Pelé - Warum Fußball?

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Natürlich war nicht alles nur Spiel und Spaß. Aufgrund unserer finanziellen Situation musste ich bereits mit sieben einer Teilzeitarbeit nachgehen. Mein Onkel Jorge borgte mir etwas Geld, wovon ich mir ein Schuhputz-Set kaufte. Dieses bestand aus einer kleinen Box, in der ich ein paar Bürsten aufbewahrte, und einem Ledergurt, damit ich sie mir umhängen konnte. Zuerst übte ich mit den Schuhen von Freunden und Verwandten, aber sobald ich meine Technik ausgefeilt hatte, lief ich zum Bahnhof, um dort Schuhe zu polieren. Ein paar Jahre später arbeitete ich auch in einer Schuhfabrik. Eine kurze Zeit lang lieferte ich Pastels, köstliche frittierte brasilianische Teigtaschen, die üblicherweise mit Hackfleisch, Käse oder Palmherzen gefüllt sind, für eine syrische Frau, die in unserer Nachbarschaft lebte und sie zubereitete, an einen Verkäufer. Er wiederum verkaufte sie dann an die Passagiere einer der drei Straßenbahnlinien, die durch unsere Stadt führten.

Mit nichts von alledem ließ sich viel Geld verdienen. Baurú war so arm wie das restliche Brasilien. Oft schien es, als gäbe es mehr Schuhputzer als Schuhe. Egal, wie viel ich einnahm, ich gab alles pflichtbewusst meiner Mutter, die davon Essen für uns kaufte. Wenn es uns mal etwas besser ging, gab sie mir ein paar Münzen, damit ich am Sonntag ins Kino gehen konnte.

Dann war da noch die Schule. Ich muss gestehen, dass meine schulischen Leistungen leider nicht mit meiner Performance auf dem Spielfeld Schritt halten konnten. Meine Begeisterung für Fußball machte mich zu einem schwierigen und aufmüpfigen Schüler. Manchmal verließ ich einfach das Klassenzimmer, um im Schulhof mit einem zusammengeknüllten Stück Papier zu dribbeln. Meine Lehrer gaben ihr Bestes: Sie versuchten mich zu disziplinieren, indem sie mich auf getrockneten Bohnen knien ließen. Hin und wieder stopften sie mir Papierkugeln in den Mund, damit ich aufhörte zu quasseln. Ein Lehrer stellte mich mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke. Dort musste ich die Arme von mir strecken, so wie die Christus-Statue in Rio. Ich weiß noch, dass ich einmal ziemlichen Ärger bekam, weil ich unter das Pult der Lehrerin gekrabbelt war und einen Blick unter ihren Rock riskiert hatte.

Mit der Zeit entmutigte mich die Schule. Es gab so viele andere Dinge zu tun. Ich muss leider zugeben, dass ich nur mehr sporadisch in der Klasse auftauchte. Das war damals typisch für mich. In den späten Vierzigern ging überhaupt nichts. Nur jedes sechste Kind schaffte es in die Oberschule. Trotzdem soll das nicht als Ausrede gelten. Später sollte ich es bereuen, in der Schule nicht besser aufgepasst zu haben, und musste mich gehörig ins Zeug legen, um dieses Defizit wieder wettzumachen.

Ich konzentrierte meine nicht unbeträchtliche Energie auf das Fußballfeld. Dort mussten wir nicht über Armut, unsere Eltern oder tragische Ereignisse nachdenken. Auf dem Platz war niemand arm oder reich, dort konnten wir einfach nur spielen. Wir verbrachten unsere Tage damit, über das Spiel zu sprechen und es zu leben. Selbstverständlich hatten wir noch keine Ahnung, dass Fußball dem größten Spektakel, das je in Brasilien stattfinden sollte, bald eine Bühne bieten würde.

- 6 -

Seit jeher hält kaum etwas die Menschen so in Atem wie die Weltmeisterschaft. Das Turnier versammelt alle vier Jahre Länder aus der ganzen Welt, um einen Monat lang zu spielen und zu feiern. Es ist eine Riesenparty, zu der die ganze Welt eingeladen ist. In den letzten 56 Jahren war ich bei jeder einzelnen, entweder als Spieler, Fan oder „Botschafter des Fußballs“, zu dem ich ernannt wurde. Aus Erfahrung kann ich besten Gewissens behaupten, dass es nichts Besseres gibt. Natürlich sind auch die Olympischen Spiele großartig, doch finden dort für meinen Geschmack zu viele verschiedene Wettkämpfe statt. Bei der Weltmeisterschaft dreht sich alles nur um Fußball. Es ist ein Turnier, das einem berauschenden Höhepunkt, dem Endspiel um die Krone im Fußball, entgegenstrebt.

