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18. 11. 14.

Lieber Freund!

Ich habe Deinen Brief, den Du nach Graz schicktest, gelesen, ebenso die Briefe Pressel und Klaebisch, und freue mich, daß es Euch wohlgeht. Da ich weiß, wieviel Dir an unseren Vereinen liegt, so teile ich Dir mit, daß sie, besonders unser Theater, brillant funktionieren, trotz der schlechten Zeit. Nur Franz Rebl und Peter Schwarz sind im Kriege gefallen und können nicht mehr aufstehen. Sehr schwer verwundet sind Nikolas Schnaps und Georg Nordwassermann, dagegen ist unsere Demi-Monde sehr viel beschäftigt und tritt mit uns in verschiedenen Rollen auf. Wir ernten alle sehr viel Beifall und Lorbeerkränze. Brauchst also um unsere Sache nicht besorgt zu sein. Hoffe, daß wir uns zu Ostern wiedersehn. Beste Grüße an alle Freunde, und bitte um einige Zeilen an Deinen alten Freund

Philipp.

Der brave Barth. Wenn wir ihn noch bei uns hätten! Aber wir gönnen ihm alle sein besseres Los. Wir freuen uns für jeden, der diesem Kerker entgeht, und erwarten, daß er in der Ferne für uns wirkt.

So leben wir weiter im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Wenn wir doch schneller abstumpften gegen Kränkungen! Es ist das, was wir täglich üben müssen, es wäre die erste Phase zur Gesundung, der Sieg über uns selber, aber es geht noch nicht. Ein vielleicht krankes, gewiß nicht berechtigtes Ehrgefühl zuckt immer wieder in uns auf. Wir sagen uns, daß uns der Feind nicht kränken kann, und ärgern uns über uns selber, wenn es ihm doch immer wieder gelingt. Wir dürfen nicht aufhören, gerade in dem Sinne an uns zu arbeiten.

Verlaß ist auf nichts, und was heute gilt, wird morgen nicht gelten. Ist der Kommandant für uns, so haben wir Simeoni als Gegner oder die Forestiers. Und wer hat die Macht? Ein ganz nettes Stückchen passierte neulich. Dr. Mayne hatte irgend etwas Unbesonnenes begangen und sollte ins Gefängnis; da ging er zur Frau vom Domänenverwalter, die für uns Partei nimmt und auch gründlich die Hosen anzieht, wenn sie unter den Offizieren auftritt. Diese Frau sagt ihm, sie würde das schon regeln (und sie hat es auch geregelt), rät ihm weiter, er solle vor allem den korsischen Forestiers gehorchen; was der Kommandant sagte, wäre unwesentlich, alles hinge von den Forestiers ab. Die gute Frau hat uns auch später oft geholfen.

Der Kommandant hat uns Aerzte von jeder Arbeit befreit. Am 20. November kam ein neuer Genieoffizier, um Arbeitsverteilung vorzunehmen. Simeoni sagt ihm, als er an mich kommt, daß ich als Médecin-Major frei von Arbeit sei. Er kehrt sich nicht daran: „Gut, Landarbeiter“. Dr. Heller passiert das gleiche. Die Pfarrer sind gerade in Aleria, sonst kämen sie auch dran. So nehmen wir Spaten in Empfang und gehen als Ackersmann hinaus aufs Feld. Wir nahmen die Sache humoristisch, und es lohnte sich, sie so zu nehmen. Es war der erste Tag meiner Zwangsarbeit und einer von den wenigen, die mir gefallen haben. Ich will dabei verweilen.

Nachdem wir einem Korporal zugeteilt waren, ging es zur Feldarbeit; vor allem heraus aus dem Bau und dem Kasernenhofe! Vor uns die schneebedeckten Berge. Wir sind der Abteilung zugeteilt, in der auch Moritz und Bonitz arbeiten. Was die können, warum nicht wir auch? Bonitz hat schon Arbeit gewählt: er unterhält das Feuer, und ich helfe ihm und unterhalte ihn und wir uns gegenseitig und das Feuer. Die Landschaft ist herrlich. Der Korporal gibt meinen Spaten einem andern und fordert mich gutmütig auf, nicht zu arbeiten. Ich sehe um mich und mache die Entdeckung, daß die anderen auch mit recht wenig Arbeit auskommen. An der Zwangsarbeit wird keiner zugrunde gehen, das ist ein Trost, wenn mir auch Moritz sagt: „Du hast schön reden, guckst einmal in die Sache herein, hast Glück in der Wahl des Korporals, und nun willst du über derlei urteilen?“ Recht hat er, aber ich auch, denn ich habe auch später die Waldkolonnen und Essenträger begleitet und die verschiedenen Arbeiten gesehen. Immer fand ich, daß die Arbeit kräftigend wirkte und ein gutes Gegengift war gegen die seelische Depression.

