Schlusspfiff erklang, brachen Tausende Menschen auf den Tribünen in Tränen aus. Gott weiß, wie viele es in ganz Brasilien waren. Die Stimmung war so am Boden, dass sogar die uruguayischen Spieler, die auf Jules Rimet, den Präsidenten der FIFA und Vater der Weltmeisterschaft, warteten, damit er ihnen die wohlverdiente Trophäe überreichen konnte, nur noch in ihre Kabine laufen wollten. „Ich weinte mehr als die Brasilianer“, sagte Schiaffino, der das erste Tor erzielt hatte, „weil ich sehen konnte, wie sehr sie litten.“

Vor dem Stadion steckte eine wütende Menschenmenge einen Stapel Zeitungen in Brand – darunter wohl auch Exemplare, in denen Brasilien voreilig zum Weltmeistertitel gratuliert wurde. Das Stadion wurde nicht niedergebrannt, aber eine Statue des Bürgermeisters, die der vor dessen Toren hatte aufstellen lassen, wurde niedergerissen. Der abgeschlagene Kopf der Figur wurde in den nahegelegenen Fluss geworfen. Ein paar Stunden später schlichen die brasilianischen Spieler benommen aus der Arena. Viele wankten in umliegende Bars, wo manche von ihnen die nächsten paar Tage verbringen sollten. Friaça, der das brasilianische Tor geschossen hatte, wurde von einer Gruppe Fans erkannt. Sie begannen ihm die Namen der siegreichen uruguayischen Spieler hinterherzurufen: „Obdulio!“, „Ghiggia!“ Wie er selbst sagte: „Ich wusste, dass mich diese Rufe mein ganzes restliches Leben verfolgen würden.“

Und tatsächlich sollte der Schmerz in den nächsten Wochen und Monaten nur noch schlimmer werden. So laut der Hype auch gewesen sein mochte, das Wehklagen war noch lauter. Es war wie nach einem Krieg, den Brasilien verloren hatte und in dem viele Menschen gestorben waren. Die Niederlage wurde nicht nur den Unzulänglichkeiten von elf Spielern, sondern den Mängeln eines ganzen Landes angekreidet. Es war der Beweis, dass Brasilien zur Rückständigkeit verdammt war. Manche murrten, dass Brasilien nie die WM gewinnen und nie bei irgendetwas Großem würde mithalten können.

Sogar einige sehr seriöse Leute vertraten diese Ansicht. Der berühmte Anthropologe Roberto DaMatta bezeichnete die Niederlage als vielleicht größte Tragödie in Brasiliens neuerer Geschichte, da sie jeden davon überzeugt habe, dass wir eine Nation von Verlierern seien. Noch schlimmer, die Schmach ereignete sich genau dann, als das Land es wagte, sowohl im Sport als auch in puncto globalem Ansehen von internationaler Größe zu träumen. Wir hatten etwas riskiert, und es war auf schreckliche Weise schiefgelaufen. Jahre würden vergehen, bevor unser nationales Selbstvertrauen sich erholen würde. „Jedes Land hat seine unabänderliche nationale Katastrophe, so etwas wie Hiroshima“, schrieb Nelson Rodrigues, ein brasilianischer Sportjournalist. „Unsere Katastrophe, unser Hiroshima, war die Niederlage gegen Uruguay 1950.“ Ein anderer Journalist, Roberto Muylaert, verglich die grobkörnigen Schwarzweißaufnahmen von Ghiggias Siegtor mit dem Filmmaterial, das den Anschlag auf Präsident John F. Kennedy festhielt. Er meinte, dass beide „die gleiche Dramatik … den gleichen Bewegungsablauf und Rhythmus … die gleiche Präzision eines unaufhaltsamen Geschosses“ abbilden würden.