Die Weltmeisterschaft ist mittlerweile eine solche Institution, dass es beinahe so scheint, als hätte es sie schon immer gegeben. Doch als 1950 die WM in Brasilien ausgetragen wurde, war sie noch ein relativ junges Konzept und stand mehr oder weniger auf wackligen Beinen. Die erste WM hatte 1930, also 20 Jahre zuvor, stattgefunden. Der Franzose Jules Rimet, der Präsident der FIFA, also des Weltfußballverbandes, entschloss sich, den immer beliebter werdenden Sport in die Auslage zu stellen. Sein Plan war es, alle vier Jahre ein Turnier zu veranstalten, das genau zwischen zwei Olympischen Sommerspielen stattfinden sollte. Er hoffte, dadurch das Ansehen der Nationalmannschaften zu stärken und außerdem einen Beitrag zur globalen Eintracht leisten zu können. Leider gab es damals nur männliche Auswahlmannschaften – etliche Jahrzehnte später hatte schließlich jemand die brillante und längst überfällige Idee, auch Weltmeisterschaften für Frauenteams auszutragen.

An den ersten paar Weltmeisterschaften nahmen so unterschiedliche Teams aus Ländern wie Kuba, Rumänien und Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien, genauso teil wie die bereits etablierten Supermächte des Fußballs, Brasilien und Italien. Die Weltmeisterschaft wurde immer prestigeträchtiger und zog immer mehr Zuschauer an, und 1938, als die WM in Frankreich stattfand, pilgerten zehntausende Menschen zu den Spielen. Jedoch kam es im Vorfeld des Turniers zu einigen schicksalsträchtigen Ereignissen. So musste das Team aus Österreich in letzter Minute seine Teilnahme absagen, da das Land drei Monate zuvor von Deutschland annektiert worden war. Die besten österreichischen Spieler wurden in die deutsche Auswahl berufen, die allerdings bereits in der ersten Runde vor einem feindlich gesinnten, mit Flaschen werfenden französischen Publikum ausschied. Es sollte leider nicht das letzte Mal bleiben, dass die Politik auf das Spiel übergriff.

Als im Jahr darauf der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde die Weltmeisterschaft – wie so viele andere Dinge – lange auf Eis gelegt. Der Krieg endete 1945, aber weite Teile Europas waren verwüstet. Der Wiederaufbau stand im Mittelpunkt, und es sollten noch Jahre vergehen, bis jemand es für möglich hielt, ein weiteres globales Fußballturnier zu organisieren. Für 1950 aber schien die Zeit reif, einen neuen Anlauf zu wagen, doch brauchte man ein Land, das den Krieg unbeschadet überstanden hatte und die entsprechende Infrastruktur bieten konnte. Somit kam Brasilien ins Spiel.

Als sich Brasilien bereiterklärte, die WM 1950 auszutragen, mussten einige Länder absagen, da ihnen schlicht die finanziellen Mittel fehlten, Teams nach Südamerika zu entsenden. Damals konnte man noch nicht so einfach um die halbe Welt jetten, eine Flugreise von Europa nach Brasilien konnte an die 30 Stunden dauern, während der man oft zwischenlanden musste. Das geteilte und besetzte Deutschland wurde von der Teilnahme ausgeschlossen. Das Gleiche galt für Japan. Schottland und die Türkei sagten kurzfristig ab. Letztlich kamen nur sechs Teams aus Europa, neben Südamerika die Hochburg des Fußballs. Das war natürlich sehr schade für sie – aber umso besser für Brasilien. Wir jagten immer noch unserem ersten Titel hinterher und dachten, dass er überfällig wäre. Nun, da die Konkurrenz überschaubar war und das Turnier auch noch bei uns zu Hause stattfand, war eigentlich alles angerichtet.