Nachdem wir also das heilige Feuer zu schöner Glut geschürt hatten, zogen wir aus, neues Holz zum Brande zu suchen. Bonitz führte mich an einen Bach, an dessen Ufern viel trockenes Holz lag und vertrocknete Bäume standen. Wir sammelten einiges, machten aus den größeren Stämmen eine Bahre und luden das gesammelte Holz darauf. Das war das Werk von zehn Minuten, aber eine halbe Stunde arbeiteten wir dann viel schwerer an der Vertilgung unseres mitgebrachten Frühstücks und einer halben Flasche Rotwein. Die Sonne neigte sich schon. Wir genossen die herrliche Ruhe. Kein Geschrei, kein ewiges Gekeife: „Was soll’s, flott! Vorwärts, flott!“ – Wir atmeten tiefer. Dann nahmen wir unser Holz auf, brachten es zum Feuer, dessen Bewachung andere übernommen hatten, und verbrachten noch ein Viertelstündchen am Feuer mit den anderen. Der Korporal saß bei uns. Als wir nach Hause kamen, sah der Médecin-Aide-Major gerade aus dem Fenster. Es muss ein wohltuender Anblick für ihn gewesen sein. Er kam aber doch heraus, reichte uns seine kleine weiche Hand und fragte uns naiv aus, ob wir denn arbeiteten. Wir bejahten das, und Dr. Heller sagte lachend: „Wir sind leider noch nicht recht an dieses Instrument gewöhnt“, und wies auf die Hacke über seiner Schulter. Hierauf sagte er, wir möchten am nächsten Tage zu ihm kommen. Er hat uns dann freigeschrieben von aller Arbeit, aber wird uns das nützen? Vielleicht sagt schon der nächste korsische Forestier: „Ich pfeife auf den Arzt, ich bin der Arzt. Vorwärts also!“ Aus allem Elend taucht immer wieder die Hoffnung auf Befreiung. Heut heißt sie Infantin Beatriz von Spanien (die in hochherziger Weise sich um meine Befreiung bemüht hat), morgen Sister, dann Auswärtiges Amt, Genf, Bern, Repressalien, Austausch, Arzt, Militärarzt. Heut hat sie eigenartige Gestalt gewählt, sie heißt Italien. Gerüchte über Gerüchte dringen an unser Ohr, Telegramme nach Italien untersagt, Geld über Italien wird nicht ausgezahlt, Spannung zwischen Italien und Frankreich, geheimer Vertrag zwischen Italien (Bülow in Rom) und Deutschland, der Italien verpflichtete, im Anfange des Krieges neutral zu bleiben, damit die Einfuhr von Lebensmitteln leichter sei. Und durch das Labyrinth des Ohres dringen die Gerüchte tief ein ins Gehirn, klopfen an die Ganglien und legen sich fest in den Nervenzentren. Und nun beginnt die Phantasie seltsame Blüten zu treiben. Bis zum Appell steht alles auf der Terrasse und hält Ausschau nach italienischen Kriegsschiffen, die nicht erscheinen wollen. Neue Meldungen kommen. Einer hat gehört, wie einer zu einem gesagt hat, in Spanisch: „Italien hat den Krieg an Frankreich erklärt“, ein anderer, wie ein anderer einem anderen zugeflüstert hat: „Der Krieg ist erklärt.“ Und wir berauschten uns förmlich an romantischen Phantasiegebilden. Es genügt nicht, daß der Krieg entbrannt ist, wir bauen weiter. Was tut Italien, was wird der erste kriegerische Schritt sein, den es unternimmt? Natürlich die Besetzung Korsikas. Und Korsika wird sich nicht wehren können, Bastia wird fallen und Ajaccio. Die Italiener rücken ein und bringen uns Waffen. Unsere Vögte werden Kriegsgefangene, und hei! wie wir ihnen lohnen werden für all die Schmähungen und Kränkungen, mit denen sie uns überhäuft. Simeoni unser Gefangener und der hämische Arzt! Gewiß, so wird es werden, und wenn heute die Schiffe noch nicht da sind, so kommen sie morgen, und wenn morgen nicht, übermorgen. In Bereitschaft sein ist alles! Es bläst zum Appell, und wir reißen uns unwillig los vom Anblick des verheißenden Meeres, da unten weit und tief unter uns. Zum Schuppen geht es, und die Gläser füllen sich, und ein gedämpftes „Evviva Italia“ geht von Mund zu Munde. Die Erregung ist ins Ungeheure gestiegen, und manche Flasche wird geleert. Herrgott im Himmel, wenn das wahr würde! Wenn unsere Knechtschaft so schön, so romantisch schön endigen sollte! Aber endlich übermannt uns die Müdigkeit, und Wein vertragen wir auch nicht mehr. Glückselig sinken wir auf unser Strohlager und freuen uns auf den morgigen Tag. Das Wetter ist unwirsch geworden, und leiser Donner grollt in der Ferne. Plötzlich etwa nach Mitternacht werde ich aus schwerem Schlaf geweckt, auf unserer gemeinschaftlichen Matratze hat sich Bonitz erhoben, er stößt mich wieder und wieder an, es wird ihm schwer, mich wach zu bekommen. „Max, Max! Siehst du es nicht? Sieh doch da! die Scheinwerfer!“ – Ich weiß nicht mehr, ob es ihm gelungen war, mich zu überzeugen; ich weiß nur, daß in derselben Nacht auch Blitz und Wetter leuchtete und bat meinen Freund Bonitz am anderen Morgen, wenn er in der nächsten Nacht wieder Scheinwerfer sähe, so möchte er mir solches Faktum doch erst später, wenn ich ausgeschlafen sei, mitteilen. Und so vergeht die Nacht und der nächste Tag in äußerster Spannung. Einige versteckte Ferngläser werden hervorgeholt und das Meer abgesucht nach italienischer Kriegsflagge. Auch die nächste Nacht brachte keine Ruhe, die Geister spukten in unseren Köpfen. Ich wollte gerade einschlafen, als ich plötzlich eine lange Gestalt vor meinem Lager sehe. Es war ein Brasilianer, der mir mit flüsternder Stimme zuruft: „Erheben Sie sich!“ – Ich folgte dem seltsamen Befehle und setzte mich aufrecht auf mein Lager, mir den Herrn anzusehen. „Reichen Sie mir die Hand, Sie werden mich kennenlernen!“ fährt er in Geisterstimme fort. Da ich merkte, daß das Oberstübchen, ob chronisch, ob akut, nicht ganz richtig funktionierte, so lud ich ihn ein, bei mir Platz zu nehmen; aber mit Gespensterlächeln erwiderte er: „Heute nicht, heute wird Ihnen noch vieles seltsam erscheinen, aber morgen. Sie werden von mir hören.“ Dann schlich er davon, und ich sank in Schlaf oder versuchte es, denn der Mann mir gegenüber ließ mir keine rechte Ruhe. Ich war eben gerade eingenickt, als ein seltsames Fauchen mich weckte. Der Mann hatte sich, auf allen vieren schleichend, wie ein Panther vorgestreckt, ergriff mit einer Vorderpfote einen Schemel, und mit dem Rufe „Feuer, Feuer!“ schleuderte er ihn nach vorn und traf einen der Unseren recht kräftig. Es wurde zum französischen Arzt geschickt, der natürlich nicht kam. Dr. Heller holte Morphium, und er verfiel in tiefen Schlaf, den er uns nicht gönnte. Den Schemel hatte er, wie er sich am nächsten Morgen entsann, als Bombe gegen ein französisches Kriegsschiff (es war der Kübel der allgemeinen Notdurft) geschleudert. Ein Jüngling neben mir hatte sich in Todesfurcht in die äußerste Ecke des Schuppens geflüchtet, ohne auch nur eine Decke in seiner Herzensangst mitzunehmen, und da die Nacht durch gefroren. Er gehörte gottlob zu den „Nichtkombattanten“. – Und Italien griff doch nicht ein. Die Enttäuschung war bitter, schwer gewöhnten wir uns wieder an die ganz gemeine, hämische Wirklichkeit mit Gefängnis und Fußtritten und – Maurer…