Einige Spieler des Teams von 1950 sollten noch Großartiges für ihre Vereinsmannschaften leisten, aber traurigerweise sollte nie einer von ihnen den Weltmeisterpokal in die Höhe stemmen. Viele grübelten noch auf ihrem Sterbebett über die entgangene Chance nach. Mein Lieblingsspieler Zizinho sagte, dass er seine Silbermedaille in der Ecke eines seiner Trophäenschränke aufbewahre und sie anlaufen lasse, bis sie schließlich schwarz sein würde. „Ich poliere sie nicht“, meinte er Jahre später. „In Brasilien ist es nichts wert, Zweiter zu werden. Da scheidest du besser auf dem Weg ins Endspiel aus.“ Und wenn er auch vergessen wollte, so ließen es doch die Menschen nicht zu. Jahrzehntelang musste Zizinho an jedem 16. Juli den Hörer neben das Telefon legen. „Ansonsten klingelt es den ganzen Tag“, murrte er. „Leute aus ganz Brasilien wollen von mir wissen, warum wir das Spiel um die Krone verloren haben.“

So schlimm das alles klingen mag, so gab es doch eine Gruppe von Spielern, denen man noch weniger verzeihen wollte – den schwarzen. In seinem berühmten Buch Der Neger im brasilianischen Fußball schrieb der Journalist Mário Filho, dass viele Brasilianer die Niederlage auf die „rassische Unterlegenheit“ unseres Landes zurückführten. Das war eine so alte wie abstoßende Theorie, keine Frage, aber es wurde alles nur noch schlimmer, da – rein zufällig – die zwei „Schwärzesten“, die damals für Brasilien aufliefen, unmittelbar in die Entstehungsgeschichten der beiden uruguayischen Treffer verwickelt gewesen waren. Bigode, der Verteidiger, der Schiaffino beim ersten Tor hätte decken sollen, wurde noch jahrelang als „Feigling“ beschimpft. Er zog sich zurück und vermied jeden Kontakt zu seinen Freunden aus dem Team von 1950, da er fürchtete, jemand würde das Spiel ansprechen. Und Barbosa, der Torwart … Mann, den Kerl traf es am härtesten.

Ich traf Barbosa oft in späteren Jahren. Er lebte in Rio und spielte noch bis 1962 auf Clubebene, bis er sich im relativ hohen Alter von 41 vom aktiven Sport verabschiedete, nachdem er viele Titel gewonnen hatte. Aber egal, was er auch tat, nie konnte er den Schuldzuweisungen, dem Hohn und dem Zorn entfliehen. Jahrzehnte später, 1994, wollte er das brasilianische Team auf ihrem Trainingsgelände in Teresópolis besuchen, weil er die Mannschaft vor der WM in den USA mit einer inspirierenden Rede verabschieden wollte, doch man verweigerte ihm den Zutritt, da man glaubte, er würde ihr „Pech“ bringen. Bevor er im April 2000 starb, sagte er zu mir und anderen: „In diesem Land ist die gerichtliche Höchststrafe 30 Jahre Gefängnis. Ich bin kein Verbrecher und habe bereits länger büßen müssen.“

Die Wahrheit ist, dass Brasiliens Niederlage nicht Barbosas Schuld war, auch nicht die eines anderen Spielers. Zizinho sagte, dass das überhebliche Geschwätz der Zeitungen „die größte Waffe war, die man seinem Gegner in die Hand drücken kann“. Trainer Costa fasste es am besten zusammen, indem er die Niederlage mit der allgemeinen Hurra-Stimmung der Fans, der Presse und des Verbandes begründete. Es war der Hype, der Brasilien das Genick brach. Jeder, der das Spiel zu seinem Vorteil zu nutzen versuchte, besonders die Politiker, haben sich ihren Anteil an der Niederlage redlich verdient. Sie weckten unverhältnismäßige Erwartungen, und als sich herausstellte, dass das brasilianische Team sie nicht erfüllen konnte, war es verloren.

