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Um 3 Uhr war Paketverteilung. Die Liste der Begünstigten stand von Mittag an am schwarzen Brett angeschlagen. Zur selben Stunde – später wurde das anders – war auch Postverteilung. Das waren die Höhepunkte des Tages, und bemitleidenswert die, welche von keiner Seite bedacht waren. Ich hab’ es oft auf Kirchhöfen gelesen und erinnerte mich jetzt, wenn ich sie auch nicht mehr geschmackvoll finde, an die Inschrift: „Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, er ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird.“ So geht es auch uns lebendig Begrabenen. Solange wir den Unseren wirklich fehlen und immer wieder Liebeszeichen von ihnen erhalten, rechnen wir uns noch zu den Scheintoten und arbeiten noch am Erwachen. Traurig daran sind die, welche kein Band an die Heimat fesselt, trauriger die, bei denen das lange Fernsein das Band lockert oder gar zerreißt. „Alle nicht, die wiederkehren, werden sich der Heimat freuen.“ —

Zuerst kleine Pakete, die werden schneller befördert als große oder gar Briefe, und dann ersehen wir aus der Adresse einen Gruß, der uns wenigstens sagt, daß der Aufgeber lebt und gesund ist. Sie enthalten meist Frühstückstaschen, aber das Wichtigste an ihnen ist doch Handschrift und Poststempel. Wenn wir die vielen Todesnachrichten hören, die unsere Genossen im Lager erhalten, so freuen wir uns doppelt über jede frohe Nachricht. Die Bestimmungen und Repressalien verändern sich im Lager von einem Tag auf den anderen. Der kluge Mann baut vor und sorgt, daß er im Falle der Not in seinem Depotkoffer Vorrat finde. Was heute gilt, gilt morgen nicht. Ich war, dank meiner braven besseren Hälfte, immer reichlich versorgt und kam nur dann in Not, wenn meine Freilassung etwa sicher war, das war zufällig beide Male um die Weihnachtszeit, man erwartete mich mit Sicherheit zu Hause.

Weihnachten
 
Unter gleichem Franzmannsjoch
Winkt der zweite Weihnachtsbaum;
Träum’ ich? Wach’ ich? Immer noch
Schreckt mich’s wie ein wüster Traum.
Und ich hör’ die Mär erschallen —
Nie wird sie zur Wahrheit werden —
Von dem Frieden auf der Erden
Und der Menschen Wohlgefallen.
 
 
Nein, ich mag den Baum nicht seh’n,
Der zum zweitenmal mich narrt;
Weihnacht will ich heut’ versteh’n:
Schwert am Knauf, nach Preußenart!
Mag, wer will, von Liebe sprechen
Mitten in Gewitterstürmen,
Wo sich Leib und Leiber türmen,
Wo im Hassen Herzen brechen!
 
 
Keinen Baum, nicht hier und dort,
Der die Friedensbotschaft trägt;
Wilder Haß für heut’ das Wort,
Den ich Tag für Tag gepflegt,
Daß ich ihn den Kindern bringe
Und nur denke, ihn zu mehren —
Kindeskind soll ihn noch ehren —
Jenen Haß, der Frieden zwinge!
 

Was Repressalien sind, läßt sich schwer beschreiben. Wir haben eigentlich den Eindruck gehabt, daß wir in puncto Repressalien immer die Dummen waren. Ein Franzose schreibt, daß er im deutschen Lager nur schwarzes Brot bekommt, das er nicht mag. Sofort bekommen wir aus Reziprozität auch nur schwarzes. Da man aber schwarzes Brot hier nicht backen kann, so kommt eine Masse heraus, die die Därme zu wildester Tätigkeit aufstachelt. Im deutschen Lager bekommen die Franzosen Bier; sofort dürfen wir auch Bier haben, keinen Wein, der naturgemäß hier billiger ist als Bier, weil er Nationalgetränk ist wie bei uns das Bier. Das Bier ist in Deutschland gut und billig, hier unerschwinglich teuer und schlecht.

Doch zurück zu den Paketen. Neben den Familiensendungen kamen auch Liebesgaben in unser Lager, recht reichlich. Meist vom „Roten Kreuz“, auch von Privaten, die natürlich unter die Bedürftigen verteilt wurden. Aber einmal fiel auch für mich etwas ab, und das erzähle ich, weil es mich in so trostloser Zeit wirklich gefreut hat. Hauptmann Engelhard, mit dem ich später das Zimmer teilte, erhielt von der Vorsteherin der Gundelfinger Schule in Basel ein Paket mit Waschlappen, welche die kleinen Mädchen ihrer Schule für die armen Gefangenen gestrickt hatten; davon gab er mir einen zugleich mit dem Briefe der kleinen Spenderin, der also lautete:

 
Ich bin ein kleiner Stumpen
Und habe gestrickt vier Lumpen
Für die gefangenen Soldaten,
Die auf ihre Freiheit warten,
Daß sie sich können waschen rein,
Wenn sie siegreich wieder kehren heim.
Mit Gruß Luise Schnetzler, Basel.
 