 

Aber auch Patroklus ist gestorben und war mehr als du!

Die Erregung steigt ins Ungeheure, und eine Rebellion scheint unausbleiblich. Wer die Wochen der Tragik miterlebt, dem werden sie als etwas Furchtbares ins Gedächtnis geprägt bleiben. Sie begann am 9. November, erreichte ihre schroffe Höhe am 22. Januar 1915 durch Grimms Auflehnung, wurde am 24. Januar durch den Gewaltcoup gegen Maurer vorübergehend zum Schweigen gebracht, wiederholte sich immer wieder in kleinen Szenen und lenkte, dann in ein Fahrwasser stumpfer Resignation ein und führte zum Schlusse zu einer ruhigen Regeneration, wenn ich so sagen soll, zu unserer Rettung, die wir erst dann als vollendet betrachten durften, als wir das Schreckenslager von Casabianda verlassen hatten. Und auch dann noch nicht. Aus Casabianda brachten wir schwere Krankheit und Tod mit. Einer der Unseren wurde zur Kugel verurteilt und drei vor ein Kriegsgericht gestellt. – Mir schlägt noch heute das Herz, wenn ich solche fürchterliche Erinnerungen zurückrufe, wenn ich derer gedenke, denen Casabianda Elend, Siechtum und Tod gebracht hat!

Es wird klingen, als schreibe ich einen Roman, aber ich rufe alle meine Mitgefangenen mit nur einer Ausnahme zu Zeugen auf, daß ich der Wahrheit gemäß schreibe, nicht übertreibe, eher mich mäßige. Selbst wenn ich dem gewaltigen Zorn, der mich noch heute in Erinnerung der furchtbaren Szenen in der Tragödie Casabianda packt, Zügel und Kandare anlege, was wahr ist, will ich auch niederschreiben, ohne zu verschärfen, aber auch ohne zu schonen.

Ich muß nun etwas chronologisch vorgehen und komme zurück auf das Kapitel Maurer.

Der Unwille gegen Maurer war auf das äußerste gestiegen, hier und da hörte man laute und versteckte Drohungen. Besonders die Matrosen hatten Rache geschworen, und dem Braven war wohl selber für sein Leben bange. Am 9. November kam der Matrose Grimm, ein Hüne von Gestalt, zu Maurer, um von ihm Stroh zu fordern, das der verweigerte. Ob es böse Worte gab, weiß ich nicht, im Augenblick hatte Grimm die Faust erhoben, die wuchtig auf Maurer niedersauste, dann stürzte er sich auf ihn, und wer Grimm kannte, wußte, was bevorstand. Zwei Nachbarn warfen sich dazwischen und erreichten es gerade noch, daß Maurer sich seinem Gegner entwinden konnte. Er flüchtete sich zu seinen Schützern, den Franzosen. Grimm wurde ins Gefängnis geworfen und zu dreißig Tagen verurteilt. Nun war Maurers Urteil zugleich gesprochen, denn daß die Matrosen ihren Kameraden rächen würden, war gewiß. So wählte Maurer sauren Gesichts das einzige Mittel, das ihm blieb, er machte sich zum Fürsprecher für seinen Angreifer und erreichte, daß dieser freigelassen wurde. Das Schicksal hatte ihn zu schwererer Tat und schwererer Buße aufbewahrt.

So zog diese Wolke noch vorüber. Von dem Tage an war Maurer vorsichtiger geworden und wir vorsichtiger gegen ihn, denn wir fürchteten heimtückische Rache. Aber neue Angriffe konnten nicht ausbleiben, so sehr wir sie zu verhindern suchten. Die Wut der Matrosen legte sich nicht. Am 24. desselben Monats wiederholte sich der Vorfall. Ein Matrose wandte sich drohend gegen Maurer, die anderen standen ihm zur Seite, und es drohte ein allgemeiner Ausbruch gegen den Vogt zu werden. Der Appell war vorüber, die Türen schon geschlossen. In seiner Herzensangst schlug Maurer mehrere Male gegen die geschlossene Tür, um Hilfe heischend und rief nach den Wachen. Die kamen, und der Matrose wurde von Maurer bezeichnet und abgeführt. Die Türen wurden wieder geschlossen, und als nun definitive Abrechnung erfolgen sollte, war Maurer verschwunden. Er hatte sich ins Wachtzimmer gerettet und hat es nicht gewagt, auch bei Tage nicht, zu uns zurückzukehren. Er begegnete uns nur noch, wenn Gendarmen auf dem Hofe waren, und das war gut so, es hätte leicht böse enden können.

