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3

Es sei ein Wunder, sagten alle Leute. Von einem erstaunlichen Reorganisationsvermögen sprachen die Ärzte, als sie wieder einmal von Kiel, Hamburg und Lübeck zur Beratung und Kontrolle sich bei dem alten Herrn zusammenfanden. Niemand schrieb die Fortschritte, die in den letzten vierzehn Tagen sich gezeigt hatten, ganz allein der täglichen Behandlung des Doktors Sylvester zu, der mit Massage und Elektrizität morgens und abends die Lähmung der linken Körperseite zu bekämpfen suchte.

Vielmehr waren alle überzeugt, daß die Wiederkehr des Sohnes und die Versöhnung mit ihm den Willen zum Leben in dem alten Herrn neu geweckt habe. Daß zwischen Vater und Sohn nicht alles in Ordnung gewesen sein konnte, hatte man fühlen müssen, als der Sohn nicht an das Krankenbett des Vaters kam.

»Man sieht es wieder,« sagte Professor Rößler, »je intelligenter, nervöser und leidenschaftlicher ein Kranker ist, desto weniger hängt, unter gewissen Umständen, seine Genesung von der Wissenschaft, desto mehr aber von den Dingen ab, über die wir keine Gewalt haben.«

Und die Herren reisten wieder ab, in der Hoffnung, daß sich vielleicht noch eine leidliche Bewegbarkeit der linken Körperhälfte allmählich werde erzielen lassen; und mit der Gewißheit, daß Schlaf, Appetit und Stimmung des Patienten sich auffallend gebessert hatten. Leupold, dessen Auskünfte den Ärzten immer die maßgebendsten waren, konnte sagen, daß der Geheimrat die Dienerschaft nicht mehr in ungewöhnlicher Frühe herausklingle, sondern, auch wenn er wache, geduldig bis halb sieben liege. Und das war immer seine Stunde gewesen. Geduldig – das war gewiß ein Symptom! In dem Ablauf all der kleinen Lebensumstände, die mit der Uhr zusammenhängen, in seinem Verhältnis zu den Dingen der häuslichen Umwelt war ja der Geheimrat von der bedrohlichsten Ungeduld. Geduld kannte er nur in den großen Aufgaben der Arbeit. Wie besänftigt mußten also sein Gemüt, wie angenehm seine Gedanken sein, wenn er still wachend liegen mochte.

»Die wissen viel, was mir neuen Mut gebracht hat!« dachte der Geheimrat spöttisch hinter ihnen her.

In den vergangenen Monaten hatte er geglaubt, sein Leben und sein Werk brächen zusammen. Nun blühten neue Hoffnungen vor ihm auf.

Wie einfach.

Aber die ganz großen Wendungen im Dasein haben ja immer etwas wunderbar Einfaches. –

Am Tage nach der Abreise der Ärzte troff der Regen herab, kalt und trostlos. Über dem Hochofenwerk ballte sich das Dunstgewölk, und zerdrückte Rauchschlangen schlichen sich, niedergepreßt von Wind und Regen, seitwärts weg. Drüben vor der kleinen Stadt um den aufrechten Kirchturm auf hohem Sandufer strichen die Tropfenlinien nieder, so daß es aussah, als stehe eine gerillte Glasscheibe vor dem Bilde. Das fernere Gelände verschwamm im Grau. Auf dem Fluß zog ein Dampfer vorbei; seine hochgestapelte Bretterladung sah ganz ockerfarben aus von all der Nässe. Die schwedische Flagge hing als durchfeuchteter Lappen hinten am Heck. Er ließ aus seiner Sirene einen jammervoll aufheulenden Ton entweichen, als er an den Schiffen vorbeikam, die tief unter den weitausreichenden Skelettarmen der eisernen Entladebrücken ankerten. Dieser Schrei, der wie eine Klage durch die Luft schnitt, war der höfliche Gruß des Schweden an seine Kameraden.

Das ganze Bild zeigte Düsterheit. Aber das konnte die Stimmung des alten Herrn nicht in Unmut auflösen. Dazu war sie zu fest von frohem Glauben getragen.

Er saß in seinem Erker und schrieb. Den Bogen konnte er sich gut auf eine Unterlage mit Reiszwecken befestigen. Dann lag das Papier glatt und fest vor ihm, und er konnte es beschreiben. Denn so weit vermochte er die Linke noch nicht zu erheben, um mit ihr den Briefbogen niederzuhalten.

Ihm war zumute, als schreibe er den wichtigsten und beglückendsten Brief seines ganzen Lebens.

An Klara war er gerichtet, und er redete sie an:

»Mein teures Kind!