In Baurú, so wie auch überall sonst in Brasilien, waren alle im WM-Fieber. Vielleicht gar nicht so sehr wegen der WM an sich, aber wegen des bevorstehenden Titelgewinns. Ich war gerade erst neun, aber alt genug, um mich von der Stimmung anstecken zu lassen. Ich erinnere mich an die selbstbewussten Worte meines Vaters, die er immer wieder sprach, während wir vor dem Radio saßen und der Berichterstattung folgten: „Der Titel gehört uns, Dico!“

Meine Freunde unterhielten sich über Feiern und Paraden und stritten sich darüber, wer die Trophäe tatsächlich mit eigenen Augen sehen würde. Wir trugen unsere Spiele auf der Straße aus und stellten uns dabei als Weltmeister vor. Eigentlich war es ziemlich verblüffend, dass, egal wohin ich ging, niemand auf die Idee kam, Brasilien könnte das Turnier nicht als Sieger beenden.

- 7 -

Eine neue Form der Energie rollte durch Brasilien. Jeder konnte es spüren. Die Menschen waren beschwingt von dem Verlangen, die Welt zu beeindrucken, was auch für abgelegene Orte wie Baurú galt, wo die WM nicht viel greifbarer als ein Gerücht war. Daher beschlossen wir Spieler von der Rubens-Arruda-Straße, ein Zeichen zu setzen und uns selbst zu einer ordentlichen Mannschaft – wie dem brasilianischen Nationalteam oder Dondinhos BAC – zusammenzuschließen. Wir brauchten eine ordentliche Ausrüstung – Trikots, Hosen, Schuhe und Strümpfe. Und selbstverständlich benötigten wir einen besseren Ball als den, den wir uns aus zusammengerollten Socken gebastelt hatten.

Die Sache hatte nur einen Haken. Wir waren komplett blank.

Ich schlug vor, die Mittel dafür aufzubringen, indem wir unsere Fußballaufkleber verkauften. Diese Sticker waren damals total angesagt – sie ähnelten Baseball-Karten –, und jeder von ihnen zeigte einen anderen Spieler und lieferte zusätzlich noch ein paar Daten zum jeweiligen Akteur. Ich dachte, wenn wir unsere Sammlungen zusammenlegen und uns auf die echt berühmten Teams aus Rio und São Paulo konzentrieren würden, dass diese Sammlung, in ein Album geklebt, tatsächlich etwas wert sein könnte. Unser Ziel war es, jemanden zu finden, der dieses Album gegen einen Lederball eintauschen würde.

Der Plan wurde rasch angenommen. Trotzdem waren wir noch meilenweit von unserem ehrgeizigen Ziel entfernt. Ein Junge namens Zé Porto schlug vor, dass wir die Differenz, die uns fehlte, dadurch wettmachen könnten, indem wir vor dem Kino und dem Zirkus geröstete Erdnüsse verkauften. Eine tolle Idee. Aber woher sollten wir die Erdnüsse nehmen. Wie sich herausstellte, hatte Zé Porto auch für dieses Problem bereits eine Lösung parat. Er grinste listig und regte an, die Erdnüsse aus einer der Lagerhallen an der Eisenbahnstrecke zu klauen.

 

Bei einigen von uns machte sich angesichts dieser Idee ein mulmiges Gefühl breit. Ich erinnerte mich, wie meine Mutter mir eingebläut hatte, dass Diebstahl eine der schlimmsten Sünden wäre. Ich spürte, dass die anderen Jungs das Gleiche dachten. Aber Zé Porto war ziemlich überzeugend. Er sagte, dass wir einfach einen der Frachtwaggons aufbrechen könnten, wenn es uns nicht gelänge, in die Lagerhallen zu kommen. Wer würde denn schon ein paar Tüten mit Erdnüssen vermissen?

Ergänzend sagte er: „Abgesehen davon, wer nicht dabei ist, ist ein großer Schisser!“

Nun, gegen diese Argumentation kamen wir nicht an. Also gingen wir alle wie auf Eierschalen runter zum Bahnhof. Als einer der inoffiziellen Anführer wurde ich von den anderen, zusammen mit einem weiteren Jungen, dazu auserkoren, in den Waggon zu steigen, um die Erdnüsse zu klauen. Ich hatte Bedenken, aber ich war bereit, alles für den Fußball zu geben.

Als wir in den Waggon kletterten, konnte ich vor meinem inneren Auge meine Mutter sehen, die mit verschränkten Armen traurig den Kopf über uns schüttelte. Allerdings war es nun zu spät, umzukehren. Wir schnitten die Säcke auf, und vor uns ergoss sich eine Flutwelle aus Erdnüssen auf den Holzboden. Wir steckten sie hektisch in unsere Taschen, unsere Hemden und den rostigen Eimer, den wir mitgebracht hatten. Schließlich – mir kam es vor, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen – flüchteten wir mit unserer Beute vom Tatort und eilten zu unserer Gruppe. Anschließend rannten wir nach Hause, lachten und schrien vor Begeisterung – und Erleichterung.