Ich antwortete ihr umgehend.

Nachmittags um 4½ blies es „Kantine offen“, um 4¾ „Essen“, um 5½ „Kantinenschluß“, um 6 oder 7 „Aufs Zimmer“, um 6½ oder 7½ „Abendappell“, um 8½ „Lampen auslöschen“, kurz, es blies den ganzen Tag. Wenn die Lampen, die wir natürlich, wie das Petroleum dazu, selbst bezahlten, gelöscht waren, dann setzte die staatlich gespendete Zimmerbeleuchtung ein. Das war ein kleines Oellämpchen mit Schwimmer und leuchtete gewaltig durch die Räume. Man konnte es auch auslöschen, das machte keinen Unterschied. – Also unerbittlich ins Bett, um den Stumpfsinn des durchlebten Tages noch einmal in Gedanken durchzukosten. Ich bin gewohnt, abends zu arbeiten und spät zu Bett zu gehen; aber auch bei der geistigen Degeneration, der wir hier unrettbar verfallen müssen, ist es mir doch unmöglich, einigen Schlafkünstlern gleich, die es auf etwa fünfzehn Schlafstunden tags und bei Nacht bringen, mehr als sechs oder höchstens sieben Stunden zu schlafen. So denke ich nach, und das ist gefährlich. Manchmal schreibe ich auch noch einiges nieder; ich habe sogar gelernt, im Dunkeln zu schreiben. Von Stunde zu Stunde unterbricht mich ein seltsamer Ruf draußen. Ein Posten fängt an zu rufen: „Sentinelle, prenez garde a vous“. Der andere gibt es dem nächsten weiter, und so fort. Ob sie sich gegenseitig wecken, weiß ich nicht; es muß aber doch wohl nötig sein. Der ewig gleichmäßige Ruf schreckt mich nicht mehr auf und stört mich nicht. Ich genieße immerhin eine oder einige ruhige Stunden, die dem Heim, den Meinen und den… (Bricht ab.)

Ich freue mich der Einsamkeit, die ich mir dadurch künstlich herstelle, daß ich durch Decken und Mäntel mein Lager von dem der anderen abschließe. Dann bin ich so ganz für mich und denke mit Hamlet: Ich könnte in einer Nußschale eingesperrt sein und mich für den König der Könige halten, „wenn nur die bösen Träume nicht wären“. Und die bösen Träume, die mich quälten, waren den seinigen nicht so fern, die Qualen des Unfreien, gekränkter Ehrgeiz. – Wie hätte ich das erbärmliche Leben und mit welchem Stolze hätte ich es ertragen wollen, wenn die verdammte Frage „Wozu“ mir nicht immer wieder entgegengegrinst hätte. Was Selbstbetrachtung und Selbsterziehung sein sollte, artete in bösen Stunden in fressenden Neid aus auf die, die etwas einsetzen durften. In Casabianda hatte ich es gelernt, mich zu überwinden und falschen Stolz niederzuzwingen, in Uzès war ich davon ganz geheilt; aber das eine verwand ich nie, und die heiße Sehnsucht, der Traum meiner Freilassung würde doch wahr werden, wiegte mich zuletzt in ruhigen Schlaf. Ja, ich träumte oft und viel von den Meinen zu Hause, bis das Wecksignal mich herausriß in die dumpfe Resignation des neuen Tages. Man hat mich oft getröstet: Wenn Sie gar nicht daran denken, just dann wird es Ihnen gehen wie den anderen, die freikamen. Schlechter Trost! Ich denke Tag und Nacht, im Stehen und im Gehen, im Wachen und Schlafen nur das eine: die Freiheit. Im Schlafe träume ich, wie meine Frau mich in Konstanz empfängt, oder wie ich im Lazarett arbeite, wie ich heimatlichen Boden als jämmerlich Freigelassener betrete, da die Arbeit beendet ist. Wenn also meine Befreiung nur überraschend kommen kann, so werde ich wohl darauf verzichten müssen und weiter träumen. —