Es ist mir seit Ihrer frühen Jugend eine liebe Angewohnheit gewesen, Sie so zu nennen. Aber nun könnte wohl aus der Angewohnheit ein Recht werden, wenn Sie die Frage bejahen, die mein Sohn heute nachmittag an Sie richten wird. Er hat mir die Erlaubnis gegeben, Sie, meine liebe Klara, darauf vorzubereiten, daß er zu Ihnen kommen wird. Heute, weil es Mittwoch ist, brauchen Sie nicht zum zweitenmal zur Schule. Wynfried darf also darauf rechnen, Sie zu Hause zu finden.

Ich selbst habe Ihnen, ehe Wynfried Sie spricht, noch etwas zu sagen, und das ist, noch mehr als der Wunsch Sie vorzubereiten, der Grund, weshalb ich schreibe.

Nur ein ganz kurzes Wort! Dieses: daß Dankbarkeit Sie nicht bestimmen darf, sich für Wynfried zu entscheiden! Ganz gewiß erraten Sie mit Ihrem Herzen, daß es für mich eine große Freude sein würde, Sie als Tochter umarmen zu können. Und Sie rufen sich vielleicht ins Gedächtnis in dieser Stunde, daß ich es war, der die bitterste Not des Lebens von Ihnen und Ihrer Mutter ablenken durfte …

Mein teures Kind, Sie wissen es: ich habe Ihre Mutter geliebt! Ich durfte sie nicht besitzen und sie nicht die Meine nennen. Wenn Liebe so um ihr heiligstes Recht betrogen wird, bleibt ihr nur eine Art von Linderung und Erlösung: für den geliebten Menschen und das, was ihm teuer ist, ein wenig sorgen zu dürfen. Das war das bescheidene stille Glück, das ich mir gönnen konnte.

Sehen Sie es so, und Sie sehen es richtig. Und dann verstehen Sie auch: Sie stehen nicht in meiner Schuld!

Wo das Wort Liebe ausgesprochen wird, löscht es alle anderen Worte aus.

Glauben Sie das einem alten Mann, dessen Leben rauh war und voll Haß. Und dem es vielleicht niemand zutraut, daß er immer tief in seinem Gemüt einen großen Schmerz, einen sehr glücklichen Schmerz mit sich herumtrug.

Selbst wenn Sie sich gegen meine Hoffnungen entscheiden – nichts, gar nichts kann mich hindern, zu bleiben

Ihr väterlicher Freund

Severin Lohmann.«

Er war sehr bewegt, und als ihm das Wort von dem glücklichen Schmerz in die Feder kam, feuchtete sich sein Auge.

Er dachte: sind nicht vielleicht unsere Schmerzen mehr unser köstlicher Besitz als unser Glück?

Seine Zuversicht war groß. Er bezweifelte im Grunde nicht, daß Klara seinen Sohn mit Freuden annehmen werde. Sie war seit jenem Sonntag so verändert! In ihrer Stimme bebte ein Nebenklang mit – sie war wie von zärtlicher Ergebenheit gefärbt und umschmeichelte den Hörer wie Liebkosung. Ihr Wesen zeigte eine neue Art von Demut und Hingebung – ihre Hand schien noch pflegsamer, leiser geworden, und der gemessene Ernst, der ihr schon im Schatten ihrer Kindheit angeflogen war, wich einer Weichheit, die sich in Blick und Bewegung deutlich verriet.

Gerade von dem Tag an, wo sie seinen Sohn kennen gelernt hatte.

Und obschon der alte Herr sich ganz gewiß nicht für einen Frauenkenner hielt, glaubte er doch so viel von einem Mädchenherzen vermuten zu dürfen, daß es in aufwallendem Gefühl dem Vater sich nähere, – weil es dem Sohn aus holder Scheu sich nicht verraten wolle … Welche Glückseligkeit dieser Gedanke! Und er sah auch so viel Gerechtigkeit darin, wenn Tochter und Sohn zweier Entsagenden sich finden würden.

Wie machte dieser Wahn ihm auch den Weg zum Sohne leicht!

Er hatte keine Achtung vor ihm haben können. Und das zu verbergen, war seiner Natur in all ihrer Wahrhaftigkeit und Offenheit sehr schwer gewesen, obschon er begriff, daß seine Verachtung den Sohn vollends zerstören mußte.

Nun fühlte er: wenn dieses Mädchen ihn lieben konnte oder im Begriff war, ihn lieben zu lernen, dann gab es noch Werte in seinem Sohn. –

Sein Verkehr mit ihm wurde milder und gleichmäßiger.

Und als Wynfried ihm gestern erklärt hatte, daß er bereit sei, um Klara zu werben, hielt er lange stumm die Hand des Sohnes in der seinen. Wynfried sagte, daß der Wunsch des Vaters und die Leere und Zwecklosigkeit seines Lebens ihn bestimme; die Liebe freilich, die ein Mädchen zu erwarten pflege und die es verlangen könne, die könne er nicht vorheucheln. Sie sei ihm sympathisch. Das sei alles.