Ereignisse folgten auf Ereignisse, fast ein jeder Tag brachte neue Aufregungen, und der Mann stand noch an seiner Stelle, die Franzosen schätzten die Dienste, welche er ihnen leistete. Das haben sie uns häufiger gesagt, und das schnitt jede Beschwerde ab. Sie hatten wohl auch Grund dazu, und sie schützten ihn recht wirksam. Wer sich dem Mann widersetzte oder ihn beleidigte, flog unerbittlich ins Gefängnis. Er nutzte diese Macht aus, nur so konnte er sich halten, und so war er den Franzosen genehm. Damals füllten das Gefängnis zwei Kategorien von Verbrechern:

1. die, welche Maurer beleidigt hatten,

2. die, welche sich beim Arzt krank gemeldet hatten und nicht krank befunden wurden.

So erwachte dem Würdigen damals ein Nebenbuhler, welcher den Haß der Gefangenen auf sich und von ihm ableitete, es war das der Arzt des Gefangenenlagers, der Médecin-Aide-Major Dr. Marcantoni, und eines seiner ersten Opfer war wieder ich. Darin bewies ich bewundernswürdiges Talent, das sich später noch steigerte.

Casabianda, 30. November 1914.

Meine liebe Armgard!

Und wenn man überhaupt nichts mehr glaubt und wenn alles Narretei erscheint, es geschehen doch noch Zeichen und Wunder. Das heißt nicht etwa: „Ich bin frei“, aber ich, der noch vor wenigen Wochen fürchtete, daß die Nerven reißen und das Herz klappen werde, der gestern auf Stroh lag im Schuppen unter dauernder Aufsicht der Gendarmen und Forestiers, auf verlaustem Stroh und nachts unter dickem Mantel frierend, bewohne heute ein Zimmer mit Bett! Mit Schreibtisch! Ein Klosett zur Verfügung, auf das ich mich setzen darf! Ein Ofen im Zimmer zum Heizen und Kochen. Er prasselt lustig, während ich schreibe. Das alles kam so:

Heute morgen wollte ich, wie meist, mit der Waldkolonne ausrücken. Ich tue das gern, um dem ewigen Getöse und Nervengepauke hier zu entgehen. Da treffe ich den Burschen von Dr. Marcantoni, der mir sagt, des Doktors Bruder sei im Kriege gefallen, er selbst ginge auf Urlaub, wie lange wisse man nicht, er suchte mich, um mir seine Vertretung zu übergeben. Ich kehrte um und folgte dem Burschen zu Marcantoni. Der saß im Offizierskasino, stand natürlich nicht auf, als ich eintrat, reichte mir seine linke Hand und bat mich, seine Vertretung zu übernehmen, da er sofort reisen müsse. Ich erteilte ihm meinen Segen zur Reise und wünschte im Herzen, er käme nie wieder. So zog er ab.

Der Bursche führte mich nach oben, dort Revier zu halten. Ich weigerte mich und ging zum Kommandanten. So bekam ich im neuerbauten Hospital ein freundliches Zimmer und fühlte mich wieder einmal Mensch und Arzt. Nachmittags hielt ich Sprechstunde und machte Krankenbesuche. Mehrere der Kranken sind besorgniserregend, besonders ein junger Mensch, Ziesing. Er leidet an schwerster Dysenterie, und der Arzt hatte es bisher noch nicht für nötig gehalten, ihn zu besuchen, so oft er darum gebeten ist.

Dann gehe ich nach Aleria, einem kleinen Flecken, 20 Minuten von Casabianda entfernt, um Geräte für meinen neuen Haushalt zu besorgen, denn ich nehme an, daß ich hier bleiben werde, auch wenn Dr. Marcantoni zurückkommt. Dann bitte ich den Kommandanten, für unsere eigene Rechnung Medikamente aus Bastia verschreiben zu dürfen, was mir erlaubt wird. Ich habe mir die Lampe angesteckt, mein Tisch steht gerade vor dem großen Fenster, das auf freies Feld führt. Die Lampe leuchtet wie ein heller Scheinwerfer hinaus. Ich bewohne das Hospital, welches noch im Bau ist, ganz allein und habe mich von innen eingeschlossen. Der ganze Bau liegt am Ende der Domäne, außerhalb des Tores, das die Gefangenen abschließt. Nun bin ich also den Korsen ans Messer geliefert und kann erproben, ob sie wirklich so grimmig sind, wie Simeoni sie schildert. Ich bin weit hinaus sichtbar, das Fenster hat keinen Vorhang. In zehn Meter Entfernung stehen drei große Platanen, die gute Deckung bieten. Ein Schuß von da, und ein Boche ist weniger, der Schütze liefe nicht die geringste Gefahr, entdeckt zu werden.

Ein eigenartiges Gefühl beschleicht mich. Und wenn es so geschähe! Die Kugel schreckt mich nicht mehr, Furcht habe ich überhaupt abgelegt, aber Euch möchte ich wiedersehen nach allem Leid, Dir danken und den Kindern erzählen, was ich gelernt habe, und sie lehren.