Nachspiele von Casabianda

Wie ich schon sagte, wir waren in der ersten Zeit in Uzès weit besser aufgehoben als in Casabianda; das merkten wir drei Schwerverbrecher am meisten, als wir im Gefängnis zu Uzès die letzten neun Tage unserer Kerkerhaft abbüßten. Wir hatten es kaum schlechter als die anderen und brauchten uns um kein Signal zu kümmern. So entging uns denn auch die Entwicklung der ersten Eindrücke in Uzès. In uns hallte noch die entrüstete Erinnerung an Casabianda nach, und wir sollten die Folgen noch schwer spüren. Das erste und traurigste Nachspiel von Casabianda war Krankheit und Tod von Moritz. Ich habe Edgar Moritz aus Hamburg des öfteren erwähnt; wir waren zusammen von Barcelona auf der „Sister“ gefahren, hatten schon den ersten Abend, Moritz, Schmidt, Heller, Kratt, Bonitz und wir, die vier letzteren mit Familie, die ersten zwei ohne, einen recht vergnügten Abend in halbbanger Erwartung auf dem Schiffe verlebt. Nachher bildeten Moritz, Schmidt, Bonitz und ich engeren Zusammenhang. Ich schloß mich mehr und mehr an den vornehm denkenden, gemütvollen Mann an, der gleichaltrig mit mir auch gern von den Seinen sprach und mit tiefster Anhänglichkeit dem Hause verbunden war. Es war ein Mensch, dessen Seele zu feinen Klang hatte, und das Saitenspiel zerbrach in so rauher Wirklichkeit. Der Gefangenschaft und ihren täglichen Entbehrungen, ihren Aufregungen und Demütigungen war er nicht gewachsen, das fühlte er selber immer wieder. Aber die Gefahr suchte er, wo sie nicht drohte. In ihm lebte die Idee, er würde der Malaria zum Opfer fallen, die in Casabianda grassierte, und deren Wiederkehr im Sommer zu erwarten stand. Die französische Regierung schien geneigt, den Gesuchen des korsischen Deputierten nachzugeben und uns auch im Sommer zur Bearbeitung des Landes auf Korsika zu lassen, gleichviel, ob wir der Malaria erlagen. Die amerikanische Botschaft ist damals wohl eingeschritten und hat es erreicht, daß wir nach Uzès gebracht wurden. Wie oft sagte Moritz: „Ich wäre gerettet, wenn wir von hier fortkämen!“ Die drohende Reihe der Typhuserkrankungen, teilweise durch den Tod unterbrochen, hatte sich nicht geschlossen, und doch sprach der unregelmäßige Verlauf der letzten Fälle schon für ein Weichen der Epidemie. In der gefährlichsten Gegend unseres Schlafraumes in Casabianda lag Schmidt; die Erkrankungen an Typhus waren im unteren Schlafraume und gerade hier bei weitem die häufigsten. Schmidt aß meist mit Moritz zusammen, dann kamen Bonitz und ich. Ich büßte schweren Kerker, und vielleicht war das meine Rettung.

 

Während meiner Kerkerzeit erkrankte Schmidt, als wir schon glaubten, die Epidemie sei erloschen. Die Symptome traten sehr schwer auf; der Arzt (Marcantoni war lange entlassen) nahm ihn ins Hospital, diagnostizierte Typhus und behielt ihn dort bis zum Umzug nach Uzès. Ich erschrak, als ich ihn wiedersah, so war der korpulente Mensch heruntergekommen.

Beim Auszug aus Casabianda war Moritz ein anderer geworden. Ein Druck war von ihm genommen; er war jetzt sicher, daß er seine Familie wiedersehen würde, eine Hoffnung, die er in Casabianda ganz aufgegeben hatte. Er war wie ausgewechselt, auch im Ponton, wohin wir zunächst für vier Tage geschafft wurden, war er vergnügt. In Uzès sah ich ihn wiederum die ersten neun Tage nicht, da ich hinter Schloß und Riegel saß. Bald nachdem ich herausgekommen, fiel mir bei ihm ein gereiztes, empfindliches Wesen auf; er konnte leicht in Streit geraten, was früher nie vorkam, und vertrug keinen Widerspruch. Ende Mai notierte ich mir, daß bei Moritz der begründete Verdacht auf Typhus bestände. Bald setzten Kopfschmerz und Temperatur ein, und eines Mittags trat eine erschreckende Untertemperatur mit Kollapserscheinungen auf. Der Arzt nahm ihn ins Lazarett, nachdem ich ihm die Reihenfolge und den Charakter der Typhusfälle in Casabianda auseinandergesetzt hatte, besonders Schmidts Fall, glaubte ihn aber nach einigen Tagen entlassen zu dürfen, nachdem er nur niedrige Temperaturen fand mit Nachmittagssteigerungen. Mir war gerade das verdächtig, und der Irrtum war verhängnisvoll, wenn auch wohl das Schicksal nicht mehr abzuwenden war. Er kam auf das Zimmer 63, wo nur zwei andere Herren noch schliefen, und durfte sich eigenes Bett kaufen. So war er verhältnismäßig nicht schlecht untergebracht. Ich war fast jede Nacht bei ihm; er war durchaus kein leichter Patient… Bald traten dauernde Delirien ein, und bei seinem Auszug in das Garnisonlazarett – der Sterbende in einer gewöhnlichen Droschke – nahm ich Abschied von ihm; Lähmungen traten auf und alle Erscheinungen eitriger Meningitis. Etwa drei Wochen später starb Edgar Moritz.