Wir rösteten die Nüsse und verkauften sie, wie wir es geplant hatten, und kauften uns vom Gewinn unsere kurzen Hosen. Als wir erkannten, dass die Trikots unser Budget überstiegen, und keiner von uns das Glück mit einem weiteren Diebstahl erneut herausfordern wollte, einigten wir uns eben auf farblich aufeinander abgestimmte Leibchen. Nun hatten wir allerdings noch immer keine Stutzen oder Schuhe, aber wir waren zu aufgeregt, um uns deswegen den Kopf zu zerbrechen. Zuerst nannten wir uns Descalsos – die Schuhlosen, bis wir herausfanden, dass es bereits mehrere Teams in Baurú gab, die sich aus exakt den gleichen Gründen für exakt denselben Namen entschieden hatten.

Stattdessen wählten wir den Namen Sete de Setembro, nach der Straße, die meine Straße kreuzte, die wiederum nach dem Datum der Unabhängigkeit Brasiliens, dem 7. September, benannt war. Nun, da wir unsere Ausrüstung und ein paar echte Asse in unseren Reihen hatten, begannen wir, uns extrem ernst zu nehmen. Zu unseren Spielen liefen wir einer nach dem anderen auf das Feld – nun ja, die Straße – und gaben uns sehr andächtig, so wie wir uns das vom Team meines Vaters abgeschaut hatten. Wir organisierten Spiele gegen andere Mannschaften aus der Gegend und gingen zumeist als Sieger vom Platz, wobei wir unseren Gegnern manchmal zweistellige Debakel zufügten. Ich baute verschiedene abgefahrene Tricks in mein Spiel ein, hielt den Ball mit dem Kopf in der Luft oder tändelte ihn von einem Knie zum anderen. Mitunter lachte ich närrisch über die glücklosen Kicker aus den Nachbarschaften, an denen ich pfeilschnell vorbeijagte, um ein weiteres Tor zu schießen.

Eines Abends kam Dondinho aus dem Gemischtwarengeschäft nach Hause und wirkte sichtlich aufgebracht. Als wir mit dem Abendessen fertig waren, sagte er, dass er sich mit mir unterhalten müsse – und zwar unter vier Augen.

Er sagte: „Ich bin heute an der Straße vorbeigegangen, in der du und deine Freunde gespielt haben, und ich habe gesehen, was du gemacht hast.“

Meine Augen müssen gestrahlt haben vor Freude. Womöglich hatte er einen meiner neuen Tricks gesehen?

Aber er sagte: „Ich bin stinksauer auf dich, Dico. Ich habe gesehen, wie du diese anderen Jungs verspottet hast. Du solltest ihnen mehr Respekt entgegenbringen. Dein Talent? Du hast gar nichts getan, womit du es dir verdient hättest. Es war Gott, der es dir geschenkt hat! Die anderen Jungs sind vielleicht nicht mit dem gleichen Talent gesegnet wie du, aber was soll’s? Das gibt dir nicht das Recht, dich als etwas Besseres zu fühlen.“ Er fuhr fort: „Du bist nur ein Junge.“ Er hob mahnend den Zeigefinger und erklärte mir, dass ich noch nichts erreicht hätte: „Wenn sich das eines Tages geändert haben sollte, dann darfst du feiern. Aber selbst dann bleib bescheiden!“

Ich stand unter Schock. Ich wollte davonlaufen und mich in meinem Zimmer, das ich mit Zoca teilte, verstecken. Aber es war wie immer ein ausgezeichneter Rat, den mir Dondinho gab – diese Unterhaltung sollte mir für viele, viele Jahre im Gedächtnis bleiben. Und wie sich herausstellen sollte, hätte ganz Brasilien diese wertvolle Warnung bitter nötig gehabt.