Die Ruhe des heutigen Abends! Ich bin todmüde von allen Aufregungen, aber Krankheit und Unmut sind gewichen. Ich wollte ja nichts anderes, als meinen kleinen Anteil am Kriege gewinnen. Nun ist mir wieder zumute wie damals in Frioul, in der Glanzzeit meiner Gefangenschaft. Vielleicht kann ich hier wirken wie damals, ein Arzt tut so not. Wenn Marcantoni nur lange genug fortbleiben oder besser gar nicht wiederkommen wollte. Die tiefe Ruhe des heutigen Abends nach dem ewigen Krakeel und Geschrei da oben! Nach den sinnverwirrenden Gerüchten und Debatten! Die tiefe Ruhe des heutigen Abends wirkt so erschütternd. Ich glaubte, ich hätte das Denken verlernt und ich denke! Der heutige Abend wird mir unvergeßlich bleiben, wie eine Aussprache mit Gott. Ich hab’s besser gehabt als die anderen und war doch Tag für Tag verzweifelt. Nun will ich für andere schaffen.

2. 12. Heute, der hundertste Tag unserer Gefangenschaft, verlief ruhiger, vielleicht mehr für mich. Ich hatte die Nacht gräßlich geschlafen in meinem neuen Bette, der Ofen war ausgegangen, und ich bekam ihn nicht wieder an. So fror ich erbärmlich und sehnte mich nach meinem Ehebette mit Bonitz zurück. Auch gesundheitlich fühlte ich mich nicht wohl. Man kann alle diese Magen- und Darmkrankheiten gar nicht recht präzisieren. Sie sind bedeutungslos, wo man in seiner eigenen Behausung sich pflegen kann, und wachsen zu unendlichen Belästigungen, wo alles fehlt.

Um ½7 Uhr weckten mich die Arbeiter, welche ihr Werk begannen. Ich schloß auf und ließ sie herein. Es war gräßlich kalt. Mein Bursche, ein Soldat, machte Feuer. Ich wusch mich, kochte mir Schokolade, röstete mir Brot und aß es mit Butter dazu. Kein Lärm, kein Streit, auch morgens die köstliche Ruhe. Ich hörte kein Signal zum Appell, kein Sergeant trat herein: „Vorwärts, eilen Sie sich, flott, flott!“ Ich sah keine rote Hose und keine blaue. Ich kleidete mich wieder wie in Frioul, dem Range entsprechend. Dann ging ich um 8 Uhr durch das Tor auf den Kasernenhof. Der Lärm dort ging an meinen Ohren vorbei. Ich besuchte einige der Bekannten (Moritz und Bonitz waren ausgerückt), Schmidt und Dr. Bayer, ging dann zu den Schwerkranken, sie zu vertrösten, daß zwar noch keine Medikamente da seien, daß ich sie aber bestellt habe. Es wirkte das; die bisherige Behandlung besser zu gestalten, war keine Kunst. Sie verlangten so wenig, die armen Menschen, und dem wenigen war nicht zum zehnten Teil Genüge geschehen. Dann ließ ich den französischen Trompeter das Signal blasen „Zum Arzt“, das etwa wie ein Triumphsignal klingt, und hielt Sprechstunde. Die Leute sollten nicht, wie bei meinem humanen Kollegen, stundenlang auf dem eisigen Flur warten, darum war ich sofort zur Stelle und begann. Reichlich war doch die Krankenzahl, etwa 30 heute. Ich hatte gebeten, es möchten nicht zu viele am ersten Tage kommen, um den Unterschied nicht zu augenfällig zu machen. In den letzten Tagen hatte sich bei dem Unmenschen von Arzt kaum jemand noch gemeldet, um nicht noch die übrigbleibenden Räume des Gefängnisses auszufüllen und sich dem Zuge anzuschließen, der nachmittags bei uns vorbeigeführt wurde. Unrecht war es auch, daß viele Gesunde die günstige Konjunktur ausnutzten und so den Kranken es erschwerten, sich krank schreiben zu lassen. Die Sprechstunde beginnt mit den Herren Franzosen. Es ist doch ein anderes Bild, wenn jetzt der Mann von „Vorwärts, vorwärts! Flott, flott!“ vor mir steht, von meinem Urteil abhängig. Ich denke immer, was würde ich tun, wenn alle unsere Vögte einmal in einem Gefangenenlager von mir abhängig geworden wären, wie es unser Traum war beim geträumten Einzug der Italiener. Ich fürchte fast, wir ließen sie es doch nicht genug entgelten. Jetzt behandle ich die Kerle natürlich gut, nicht meinetwegen, sondern der anderen wegen und weil ich auch denke, es könnte mir gehen wie weiland Prinz Sigismund in Calderons „Leben ein Traum“. Da kommt so einer unserer größten Schinder und winselt mir täglich in die Ohren, ich möchte doch für ihn sprechen, daß er vierzehn Tage Urlaub erhält. Ich tu’s natürlich schon meiner Kameraden wegen, daß sie ihn für einige Zeit los sind, und hab’s auch durchgesetzt. Wenn er gehängt worden wäre, wär mir’s natürlich lieber gewesen; so war aber das doch immerhin ein Ausweg.

 

Danach kommen noch andere vier Franzosen ordnungsgemäß mir vorgeführt. Ich bin konziliant und schreibe sie alle dienstfrei. Dann folgen die 34 Deutschen, und ich muß meine ganze Diagnostik zu Hilfe nehmen, alle zu rubrizieren. Ein schweres Stück Arbeit. Es gelingt bei gutem Willen, und ich hätte mir eher den Finger abgehackt, ehe einer von ihnen durch mich in den Kerker käme. Wenn sie das ausnutzen, fällt das auf sie zurück, grob behandle ich manchen, aber bestrafen durch die Franzosen lasse ich ihn nicht.