Er hat ein glückliches Ende gehabt; seine Delirien führten ihn immer zu den Seinen. Er sprach nur von seiner Freilassung, diktierte an seine Frau, drängte immer wieder, daß ja das Automobil pünktlich zur Stelle wäre, daß ich seiner Frau drahte, sie solle ihn an der Grenze erwarten. Immer wieder mußte ich telegraphieren und bestellen. Der Arzt sagte ihm auf seine Frage, daß die französische Regierung seine Freilassung dekretiert habe, und so zog er glücklich von uns. Am 24. Juli 1915 fand der arme, zerstörte Geist, der einer zu schweren auf ihn gelegten Last nicht gewachsen war, die Ruhe.

Ein trauriges Nachspiel folgte: wir wollten unserem Freund das letzte Geleit geben, und das wurde nicht bewilligt. Der Kommandant meinte, er sei für unsere Sicherheit verantwortlich und fürchte die Bevölkerung von Uzès, welche uns feindlich gegenüberstände.

Die Bitte, wenigstens eine Abordnung zu gestatten, die aus dem mitgefangenen Pfarrer Hommel, mir und einigen anderen Freunden bestünde, wurde nach Anfrage in Marseille gleichfalls abgeschlagen, auch die letzte Bitte, man möchte den Sarg auf dem Wege zum Kirchhof in den Kasernenhof zur Einsegnung der Leiche und Feier tragen lassen. So mußten wir uns mit der letzten, kümmerlichen Erlaubnis abfinden, eine Feier auf dem Kasernenhofe zu veranstalten zur Zeit, wo der Tote auf dem Kirchhofe sang- und klanglos verscharrt wurde. Am 25., nachmittags vier Uhr, fand die Leichenfeier statt; es wurden Lieder gesungen, dann sprachen Pfarrer Hommel und zum Schluß ich. Ein Eichenkreuz hatten wir auf dem Grabe errichten lassen, das Mitgefangene geschnitzt haben, einen Kranz aus der allgemeinen Sammlung auf sein Grab gelegt. Heute, wo wiederum acht Monate nach seinem Tode vergangen sind, so schwerer Erlebnisse voll, freue mich fast, daß er die Ruhe gefunden hat.

Zwei Tage darauf begruben wir einen anderen Mitgefangenen, Pagel, der auch dem Typhus erlag. Der letzte schwere Ausläufer des Typhus betraf Bonitz, welcher wieder in Uzès neben Moritz gelegen hatte. Der Arzt nahm ihn gleich in das hiesige Lazarett; ich besuchte ihn täglich, und er überstand die Krankheit nach monatelangem, schwerem Lager und Rezidiv. Lange hat es gedauert, ehe er sich einigermaßen erholen konnte; aber vor dem Aergsten blieb seine Familie bewahrt.

Noch ein anderes Nachspiel von Casabianda hat schweren Eindruck auf mich gemacht, wenn es sich auch glücklicher löste, als wir fürchten mußten. Es betraf meinen jüngsten Freund und Kerkergenossen, Leutnant Balduin von Herff, der bisher so tapfer dem Schicksal, das schwer auf ihn einstürmte, widerstanden hatte. Wie bekannt, hatte er dasselbe Verbrechen begangen wie ich, er hatte die ganze Prügelaffäre seinem Vater, Professor der Gynäkologie in Basel, berichtet und den Bericht mit Urin unsichtbar geschrieben. Am Tage, als wir nach Uzès abmarschierten, soll er, wie wir später hörten, freigekommen sein. Aber schon zog sich neues Verderben über seinem Haupte zusammen. Der juristische Grundsatz, „ne bis in idem“ schien den Franzosen nicht geläufig. Am Tage, als zwei unserer mitgefangenen Zivilisten, Schielke und Rau, welche dasselbe Verbrechen wie von Herff begangen und es ebenso bereits abgebüßt hatten, in Uzès aufs neue eingekerkert wurden, um vor das Kriegsgericht nach Marseille zu kommen, konnten wir dasselbe wohl auch von Herff annehmen, der in Casabianda zurückgeblieben war. Es war wirklich so, wie ich aus späteren Nachrichten erfuhr. Ob au titre de repressalies oder aus welchem Grunde plötzlich ein so scharfes Vorgehen gerechtfertigt erscheinen sollte, weiß ich nicht; jedenfalls wurde den Dreien aus ihren Schriften ein Strick gedreht und dieser zu einem Prozeß wegen Spionage verdichtet.