- 8 -

Als die Weltmeisterschaft schließlich Fahrt aufgenommen hatte, stoppten unsere nachbarschaftlichen Spiele, damit wir dem Turnier unsere ganze Aufmerksamkeit schenken konnten. Und lange schien es, als wäre unsere atemlose Begeisterung gerechtfertigt. Brasilien gewann das Eröffnungsspiel in Rio in überzeugender Manier mit 4:0 gegen Mexiko, bei dem Ademir zwei Treffer beisteuerte. Er war ein Spieler von Vasco da Gama, den alle „Kiefer“ nannten, weil er so ein markantes Kinn hatte. Das nächste Spiel war eine viel nüchternere Angelegenheit. Im Pacaembu-Stadion in São Paulo endete die Begegnung mit der Schweiz 2:2. Doch der darauf folgende 2:0-Sieg gegen Jugoslawien ließ alle wieder ruhig schlafen – Brasilien war praktisch im Vorübergehen in die Finalrunde vorgestoßen.

Von da an war es, als hätte man ein Monster von der Kette gelassen. Brasilien demolierte ein ziemlich gutes schwedisches Team mit 7:1. „Kiefer“ allein schlug ganze vier Mal zu. Vier Tage später demütigte unser Team Spanien auf ähnliche Weise. Die Partie endete 6:1, und fünf verschiedene Spieler trugen sich in die Torschützenliste ein. Die brasilianische Auswahl trat geschickt und gut ausbalanciert auf. Die Defensive stand gut, und im Angriff konnte man sich auf treffsichere Optionen verlassen. Sie spielten vor einem Anhang, der sie mit Gesängen, Konfetti und der ganzen Liebe, die man von einem Heimpublikum erwartet, nach vorne trieb. Und plötzlich stand Brasilien, scheinbar ohne Mühe und noch weniger Spannung, nur mehr ein Spiel entfernt vom Titel. Vielleicht hatte Dondinho ja recht – der Pokal würde uns gehören.

Im entscheidenden Spiel traf man auf den erhofften Gegner, Uruguay: ein Land der Schafhirten, das mit seinen sandigen Stränden im Norden an Brasilien grenzt. Uruguay hatte gerade einmal etwas mehr als zwei Millionen Einwohner – bei uns lebten allein in Rio de Janeiro schon mehr Menschen. Und im Gegensatz zu Brasilien waren sie mit großer Mühe durch die Finalrunde gestolpert. Sie hatten nur ein 2:2 gegen Spanien erreicht und im Spiel gegen Schweden erst fünf Minuten vor dem Schlusspfiff das 3:2 erzielt.

Wir konnten außerdem mit der bestmöglichen Ausrichtungsstätte für dieses Spiel aufwarten: dem brandneuen Maracanã-Stadion in Rio, das speziell für diese Weltmeisterschaft erbaut worden war. Durch seine ehrfurchtgebietenden Ausmaße und seine architektonische Verspieltheit erinnert es mehr an einen Kaiserpalast als an ein Stadion. Es war viel Geld in diese Spielstätte investiert worden, da dort schließlich das Heimteam zum Champion gekrönt werden sollte. Die brasilianische Regierung hatte über 10.000 Arbeiter angeheuert, und als das Stadion fast fertig war, testeten sie die Standfestigkeit, indem sie die Ränge füllten und imaginäre Tore bejubelten. Zum Glück hielten alle Stützen und Träger der Belastung stand. Als das Maracanã schließlich stand, war darin Platz für fast 200.000 Zuschauer. Es war somit das größte Stadion der Welt, größer noch als der Hampden Park im schottischen Glasgow, der 40.000 Zuschauer weniger aufnehmen konnte.

Die brasilianischen Medien und Politiker überschlugen sich förmlich vor Lob für das Maracanã und im weiteren Sinne Brasilien selbst. Die Zeitung „A Noite“ etwa schrieb: „Brasilien hat nun das größte und perfekteste Stadion der Welt, das dem Können seines Volkes und dem Fortschritt in jedem erdenklichen menschlichen Betätigungsfeld zur Ehre gereicht. Endlich verfügen wir über eine Bühne epischen Ausmaßes, in der die ganze Welt unser Prestige und unsere sportliche Größe bewundern kann.“

Und diese Form der Übertreibung war noch gar nichts im Vergleich zu der Begeisterung, die am Spieltag herrschte. Karnevalsumzüge ergossen sich durch die Straßen von Rio, und die unmittelbar bevorstehende Krönung Brasiliens zur weltbesten Mannschaft wurde besungen. Viele nahmen sich den Tag frei und deckten sich voller Vorfreude auf die wilden Feiern, die nach dem Spiel stattfinden würden, mit Bier und Snacks ein. Eine Zeitung druckte sogar ein Foto unseres Teams auf der Titelseite und ließ sich zu der Schlagzeile hinreißen: „Das sind die Weltmeister!“