„Es war nicht das zweite Tor, das uns den Sieg kostete“, sagte Costa. „Es war das erste.“

Von solchen Vorwänden wollten viele Menschen aber nichts wissen. Und leider haben uns die Gespenster dieses Spiels im Maracanã noch immer nicht ganz verlassen. Barbosa sagte einmal, dass der schlimmste Tag in seinem Leben nicht der 16. Juli gewesen sei, sondern ein absolut gewöhnlicher Nachmittag zwei Jahrzehnte später, als ihn eine Frau mit ihrem kleinen Sohn in einem Geschäft erkannte.

„Sieh ihn dir an“, sagte die Frau und zeigte auf Barbosa. Sie sprach so laut, damit sie jeder hören konnte. „Das ist der Mann, der Brasilien zum Weinen gebracht hat.“

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Moment mal. Sagte ich nicht, dass der verspielte WM-Titel 1950 eine gute Sache für Brasilien gewesen sei?

Ich bitte vielmals um Verzeihung.

Ja, es gab viele schreckliche Folgen. Für Barbosa und viele andere Menschen gab es nie eine gute Seite an der Sache. Aber für andere bot dieser Tag die Möglichkeit, viel zu lernen – etwas, das uns als Volk prägte und sich in den kommenden Jahrzehnten noch auf vielerlei Arten positiv auswirken sollte.

Sich ums Radio zu versammeln und zusammen zu leiden, verschaffte uns Brasilianern eine gemeinsame Erfahrung. Zum ersten Mal in unserer Geschichte hatten sowohl die Reichen als auch die Armen etwas gemeinsam, etwas, worüber sie mit jedem auf der Straße, beim Bäcker oder im Büro diskutieren konnten, egal, ob sie in Rio, Baurú, São Paulo oder tief im Amazonasbecken lebten. Wir nehmen diese Dinge nun als selbstverständlich an, aber damals war es sehr wichtig, einen gemeinsamen Nenner zu finden, was es hieß Brasilianer zu sein. Wir waren einander nun nicht mehr fremd. Und ich glaube, dass wir das von da an nie mehr wirklich waren.

Nicht weniger wichtig war, dass wir auch ein bisschen dieser strahlenden Unschuld, dieser Unbeschwertheit, man kann es auch Naivität nennen, einbüßten, die während dieses Nachmittags im Juli und den Monaten zuvor so offensichtlich gewesen war. Sie sollte natürlich nicht ganz verlorengehen. Aber danach waren wir alle ein wenig reifer geworden. Wir würden nicht mehr so leicht alles akzeptieren, was uns Politiker und Medien uns weiszumachen versuchten. Dies führte in den folgenden Jahren zu beträchtlichen Konsequenzen, sowohl was die Politik als auch unsere Kultur anging.

Abschließend: Für eine Generation von angehenden Fußballern wie mich war der 16. Juli 1950 ein enormer Ansporn. Während mein Vater weinte und meine Mutter ihn zu trösten versuchte, schlich ich mich ins Schlafzimmer meiner Eltern. Dort hatten sie ein Bild von Jesus an der Wand aufgehängt. Ich brach in Tränen aus und wandte mich an ihn.

„Warum ist das passiert?“, schluchzte ich. „Warum ist uns das passiert? Warum, Jesus, werden wir bestraft?“

Ich bekam natürlich keine Antwort. Doch als meine Verzweiflung nachließ, machte sie Platz für etwas Anderes – etwas Tiefsinnigeres und Milderes. Ich trocknete meine Tränen, ging ins Wohnzimmer und legte meine Hand auf den Arm meines Vaters.

Woher das, was ich nun sagen sollte, kam, dafür habe ich, ehrlich gesagt, keine Erklärung. Vielleicht war es nur eines dieser Dinge, die ein Neunjähriger sagt, damit es einem Elternteil bessergeht. Allerdings war es in Anbetracht von allem, was später passieren sollte, schon sehr interessant.

„Es ist schon gut, Papa“, sagte ich zu ihm. „Ich verspreche dir, eines Tages werde ich die Weltmeisterschaft für dich gewinnen.“

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