So standen die Sachen, als am 16. Juli im „Eclair“, der Zeitung, die wir täglich lasen, folgendes stand:

Eclair, 16. 7.

Wegen Spionage zum Tode verurteilt.

Marseille, den 15. Juli.

Früh am 15. Juli hat der vereinigte Kriegsrat im unteren Fort St. Nicolas unter dem Vorsitz des Oberstleutnants Kervall die Todesstrafe gegen von Herff, Rau, Otto, Schicht, angeklagt, mit Angehörigen einer feindlichen Macht einen Briefwechsel unterhalten zu haben, um ihnen Aufschlüsse über die französischen Armeen zukommen zu lassen, ausgesprochen. Die Verhandlung fand unter dem Ausschluß der Oeffentlichkeit statt.

Selten hat eine Nachricht so erschütternd auf mich gewirkt. Ich hatte zusammen mit ihm gefühlt und gelitten, und sollte nun dies das Ende dieses tapferen Menschen sein? Daß er auch an der französischen Wand ganz der alte bleiben würde, wußte ich freilich. Am nächsten Tage wurde uns beim Appell verkündigt: Laut „Eclair“ sind die Gefangenen Schielke und Rau des hiesigen Lagers zum Tode verurteilt. – Also auch Herff! Glücklicherweise hat sich die Nachricht nicht bestätigt, sie war einfach erlogen. Ich erfuhr das in einem weiteren Brief durch Herff selber.

Schielke und Rau kamen bald zurück. Der Prozeß der Drei war niedergeschlagen. Grimms Berufung wurde verworfen; er wurde aber, was wir kaum zu hoffen wagten, zu zehn Jahren Zwangsarbeit begnadigt. Unerhörte Strafen wurden gegen Ritter und Teichert ausgesprochen; beide wurden zu je zehn Jahren öffentlicher Arbeit verurteilt. Durch Herffs Vater erhielt ich Neujahr 1916 die Nachricht, daß er gut aufgehoben und gesund sei. Von Ritter und Teichert haben wir nichts mehr gehört!

Meine Anerkennung als Offizier

Eines der Lieblingslieder meiner Frau, welches sie auch oft sang, weil ich es gern hörte, war ein Wiegenlied mit entzückenden Versprechungen für ein Kind, das schlafen soll, und der Schluß war immer wieder: „Bleibe nur fein geduldig.“ Wie oft, wenn uns die Ungeduld plagte, wenn dies oder das uns an den Rand der Verzweiflung brachte, trösteten wir uns: Es wird ja werden, „bleibe nur fein geduldig“. Nie hatte ich diesen Trost so nötig gehabt als in der Gefangenschaft. Weit hinter das Ziel, frei zu werden, trat das andere, als Offizier, wie es mir zukam, anerkannt zu werden. Ich habe schon geäußert, wie furchtbar mich die Gleichheit mitnahm. Wir kämpften weidlich und mutig gegen unseren Unstern und haben unsere Anerkennung als Offizier in neunzehn Monaten so etwa wöchentlich beantragt. Versprochen wurde sie uns noch häufiger. Zu uns gesellte sich in Casabianda Oberleutnant Spangenberg, und da bildeten wir zu dreien ein schönes Gespann derer, die nicht anerkannt werden sollen oder müssen. Und doch hatten wir unsere Papiere in tadelloser Ordnung; ein Zweifel an unserer Charge konnte gar nicht da sein und war nicht da. In Casabianda war das nicht so schlimm; da gab es keine Offiziere; aber in Uzès waren schon einige anerkannt und genossen Ausnahmestellungen. Da war also unsere Stellung weit peinlicher. Nach der Marcantoniaffäre, also im Dezember 1914, war es, wo der Kommandant mir zugesagt hatte, ich solle nach Corté in ein Offizierslager, um der schwierigen Stellung dort zu entgehen. Von da erwartete ich solche Beförderung etwa täglich, geradeso oft, wie meine Freilassung, bis schließlich der Humor obsiegte und ich mich, wie auch meine Leidensgenossen Spangenberg und Schmidt, mit dem Schicksal aussöhnte, nicht ohne die wöchentlich fälligen Anträge zu machen und mit stiller Erwartung, es könne doch einmal anders werden; „bleibe nur fein geduldig“. Und es kam wirklich anders, und seitdem haben wir drei Leidensgenossen uns den Kinderglauben des Wiegenliedes, den wir schon fast verloren hatten, wiedergewonnen. Zuerst wurde, ich glaube es war im Dezember 1915, also nach einer Gefangenschaft von 1½ Jahren, Schmidt ins Bureau gerufen und ihm mitgeteilt, seine Papiere, die unauffindbar erschienen, seien zwar noch nicht gefunden, aber seine Angaben seien durchaus glaubwürdig und es werde ihm Offiziersbehandlung zuteil werden. Er zog nun in das Chambre des Officiers. Aber der Ausgang dieser Sache war peinlich genug. Der Kommandant hatte wohl aus eigener Machtvollkommenheit gehandelt, und als ein neuer Kommandant kam, wanderte Schmidt in sein altes Mannschaftszimmer.