Als das brasilianische Team auf das Spielfeld lief, durfte es sich über ein ausverkauftes Haus freuen. Geschätzte 200.000 Menschen – bis heute ein Weltrekord für ein Fußballspiel – waren ins Stadion geströmt. Noch vor dem Spiel wurden den Spielern goldene Uhren überreicht, in die eine Widmung eingraviert worden war: „Für die Weltmeister.“ Und dann ergriff auch noch der Gouverneur von Rio de Janeiro das Wort und richtete sich an das Team, die Zuschauer und die Nation:

„Ihr Brasilianer, die für mich bereits die Sieger dieses Turniers sind … Ihr Spieler, die ihr in wenigen Stunden von euren Landsleuten umjubelt werdet … Niemand in irdischen Sphären kann euch das Wasser reichen … Ihr seid jedem Gegner überlegen … Ich verbeuge mich bereits jetzt vor euch und eurem Triumph!“

Inmitten all dieser Ausschweifungen gab es nur eine warnende Stimme. Allerdings kam die aus einer beunruhigenden Richtung.

„Das ist hier kein Schaulaufen. Es ist ein Spiel wie jedes andere – nur viel schwerer“, informierte Brasiliens Trainer Flávio Costa die Reporter noch vor dem Spiel. „Ich fürchte, die Spieler werden aufs Feld laufen, als wäre der Stern für den Titel bereits auf ihre Trikots genäht.“

- 9 -

All dies fordert eine Frage heraus: Mensch, Brasilien, was sollte dieser ganze Hype?

Waren wir etwa so naiv? Dämlich?

Oder ging es um noch etwas anderes?

Eine Sache habe ich im Lauf der Jahre gelernt – und manchmal auf die harte Tour. Das Geschehen auf dem Spielfeld ist nur ein Teil der ganzen Geschichte. Das trifft nicht nur auf Brasilien zu, sondern auf alle Länder der Welt. Man muss auch einen Blick hinter die weißen Linien der Spielfeldbegrenzung riskieren – die Leben der Spieler, die Teams an sich und, sehr oft zumindest, die politische Situation des jeweiligen Landes in Betracht ziehen, um zu verstehen, was wirklich vor sich geht.

Während der Weltmeisterschaft 1950 war es ganz besonders offensichtlich, dass der Sport nur ein Teil des großen Ganzen war. Zum ersten Mal, aber sicher nicht zum letzten Mal, sahen die brasilianischen Politiker das Turnier als eine goldene Möglichkeit, den Ruf unseres Landes aufzubessern – und natürlich auch ihren eigenen. Zu dieser Zeit wurde Brasilien nämlich noch vielerorts, in Europa und den USA zumindest, als rückständige Bananenrepublik wahrgenommen, in der Cholera und die Ruhr an der Tagesordnung waren und hauptsächlich Indianer und unkultivierte Ex-Sklaven lebten. Wenn sich das barsch und politisch unkorrekt anhört, dann nur, weil es das auch war. Allerdings war es eine Sicht der Dinge, die sogar viele brasilianische Würdenträger teilten, etwa der Bürgermeister von Rio de Janeiro, der erklärte, dass die WM die Möglichkeit biete zu beweisen, dass wir keine „Wilden“ seien. Brasilien könne sich mit den reichen Ländern der Welt messen – und sie sogar übertrumpfen.

Das war natürlich eine grob einseitige Sichtweise, da Brasilien mit seinen vielen positiven Eigenschaften in Wirklichkeit schon seit langem als charmanter Eigenbrötler existiert hatte. Tatsächlich ist auch die Geschichte unserer Unabhängigkeit eine, in der es um Verlockung und Verführung geht. Anders als der Großteil Südamerikas wurde Brasilien nicht von den Spaniern, sondern von den Portugiesen kolonialisiert. 1808 floh die portugiesische Königsfamilie vor Napoleons Truppen aus Lissabon und verlegte ihren Hof nach Rio de Janeiro. Somit waren sie die ersten Royals, die jemals eine ihrer Kolonien betraten und sogar dorthin zogen. Es sagt schon etwas aus, dass auch einige Vertreter der Königsfamilie – darunter Pedro I, der Sohn des Prinzregenten – sich entschieden zu bleiben, nachdem Napoleons Heerscharen keine Gefahr mehr darstellten.