»Darüber sprecht euch nur unter vier Augen aus,« hatte der Vater geantwortet. »Wenn nur einer liebt, ist es genug. Denn das weckt auch nach und nach die Liebe des anderen. Und sie liebt dich. Sie ist auf das rührendste verändert, seit du hier bist.«

Das glaubte Wynfried. Er war es so gewohnt, daß die Frauen ihn liebten. Aber er hatte keine, auch nicht die leiseste Regung von Eitelkeit dabei, er stand so unberührbar fern von diesen Dingen – sein Herz war tot.

Und nun war dieser vorbereitende Brief geschrieben. Leupold sollte ihn in das Schulhaus tragen, genau um zwölf Uhr sollte er ihn, nach der letzten Unterrichtsstunde, überreichen … Dann las sie ihn, kehrte heim – konnte in Ruhe nachdenken – sich vielleicht, wenn sie wollte, mit der Pflegemutter aussprechen – war gefaßt und klar in ihrem Entschluß, wenn Wynfried um drei hinüberführe. Wohldurchdacht war alles.

Jetzt freilich hatte die Uhr von der Zimmertiefe her noch nicht acht Schläge herklingen lassen. –

Und die, an die der wichtige Brief gerichtet war, verließ erst gerade ihre Wohnung, um ihrem Beruf nachzugehen.

Klara erschrak beinahe vor dem Wetter. Oft war’s ja draußen viel erträglicher, als es von drinnen schien. Heute zeigte es sich umgekehrt. Die schönen Frühlingstage hatten die Haut schon an Wärme und Sonne gewöhnt. Nun schlug der unnatürlich kalte Regen ihr ins Gesicht. Der Schirm nützte wenig. Aber Klara war wettersicher angezogen. Auf dem braunen Haar saß eine Art Sportmütze von pastellblauer Wolle. Und ihre Gestalt war ganz und gar in einen dunklen Regenpaletot eingeknöpft.

Wie trübselig die Linden um die roten Kirchenmauern standen; aller Frühlingsglanz war aus ihren Wipfeln herausgespült. Die Blechrinnen, die am langen Dachsaum des Kirchenschiffes zu beiden Seiten hinzogen, waren so übervoll, daß allerwärts Tropfenfälle ihre Linien begleiteten; ihre Abflüsse, die grauen Drachenköpfe aus Zink, spieen einen dicken Strahl von Wasser hinab. Es rauschte und plätscherte überall. – Keine fröhliche Morgenfrühe. –

 

Klara bemerkte, daß der Hauptmann von Likowski mit einem Kameraden vor ihr herging – die Herren schienen ebenfalls den Weg zur Fähre hinab zu nehmen. Sie hatten hohe Stiefel an und braune Handschuhe. Ihre Mützen waren wie bestäubt von Regentropfen.

Den Hauptmann kannte sie sehr gut, wohnte er doch mit ihr unter einem Dach. Und die engen Verhältnisse sowie die übereifrige Dienstwilligkeit der alten Doktorin Lamprecht für ihren Mieter brachten es mit sich, daß Likowski oft im Erdgeschoß vorsprach.

Es hieß, er sei ganz wohlhabend. Aber er führte das einfache, regelmäßige Dasein des preußischen Offiziers, der sich für seine scharfe Arbeit frisch zu halten hat.

Er war ziemlich groß, etwas steif von Haltung, und in seinem rötlichen Gesicht stand der weißblonde Schnurrbart aufgebürstet über einem Mund mit vorstrebenden Lippen und entschlossenem Ausdruck. Auch seine hellblauen Augen blickten unternehmend. Haltung und Miene eines künftigen Divisionärs – zum mindesten! Doch neckten ihn die Kameraden mehr wohlwollend als spöttisch mit seinem Feldherrnwesen.

Richtig – die Herren blieben dicht vor ihr. Nun ging’s die Fahrstraße hinab. Sie war so steil, daß es dem Abwärtsschreitenden immer schien, als schubse ihn etwas vorwärts. Und ihr Pflaster war grob. Denn die Hufe der Pferde wären ohne den Halt, den ihnen die kräftigen Kopfsteine gaben, beim Hinauf- und Hinabfahren schwerer Lastwagen oft ausgeglitten. Die Straße mündete an der Anlegebrücke, die dem Ufer des Eisenhüttenwerkes schräg gegenüber in den Fluß hineingebaut war. Sie bezeichnete auch gewissermaßen einen Abschnitt in der Linie seines Laufes. Von seiner Quelle an war die liebliche Anmut wiesenreichen Binnenlandes seine Begleitung; dann zog er an der uralten Hansestadt vorbei und spiegelte deren rote Giebel und zahlreichen hohen Kirchtürme wider. Von da ab hatte Wasserbaukunst ihm viele Windungen abgeschnitten und ihm gerade Richtung aufgezwungen, ohne sein idyllisches Wesen merklich verändern zu können. Aber in dieser Gegend häufte die Industrie ihre grauen und toten Farben auf das Grün der Ufer. Und unmittelbar hinter dem Punkt, wo das Städtchen auf ragendem Ufer lag, weitete er sich zu einer gerundeten Bucht, die, östlich von größeren Waldungen begrenzt, schon durch den Geruch ihres Wassers die Nähe des Meeres ahnen ließ. Es war Salzatem darin. Im Volksmunde hieß der Fluß auch von da ab, wie ihn schon die alten Geschichtsbücher nannten: die Salzentrave.