Einige Wochen darauf schlug für Spangenberg die hohe Stunde, und er trat aus unseren Reihen in die der Begnadeten. Schmidt und ich wiederholten unser Wochenrepertoire. Er hatte wenigstens vorübergehend das Glück genossen, ich noch nie, und da ich von Casabianda her den Brandstempel als „Aufwiegler, Aufrührer und durchaus unglaubwürdig“ trug, so schien es uns schon verständlich, und wir waren überzeugt, daß es sich nie ändern würde. Aber, wie gesagt: „Bleibe nur fein geduldig“. Da geschah etwas Seltsames: Am 29. Januar wurden mit mir vier Herren, Pasch, Doetsch, Holst und Stern, plötzlich heruntergerufen. Einige Korporale kamen hinzu, und wir wurden in ein abgelegenes Zimmer gebracht. Nun, an so kleine Extravaganzen hatten uns unsere Feinde gewöhnt; aber es kam doch mehr, als wir erwarteten: Wir mußten uns in der Kälte ganz nackend ausziehen, wurden durchsucht bis auf die Stiefelsohlen und jede Falte des Hemdes. Dann mußten wir unsere Kofferschlüssel ausliefern und blieben in Polizeigewahrsam, bis die Koffer untersucht waren. In unserem Zimmer hatten inzwischen Posten jede Annäherung an eines der uns gehörenden Gepäckstücke oder an unser Lager unmöglich gemacht. Das größte Gepäck stand im Gepäckraum; der wurde von nun an gleichfalls von Posten bewacht. Aufgepflanztes Bajonett wie immer. – Ja, was war denn los? Waren wir der Spionage verdächtig? Man kannte uns doch lange genug. Daß wir ganz gemeiner Denunziation zum Opfer gefallen waren, das leuchtete uns ein. Einer, Herr Holst, hatte am Tage zuvor Geld gewechselt, dem wurde sein Geld abgenommen; bei Herrn Doetsch und Pasch fand man nichts, desto mehr bei mir. Alle meine Schriftstücke, die ich als Tagebuch gesammelt hatte, Kopien der Briefe usw., hatte ich in ein Kopfkissen eingenäht. Ich wollte nicht, daß es irgendwer lese. In diesem Kopfkissen hatte ich unglücklicherweise noch die Abschrift der rein statistischen Angaben des Herrn Spangenberg, die mir des Datums wegen zur Aushilfe dienten. Als die Vormittagsuntersuchung beendet war und wir erstaunt fragten, was das alles bedeute, lächelte mich Herr H. an: „Nun, bei einem der Herren hat man alle verborgenen Schriften im Kopfkissen gefunden!“ Das konnte nur das meine sein, und man hat mir erzählt, daß dieser Herr bei Durchsuchung meines Lagers erst das eine, dann das andere Kopfkissen aufgetrennt habe. Eine halbe Flasche guten Rotwein, den ich im Koffer aufbewahrte, nahm man gleichfalls mit. Nun hing von neuem ein Damoklesschwert über mir. Daß sie sich meines Buches nicht freuen würden, wußte ich auch, und ich wußte geradeso aus früherer Erfahrung, wie leicht man einem Mißliebigen einen Strick dreht. Nachmittags kam die Untersuchung der großen Gepäckstücke, das war der Reisekorb meiner Frau; darin war nichts; ich hatte alles im Kissen, als dem sichersten Versteck, aufbewahrt. Bei Doetsch war auch nichts, nur bei Pasch fand man einen Teil des Tagebuchs aus Casabianda. Der wurde abgenommen. Nun verlebten wir einige erwartende Tage und Wochen. – Natürlich waren wir im Innersten empört über das Vorgehen. Durften wir denn nicht Tagebücher schreiben? Wer wehrt das Gefangenen? Und daß solche Bücher nicht strotzen werden von Lobeserhebungen über die Vögte, das wird man begreiflich finden. Aber in meinem Buche war alles authentisch mit Kopien der abgeschickten Briefe belegt. Mit den großen Bogen meiner Aufzeichnungen sah ich Herrn H. häufig ins Bureau und auf sein Zimmer gehen, und da wir im Nebenzimmer lagen, so hörten wir abends, wie er seinen Kollegen Teile aus demselben übersetzte. Daß er keine Freude an meiner Gesinnung