 

Warum? Nun, ich war schon sehr oft in Lissabon, und es ist eine echt coole Stadt. Aber in Rio gibt es Strände voller Pulversand, wie Halbmonde geformte Buchten, üppig bewaldete Berge und wunderschöne, gastfreundliche Menschen. Pedro I konnte jeden Vormittag von seinem Palast aus eine kurze, von Palmen gesäumte Straße hinunterspazieren, um schnell mal in die Flamengo-Bucht zu hüpfen. Von dort konnte er dann den Anblick des Zuckerhuts genießen. Als ihm seine königlichen Verwandten 1822 schließlich einen Brief schrieben, in dem sie seine Rückkehr nach Portugal forderten, tat er das einzig Logische – er teilte ihnen mit, dass sie sich zur Hölle scheren sollten: „Fico!“ Er würde bleiben. Und so erlangte Brasilien seine Unabhängigkeit ohne jegliches Blutvergießen. Das genaue Datum war der 7. September, der Tag, nach dem sich meine erste Fußballmannschaft benannte. Der Tag ist auch heute immer noch als Tag des „Fico“ bekannt. Es ist eine nette Geschichte und keine Übertreibung. Schließlich muss man nicht ein Monarch sein, um Brasilien genießen zu können. Viele Millionen von Einwanderern zog es nach Brasilien, sie waren von den Möglichkeiten und Menschen verzaubert und beschlossen, sich niederzulassen. Aber die Geschichte von Pedro I gibt auch Aufschluss darüber, warum unsere Volksvertreter 1950 so aufgeregt waren. Seit der Unabhängigkeit war über ein Jahrhundert vergangen, aber politisch lag immer noch einiges im Argen. Seit „Fico“ war Brasilien von einer Krise in die nächste getaumelt und musste eine Reihe von Revolutionen, Staatsstreichen und regionalen Unruhen über sich ergehen lassen. Nur zwei Jahrzehnte zuvor hatte sich São Paulo vergeblich gegen die Regierung in Rio erhoben. Im Zweiten Weltkrieg kämpften brasilianische Soldaten tapfer auf der Seite der Alliierten für die Demokratie – um nach dem Krieg in eine Diktatur heimzukehren.

Als die Weltmeisterschaft nach Brasilien kam, bewegten wir uns langsam nach vorne, doch unsere Rolle in der modernen Welt schien noch immer unklar. „Brasilien war ein Land ohne Ruhm, das gerade eine Diktatur hinter sich gelassen hatte und noch unter den Nachwehen der Regierungszeit des Präsidenten Dutra litt“, schrieb Pedro Perdigão in seinem Buch über die WM 1950. Anders gesagt: Unsere Politiker hatten das Gefühl, etwas unter Beweis stellen zu müssen. Und sie zählten auf den Fußball, der ihnen dabei helfen sollte.

Außerdem spielte ein weiterer Abschnitt der brasilianischen Geschichte eine wichtige Rolle vor dem Turnier von 1950. Es ging um ein Kapitel, das der Familie Nascimento besonders am Herzen lag.

Auf Grundlage der Recherchen, die Journalisten im Verlauf der Jahre unternommen haben, nehmen wir an, dass unsere Vorfahren entweder aus dem heutigen Angola oder Nigeria stammten. Der Name Nascimento wiederum gehörte zu einer Farmer-Familie im Nordosten Brasiliens. Meine Vorfahren gehörten also zu den 5,8 Millionen Sklaven, die nach Brasilien verschleppt worden waren. Das sind schätzungsweise 20 Mal mehr, als in die USA verschifft wurden. Zeitweise gab es in Brasilien sogar mehr Sklaven als freie Menschen. Brasilien gehörte auch zu den allerletzten Ländern, die die Sklaverei abschafften. Dies geschah erst 1888 – über zwanzig Jahre, nachdem der Amerikanische Bürgerkrieg geendet hatte.

Die Sklaverei hatte also einen enormen Einfluss auf die Geschichte unseres Landes.