Nach der Sprechstunde gehe ich nach oben, besuche meinen Freund und Nachfolger als Küchenchef Radei, dem die Arbeit auch schon über ist, dann zum Bericht beim Kommandanten, der interessiert scheint. Ich versuche sogar, Französisch mit ihm zu sprechen. Ich bitte ihn um Autorisierung meiner Unterschrift für Rezepte, die ich ausstelle und aus Bastia schicken lasse und erhalte sie. Weiter bitte ich zur Bereitung von Krankensuppen um Extrabewilligung von Reis usw. Er geht sogar selber mit mir zum Furageoffizier, der mir alles Verlangte in einen Sack füllt; da ich keine Träger beanspruchen kann, trage ich den Sack eben selber in die Küche. Nun kommt etwas weit Wichtigeres. Das Hospital hat so viele Betten unbenutzt. Da einige Kranke auf dem Strohlager nicht weiter bleiben können und das Lazarett zur Aufnahme nicht fertig ist, bitte ich, provisorisch die Betten den Schwerkranken, deren ich fünf zitiere, heraufschaffen zu können, um sie, sobald die Arbeiter fertig sind, im selben Bett wieder nach unten zu transportieren. Das wird mir nicht bewilligt. Gut denn: Der Wille genügt. Also das nächst zu Erreichende: ich hoffe, daß Dr. M. noch lange fernbleibt und möchte das Lazarett nutzbar machen. Morgen werde ich wieder vorstellig werden. Ich gehe zurück und finde von Schwägerin Else ein Paket mit Pfefferkuchen, Katharinchen, wie sie Großmutter immer nannte, und wie wir sie zu Weihnachten uns wünschten, und ein zweites mit warmen Strümpfen. Du weißt gar nicht, wie solche Gaben freuen. Es ist das Erfreulichste am Tage, wenn ich von Dir und den Geschwistern solche Geschenke erhalte. – Also ich brenne den Ofen an und röste mir die Katharinchen, verbrenne sie zum Teil, aber sie schmecken doch. Dann setze ich mich hin und schreibe an Dich, dabei bin ich noch.

Radei und Bonitz, die nachmittags hier waren, gaben mir doch den Rat, ich sollte etwas vor das Fenster hängen, denn die Verlockung für die Korsen sei zu groß. Ich tue das und hänge meinen Operationsmantel davor.

Ich habe heute seltsames Glück gehabt. Wäre ich abergläubisch, so dächte ich an den armen Polykrates, aber ich will optimistisch denken und hoffe, ich werde weiter Glück haben. Beim Waschen war mir Frau Boehmes Ring, den ich, wie Du weißt, nach ihrem schweren Schicksal und Tode sehr hochhalte, von meinen immerhin abgemagerten Fingern geglitten, und ich hatte es nicht gemerkt. Zwei Stunden später, als ich zurückkam, sah ich etwas im Sande funkeln, und es war der Ring. Dann vermißte ich ein Pfundstück englisch. Es war mir mit dem Taschentuch aus der Tasche geglitten. Auf dem Wege zur Küche traf ich Dr. Heller und erzählte ihm von dem Verluste. Natürlich war es mir fraglos, daß ich das Goldstück nicht wiedererhielte. Er griff in die Tasche und sagte: „Da nehmen Sie es wieder.“ Ich war sprachlos, die Lösung war einfach. Ein Herr hatte das Goldstück gefunden, zu Heller gesagt, wenn wir ausrufen, ein Pfundstück ist gefunden, so melden sich wohl fünfzig Verlierer. Also warten wir ab, ob jemand den Verlust beklagt, sonst verwenden wir es fürs Rote Kreuz.

Also es sei eine gute Vorbedeutung.

Es ist 10 Uhr, ich habe meine Mahlzeit verzehrt und stecke mir trotz Maurer eine Pfeife an und trinke behaglich guten Wein. Der Wein ist fast glühend, er stand zu nahe am Ofen, und ich habe tüchtig eingekachelt, weil es eisig kalt war. Ich will mich einmal ordentlich aufwärmen auf Franzosen- und Korsenkosten. Darum lasse ich das Feuer nicht ausgehen, stecke immer neue Scheite hinein. Mögen sie mir das abziehen vom Gehalt als Médecin-Aide-Major, oder später von den Ersatzansprüchen; für die Franzosen besser, sie zahlen’s jetzt und ziehen’s später ab. Ich habe noch genug Holzscheite im Zimmer, und der Korridor liegt voll davon. Heute sind wir hundert Tage gefangen. Im Holzschuppen da oben feiert man gewiß. Ich wollte wohl mitfeiern, aber heute taugte ich wenig dazu. So sehe ich ins Feuer und schreibe folgendes herunter:

Zum hundertsten Tage unserer Gefangenschaft
 
Am Franzosenfeuerofen feire ich allein den Tag,
Und ich werfe große Stoven in den überheizten Ofen,
Kost es, was es kosten mag,
Mich kostet es nichts!
Wär ich als Spion gefangen, setzte ich mich nicht zur Wehr,
Mitgefangen, mitgehangen, an die Wand und ohne Bangen,
Das ist Krieg, und das ist Ehr,
Das kostet das Leben.
Aber so vom Schiff gezogen aufs Ponton und Château d’If,
Immer weiter weggelogen, nach Frioul und auf die Wogen,
Bis die Korsin heiser rief:
Das kostet das Leben!
Hundert Tage so bezwungen, so begeifert, maledeit,
Von den blödesten der Jungen, Korsenförstern, Weiberzungen,
In den Ofen, Scheit auf Scheit,
Mag’s teuer euch kosten!
 