hatte, glaube ich wohl; aber strafbar konnte nichts sein, und ich war eigentlich im Grunde neugierig, welcher Paragraph für mich herangezogen werden sollte. Daß wir darauf rechnen konnten, heute oder morgen, so oder so, gefesselt nach Marseille zum Kriegsgericht geführt zu werden, war uns klar, und wir bereiteten uns auf solchen Transport vor. Da fiel am Geburtstag meiner Frau, dem 3. Februar, das erste Opfer, das wir am wenigsten erwartet hatten. Am Abend traten die Korporale nach dem Appell in unser Zimmer, und Pasch wurde abgeführt. Dessen Tagebuch war doch offensichtlich im Koffer gewesen, meines verborgen; warum der zuerst? Freilich, daß ich mein Tagebuch verborgen hatte, war klar; ich wollte, daß niemand Einsicht nehmen sollte; es war berechnet, alle Erlebnisse, die ich später Frau und Kindern bringen wollte, festzuhalten. Der Schein konnte immerhin gegen mich sprechen, aber gegen Pasch? – Die Lösung ließ nicht lange auf sich warten. Pasch wurde, wie beim Appell am nächsten Tage bekanntgegeben wurde, wegen Beleidigung des Offizierkorps, der Korporale und der Bevölkerung von Casabianda zu 15 Tagen Einzelhaft verurteilt. Der Kommandant würde die Sache weitermelden und den Antrag stellen, daß der Täter vor ein Kriegsgericht nach Marseille zitiert würde. Das war immerhin seltsam; aber wir hatten zu schweigen. Pasch blieb in strengem Verschluß. Inzwischen war Spangenberg gerufen und verhört, weil auch in seinen Aufzeichnungen manches Tadelnswerte sich fand. Daß er durch mich hereingeritten war, das tat mir herzlich leid; aber schuld war ich nicht; wir hatten so oft unsere Beobachtungen ausgetauscht, und ich wollte gern seine Bemerkungen, die so rein statistisch und sachlich waren, verwerten und sie ihm nachher zurückerstatten. Zwei Tage darauf kam unversehens der langerwartete Abgesandte der amerikanischen Botschaft in Paris, Herr Haseltine, den wir seit fast einem Jahre nicht mehr gesehen hatten, ins Lager. Dem wurden nun unsere Klagen vorgebracht, und auch ich kam zu Wort und bat, wie Schmidt, wir beide, wie immer, wenn sich Gelegenheit bot, um Anerkennung als Offizier. H. bat uns, ihm die Sachen schriftlich zu geben, und so gingen diese Schriftstücke mit der Genehmigung des Kommandanten nach Paris, von neuem. Auch im Kerker war Herr H., und Pasch konnte ihm genauen Bericht über das Vorgefallene geben. Wenige Tage, nachdem er gegangen, kam ein höherer Offizier ins Lager, welcher Spangenberg und mich rief und sagte, er habe unsere Bestrafung beantragt, nicht weil in unseren Tagebüchern Beleidigungen enthalten seien (es stehe uns frei, in Privatnotizen zu schreiben, was wir wollten), sondern weil daraus hervorginge, daß wir die Zensur übergangen hätten. Für Sp. habe er die Entziehung der Vorrechte als Offizier, für mich Gefängnis beantragt. Wir protestierten beide lebhaft, weil wir uns bewußt waren, daß ein solcher Vorwurf uns nicht gemacht werden konnte; aber wir wurden, wenn auch nicht unhöflich, entlassen, und das Damoklesschwert blieb hängen. Vorläufig geschah nichts. Ein Gerücht, Sp. habe zwei Monate Festung und ich vielleicht auch, war unbegründet. – Am 18. Februar wurde ich ins Bureau gerufen und mir die Mitteilung gemacht, daß ich als Offizier anerkannt sei, daß aber infolge des gegen mich schwebenden Falles diese Anerkennung durch den Herrn Kommandanten vorläufig suspendiert sei. Die Verfügung des Kriegsministeriums wurde mir durch Leutnant Millet vorgelesen, von einer Suspendierung stand nichts darin. Ich hatte also endlich, nach etwa 19 Monaten, das Wunderbare erreicht und war nunmehr zwar anerkannter, aber