Fernando Henrique Cardoso, ein anerkannter Soziologe, der in den Neunzigern des vorigen Jahrhunderts Präsident von Brasilien wurde (und als solcher für ein paar Jahr mein Boss!), nannte es einst „die Wurzel der Ungleichheit in Brasilien“. In der Folge gab es bei uns keine Rassentrennung, wie sie etwa in den USA üblich war, weil sich die Menschen bei uns im Laufe der Zeit, nun ja, vermischten. Daher wäre es sehr schwer gewesen, festzulegen, ob nun jemand weiß oder schwarz war, und wer auch immer es tat, musste mit ernsthaften Kopfschmerzen rechnen. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Schwarzen waren auch rar. Besonders als ich aufwuchs, hieß es regelmäßig, dass es sich bei Brasilien um eine „ethnische Demokratie“ handele. Sports Illustrated schrieb einst, dass ich glücklicherweise an einem der wenigen Orte auf der Welt lebe, wo die Hautfarbe keinen Effekt auf das Leben eines Menschen habe.

Allerdings war das nicht die ganze Wahrheit. Die befreiten Sklaven und ihre Nachkommen hatten ein schwereres Leben als die meisten anderen zu bewältigen. Obwohl es keine offizielle Diskriminierung gab, hatten schwarze Brasilianer oft keinen Zugang zu Schulen, Krankenhäusern und anderen Dingen, die einem das Leben erleichtert hätten. Die Armut, in der ich aufwuchs und die auch meine Eltern in ihrer Kindheit erlebt hatten, ist meiner Meinung nach auch ein Resultat unserer Geschichte, obwohl dies nicht immer offensichtlich war. Die Sklaverei war jedenfalls kein weit entferntes oder gänzlich abstraktes Konzept für meine Familie. Die Eltern meiner Großmutter Dona Ambrosina, die bei uns lebte, waren selbst noch Sklaven gewesen. Unsere Familie war stolz auf ihren Weg, und ich selbst war – und bin es immer noch – stolz, schwarz zu sein. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass in Brasilien damals wie heute Menschen mit dunklerer Haut ärmer sind als Menschen mit hellerer Haut.

Deshalb war Brasilien auch 1950 noch ein Land mit einer vorwiegend armen und mitunter verzweifelten Bevölkerung, die oft nicht genug zum Leben hatte. Dieses Bewusstsein verunsicherte brasilianische Politiker seit jeher. Vielleicht hilft es auch zu verstehen, warum die Hype-Maschinerie rund um die Weltmeisterschaft so hochtourig betrieben wurde. Letztlich wollten die Beamten in Rio nicht nur die Welt davon überzeugen, dass der Fortschritt nun Einzug hielt in Brasilien – sie wollten das auch mit aller Kraft vor allem ihrem eigenen Volk vermitteln.

Jahre später war es uns ziemlich peinlich, wie wir uns 1950 benommen hatten. Allerdings glaube ich, dass Dondinho nur wiederholte, was er im Radio gehört hatte, wenn er sagte: „Der Sieg ist unser!“ Solche Worte kamen aus dem Mund von Politikern – manchmal sogar in Form von direkten Befehlen an die Medien. Ganz Brasilien erlag dieser Propaganda, und sie wirkte sich auf unglückliche Weise auch auf die Vorstellung auf dem Rasen aus – und war etwas, das ich in meinem Leben immer wieder und wieder und wieder miterlebt habe.

- 10 -

Als unsere Freunde und Verwandten in unser Haus strömten, stellte ich meinem Vater noch eine Frage.

„Papa?“

„Ja, Dico?“

„Kann ich dich zu den Feiern in der Stadt begleiten?“

Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich erkennen, dass meine Mutter heftig den Kopf schüttelte. Aber mein Vater tat so, als könnte er sie nicht sehen.

„In Ordnung“, sagte er mit einem Lächeln. „Nicht lange, aber ein Weilchen.“

Außer mir vor Freude begab ich mich zum Radio, um so gut es ging, dem Spielverlauf zu folgen. Das gewaltige Publikum im Maracanã brüllte vor Begeisterung. Der Radio-Ansager stellte nacheinander die einzelnen Spieler des brasilianischen Teams vor. Es war eine beeindruckende Truppe – eine Mischung aus begnadeten Spielern und bunten Persönlichkeiten. Da war etwa Zizinho, mein persönlicher Liebling, ein Mann, den viele mit Leonardo da Vinci verglichen, weil er ein solcher Künstler auf dem Spielfeld war. Barbosa, das Ass zwischen den Pfosten, hatte im Turnierverlauf nur vier Mal in sechs Spielen hinter sich greifen müssen. Und dann gab es da noch Ademir – den „Kiefer“! Nicht zu vergessen: Bigode, ein linker Außenverteidiger, der damals für Flamengo, einen der größten Clubs in Rio, spielte und der mit einem mächtigen Applaus von den Rängen willkommen geheißen wurde.