Rektor Kalb sagte mir vor einigen Tagen, daß die Gefangenschaft so sehr auf ihn gewirkt habe, daß er sich seiner Schüler nicht mehr entsinnen könne, kaum seiner Verwandten, er könne sie sich bildlich nicht mehr vorstellen. Andere versichern dasselbe. Ich zwinge mich, nicht an die Vergangenheit zu denken, weil das zu nichts führt, vor allem lasse ich die fruchtlosen Vorwürfe: Warum hast du das so gemacht und nicht so. – Fatum. – Was ich tat, mußte ich tun; daß es unglücklich ausschlug, wer will mich dafür verantwortlich machen, wo ich es selber nicht tue? Darum konzentriere ich mich auf das eine: Durch! – Dich selber erhalten! – Die Gefahr ist groß, aber vielleicht beurteilen wir die Möglichkeiten schwerer als sie sind, das habe ich in den letzten Tagen erfahren. Ich höre nicht mehr das sinnenverwirrende Stimmendurcheinander, ich spreche mit einzelnen, wie Mensch zum Menschen. Man muß sich langsam daran gewöhnen. Das Fürchterlichste war es doch: hundert Tage im Kreise schreiender, sich zankender, politisierender Massen zu leben. Es gab so viele gute Elemente, aber die schweigen mehr; und die schrien, waren meist die Gewohnheitsschreier, und sie zwangen die Ruhigen, auch zu schreien, wenn sie zu Worte kommen wollten. Das empfinde ich jetzt so tief, wo ich allein sitze. Das große Leiden bestand darin, daß wir hundert Tiere in einem Käfig waren, alle gierig nach derselben Kost, nach Freiheit, und edel genug, zusammenzustehen und keinen drinnen zu lassen, wenn der Wärter, die Käfigtür öffnen sollte. Das Massenwesen war es, was uns erdrückte, und es war uns aufoktroyiert, wir durften uns ihm nicht entziehen, wenn wir nicht Verräter werden wollten an denen, die mit gleicher Schmach von unseren gemeinsamen Feinden behandelt wurden. Aber daß das Massenwesen unsere Nerven zerreißt, das empfand ich gestern, als ich die erste ruhige Stunde nachmittags mit Radei sprach und später in Ruhe mit Bonitz über alles verhandelte. Köstliche Ruhe. Das vielköpfige Ungeheuer, die Masse, wirkt in kleinem Umfange so unerträglich. Man sagt zwar, daß die Einzelhaft weit schwerer zu ertragen sei als die Massenhaft; auf die Dauer mag beides gleich erdrückend wirken, wie alles, was dem Wechsel nicht unterlegen ist.

Der Kommandant erlaubt mir, Erholungsbedürftige, nicht Schwerkranke, ins Hospital zu nehmen, immer „auf ihre eigene Gefahr“. Schwerkranke, schon dysentrische, kommen nicht in Betracht, weil die Heizungsvorrichtung noch nicht funktioniert; eine provisorische auf unsere Kosten legen zu lassen, wird mir erst erlaubt, dann wird die Erlaubnis wieder zurückgezogen. So nehme ich Bonitz und Radei ins Hospital. Bonitz ist stark erkältet, leidet überhaupt unter niedriger Temperatur, ich lege ihn zu mir ins Zimmer, wo ordentlich geheizt wird.

5. 12. Heute ist noch Dr. Arranza hinzugekommen. Ich werde zum Hauptmann gerufen, und nun passiert etwas, was wieder, meiner Meinung nach, nur im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten geschehen kann. Vier Forestiers haben das Gesuch um Invalidisierung eingereicht, ich werde beauftragt, das ärztliche Gutachten abzugeben. Man legt mir genau das vorgedruckte Gutachten vor, wie es Dr. M. früher gezeichnet hatte. Der Hauptmann bringt mir selber die vier Leute zu, setzt sich in mein Zimmer, während ich untersuche. Unter den vieren ist der, welcher mich nicht durch den Posten ließ und mir den Revolver auf die Brust setzte. Heut sieht er bittend zu mir. Ich untersuchte, gab genaues Urteil ab, es handelte sich um echte Staatskrüppel, unterzeichnete als offiziell beauftragter Médezin, und sie sind alle vier frei geworden, ohne neue Untersuchung. Ist das bei uns möglich? Es wird hier alles auf den Kopf gestellt, vor einigen Tagen sagte mir derselbe Hauptmann, der heute bei der Untersuchung zugegen ist, daß zweihundert von solchen, wie wir, Eide leisten können, das Wort eines französischen Soldaten sei glaubwürdiger. Santa Republica! – Nun sind sie alle äußerst höflich, und die Hunde, die eben so laut bellten, wedeln. Auch den Revierdienst der französischen Soldaten halte ich regelrecht mit Eintragung in die Revierbücher und Zeichnung meines Namens ab.

Der Kommandant hat einfach gefordert, daß ich für das Lazarett volle Verantwortung nähme, auch für die, welche ich hereinlege. Das macht er gern so. Wir sitzen abends zusammen, Radei, Bonitz und ich, und sprechen über alle Ereignisse der vergangenen Tage. Wir lassen Revue passieren. Wir leben ein Narrenleben und wissen nie, was der morgige Tag bringen wird. Morgen ist Papas Todestag. Ich werde nach Hause denken. Was wir hier durchmachen, wird uns als klares Bild erst vor Augen treten, wenn der Vorhang sich darüber geschlossen hat, wenn das ewige Bildzittern, wie im Kinematographen, das schnelle Hin- und Herbewegen, wie dort, sich vor dem klareren Auge der Erinnerung zu einem vielleicht sogar folgerichtigen Bilde vereinigt. Manchmal denke ich, vielleicht ist all das, was wir erleben, gar nicht so unwichtig für uns, als könne es beitragen, Charaktere zu erziehen. Darin werde ich bestärkt, wenn ich sehe, wie der Willensschwache so widerstandslos verkümmert. Ja, wenn wir jünger wären und ein Leben vor uns hätten, das zu verwerten, was wir gelernt. Den Jüngeren mag die Schule wertvoll sein, für die Aelteren ist sie reichlich hart. Wir haben uns in unserem Alter und in unserer Stellung wie Hunde demütigen müssen, gehungert, gedarbt, uns mit Stroh, mit allerhand Ungeziefer geplagt, wir haben die zu Grabe getragen, die dem auferlegten Lose nicht gewachsen waren, andere hat die schwere Zeit für Tod oder Siechtum gezeichnet. Und ich sage mir doch, es war der Einblick in so vieles, das ich nie geahnt, politisch nicht und menschlich nicht, es war eine so romantische, gewaltig traurige Zeit, daß ich nur hoffe, ich halte sie durch, um den Kindern zu erzählen von dem, was das Leben bietet und fordert, von Recht und Unrecht, Ordnung und Unordnung, von falscher und wahrer Ehre. Ich fühle mich in der Besserung und denke, ich werde Widerstand leisten können. Wer weiß, was morgen auf mich hereinbricht. Gefaßt bin ich auf alles. Küsse die Kinder!