suspendierter Offizier. Wie die Anerkennung des Kriegsministers suspendiert werden konnte, leuchtete mir nicht ein, und nach vierzehn Tagen des Wartens beschwerte ich mich, weil ich noch die alte Behandlung voll und ganz genoß. Zwei Tage darauf war ich anerkannt und genoß Herrenrechte; wir glaubten natürlich, daß damit die Angelegenheit erledigt sei; aber der Mensch denkt…! Ich zog zunächst in das Offizierzimmer; vor allem wurde ich feierlich in meinem alten Zimmer „degradiert“, d. h. die roten Biesen und Tressen, die Gefangenennummer wurden mir abgetrennt und die Mütze ins Lager zurückgegeben. Schmuck- und zeichenlos zog ich in das neue Gemach. Der Kommandant bewilligte schon am nächsten Tage, daß wir beiden Aeltesten, Hauptmann Engelhard und ich, ein eigenes Zimmer bezögen, und nun folgte eine immerhin bessere Zeit, die gut zu nennen gewesen wäre, wenn der Hauptmann nicht so gräßlich geschnarcht hätte. Aber auch das war zu erdulden. Die köstliche relative Ruhe wirkte versöhnend nach so viel Leiden. Ich konnte mich wenigstens isolieren, stand nicht mehr unter dem Befehle der Korporale und fühlte wohl den Unterschied zwischen früher und jetzt. Und, eigentümlich war es, 14 Tage darauf wurde mein intimer Leidensgenosse Schmidt nun endlich auch durch kriegsministerielle Verfügung als Offizier definitiv anerkannt und zog in das Zimmer der anderen Herren. Nun endlich schien es, als sei das Schwert von unsern Häuptern endgültig genommen. Aber… Spangenberg und ich wurden am 28. März morgens ins Bureau gerufen, und es ist nicht oft, daß derlei Gutes bedeutet. So wappneten wir uns mit dreifachem Harnisch und zogen herunter. Da verkündete uns der Kommandant, daß unsere schwebende Affäre nun zum Austrag gekommen sei: der Kriegsminister habe verfügt, daß Spangenberg als Offizier 30 Tage strengen Arrest erhalte, ich als Gefangener 25 Tage Gefängnis. Da inzwischen meine Anerkennung als Offizier erfolgt sei, so habe das Kriegsministerium meine Strafe ebenfalls in 30 Tage Offiziersarrest umgewandelt. Der Dolmetscher gab die in französischer Sprache gegebene Erklärung, die wir so verstanden, wieder, daß wir jeder zu 30 Tagen Festung verurteilt seien, die in Uzès abzubüßen sei. Als Grund unserer Bestrafung verlas der Kommandant, daß wir in unserem Tagebuch die Namen der Elsässer aufgeführt hätten, welche in französische Dienste getreten seien, um sie unserer Regierung bekanntzumachen. Wieder war jeder Protest unnötig. Wir baten beide, man möchte uns beweisen, daß das aus dem Tagebuch hervorginge, und fügten hinzu, daß es sich um Soldaten handelte, die im Feindeslager in deutscher Uniform fahnenflüchtig geworden seien. Wie gesagt, solche Antworten sind unnütz, und der Kommandant tat eben, was ihm befohlen war. So hatte ich zum zweiten Male 30 Tage, aber wie anders als damals! Der Offizier teilte uns jedem ein Zimmer zu, wir durften tun, was wir wollten; unsere Ordonnanzen durften uns bedienen; nur wir waren abgeschlossen von allen anderen. Unser Essen bekamen wir aus der Kantine. Es wurde mir ein großes Zimmer, freilich kahl und lieblos, angewiesen, ich durfte mein Bett, das mir als Offizier zustand, herübernehmen, Speisen und Getränke selber zubereiten oder aus der Kantine besorgen lassen, meine Ordonnanz kam täglich zweimal, das Zimmer zu reinigen und Aufträge entgegenzunehmen; ich durfte zwei Stunden am Tage auf dem Korridor allein und beaufsichtigt spazierengehen, nur das eine war verboten: jeglicher Verkehr mit den übrigen Gefangenen. Nun, wer meine Ausführungen gelesen, mag sich denken, daß mir solche Strafe damals nicht zu schwer schien.