Max.

Herr Kommandant!

Ich erlaube mir, folgendes beschwerdeführend mitzuteilen: Am 30. November wurde mir von Herrn Dr. Marcantoni, Aide-Major, dann von Ihnen die ärztliche Vertretung des ersteren übertragen. Sie gaben mir schriftlich die Erlaubnis, in der Infirmerie Wohnung zu nehmen.

Ich übernahm den Posten und führte ihn, wie wir gelehrt sind, gemäß den Gedanken der Genfer Konvention in gleicher Behandlung der französischen Forestiers und Gendarmen, welche mir täglich zugeführt wurden und welche ich auch auf ihren Zimmern besuchte, wie der deutschen gefangenen Soldaten und Zivilisten aus. Von Ihrer Erlaubnis, Herr Kommandant, machte ich Gebrauch und legte drei Kranke, Bonitz, Radei und Dr. Arranza, provisorisch in die Infirmerie.

In der Zeit meiner Vertretung des Herrn Dr. Marcantoni wurde ich zugleich beauftragt, vier Forestiers auf Invalidität zu untersuchen, was ich tat, in der Meinung, hierin wie in der anderen Vertretung meine Pflicht getan zu haben. Gestern abend gegen 8.40 Minuten wurde gegen das Tor des Hospitals geklopft. Herr Dr. Marcantoni trat mit einigen Zivilisten und einigen Forestiers ein, Bonitz, Radei und ich waren in dem uns zur Verfügung gestellten Zimmer, welches durch den Ofen gut durchwärmt war. Dr. Arranza auf seinem Bette in der Halle. Herr Dr. Marcantoni führte aus, sein Haus sei zum Hotel und Bordell geworden, und forderte uns auf, sofort die Infirmerie zu verlassen. Als ich fragte, ob ich bleiben dürfte, sagte Herr Dr. Marcantoni: „Sie dürfen natürlich bleiben, aber besser, Sie gehen auch.“ So mußte ich schleunigst das Zimmer räumen; es wurde mir nicht erlaubt, meine Zigarrenkiste oder Eßwaren zu berühren. Als auch meine Patente als Stabsarzt von einem Zivilisten mit Beschlag belegt wurden, rief ich Herrn Dr. Marcantoni zu Hilfe, welcher mir erlaubte, meine Papiere mitzunehmen. Ich selbst wurde in einem Aufzuge, der meines Standes unwürdig war, in die Halle oben gebracht, wo ich ein Strohlager fand. Mein Einwurf, daß es sich bei den anderen um Kranke handele, begegnete einem Lachen des Herrn Dr. Marcantoni. Ich bin bereit, die Krankheiten der drei Kranken, wie ich sie notiert, wissenschaftlich zu beweisen.

Ich bitte, Herr Kommandant, Protest einlegen zu dürfen gegen eine derartig entehrende Behandlung, 1. als Arzt im Namen der Wissenschaft und Humanität, 2. als deutscher Sanitätsoffizier, in Berücksichtigung des erschwerenden Umstandes, daß ich kriegsgefangen und nicht in der Lage bin, mich gegen Beleidigung zu verteidigen, 3. als von Ihnen, Herr Kommandant, und von Herrn Dr. Marcantoni persönlich eingesetzter offizieller Stellvertreter des französischen Aide-Majors, dessen Funktionen mir übertragen sind und die ich erfüllt habe.

Sollten Sie, Herr Kommandant, für diese Frage nicht die zuständige Behörde sein, so bitte ich Sie, diese Beschwerde weiterzureichen. Zugleich bitte ich als Offizier meine Versetzung nach Corté so bald als möglich anordnen zu wollen, da nach der gestrigen Behandlung meine Stellung hier entwürdigt ist, und mich vom Dienste bei Herrn Dr. Marcantoni zu entbinden. – Mit der Versicherung…

Dr. Br., San. – R., St. – Arzt a. D.

Das Dokument, welches mir die Erlaubnis gab, in der Infirmerie zu wohnen, zeigte ich dem rasenden Marcantoni, der mir natürlich wieder sagte: „Ich pfeife auf den Kommandanten.“ Der Mann ist von einer satanischen Schlechtigkeit, das erkannte wohl jeder, auch die Franzosen. Er will uns zugrunde richten, uns schädigen und erniedrigen, wie er kann. Radei und Bonitz mußten am nächsten Tage zum Arzt, der sie, ohne sie zu untersuchen, gesund schrieb, ihnen sagte, sie sollten das Lazarett reinigen, und sie dazu anstellte. Dann sollten sie in den Kerker. Wofür? Es schreit zum Himmel!