Und die Navigationszeichen, die schweren Bündel der mächtigen eingerammten Stämme, der Duc d’Alben, wie auch die ziegelroten Markierungsstangen, die den Schiffen den Fahrweg durch das Wasser der Bucht zeigten, gab ihr einen großartigen, an die freie, weite See erinnernden Charakter.

Scharf wehte der Wind über die vom Regen bestrichene und gegen den Strom aufgewühlte Wasserfläche daher. Klara fühlte ihn im Gesicht, als strichen ihr kalte, nasse Hände über die Haut.

Vom Punkt aus, wo die Fahrstraße auf die Anlegebrücke stieß, mußte man noch ein Streckchen am Fuß des Abhangs, dicht am Wasser, uferaufwärts gehen, um an die kleine Fährstelle zu kommen. An ihr ragte ein geteerter Pfahl mit einer Glocke und einer weißen Inschrifttafel. Und hier mußte nun Klara auf den Hauptmann von Likowski und seinen Kameraden treffen.

Sie warteten; gerade kam der Fährmann heran und hielt mit starken Fäusten sich und damit den Kahn an der Eisenkette fest, die auf dem Brückchen aus einem Ringe heraus lief. Er stand ein wenig gebückt, sein Südwester war blank vom Regen, sein Rock von Wachsleinwand glänzte naß.

Der Hauptmann stieg zuerst ein – es bedurfte dazu nur des einen Schrittes hinab auf den flachen Boden des Kahnes. Er wollte Klara aufmerksam die Hand reichen. Aber sie, mit Büchern und Schirm beladen, tat schon selbständig diesen einen tüchtigen Schritt hinab. Ihr folgte der andere Offizier.

»Guten Morgen, Fräulein Hildebrandt.«

Klara nickte – sie schloß gerade ihren Schirm.

»Mit dem aufgespannten Schirm – im Winde – das ist mehr Hindernis als Schutz,« sagte sie.

»Immer tapfer in jedem Wetter in den Morgen hinaus!« sprach er wohlwollend.

»Man muß! Ich weiß auch längst, daß das sehr gesund ist. Sie können sich für Ihren Dienst ja auch nicht nur Schönwetter aussuchen,« meinte sie.

»Bitte –« sagte jetzt der Kamerad.

Und Herr von Likowski stellte vor: »Freiherr von Marning – Fräulein Hildebrandt …«, und er setzte auch gleich erläuternd hinzu: »Das gnädige Fräulein ist die Pflegetochter meiner fürsorglichen Hauseigentümerin.«

Gerade schrie der schwedische Dampfer seinen Kameraden, die unter den Entladebrücken drüben ankerten, seinen klagenden Sirenengruß zu. Und der Fährmann wartete im Kahn. Es war geraten, den Dampfer erst vorbei zu lassen, denn die Fährstelle lag ja noch im schmalen Flußlauf.

Klara sah den Offizier mit unbefangener Freundlichkeit an. Und sie war sogleich eingenommen von diesem bartlosen Gesicht. Beinah erstaunt, als sei es ihr kein neues, fremdes! Den Farben nach war es das eines dunkelhaarigen. Die Züge hatten festen männlichen Schnitt. Die braunen Augen fielen besonders auf. Eine seltsam eindringliche Leuchtkraft war in ihnen; aber es waren doch keine Schwärmeraugen. Vielmehr hatte man sogleich das Gefühl, aus ihnen blicke ein sicherer Wille. Diese ganze Erscheinung gefiel ihr – sie wirkte auch förmlich kriegerisch, in dem feldmarschmäßigen, betropften Anzug, an dessen hohen Stiefeln schon die Spuren schlammiger Wege klebten.

So stand er vor ihr. –

Und das ganze, weite, vom Wetter umdüsterte Bild um ihn her war wie ein Rahmen – voll Bedeutung.

Der Nachen schaukelte mehr und mehr. Obgleich der Fährmann, gebückt, mit angespannten Muskeln, gewaltsam die eiserne Kette umklammert hielt. Strom und Wind zerrten am Fahrzeug. Und nun zog in vorsichtiger Ruhe der Dampfer vorbei, in der hier gebotenen, verminderten Geschwindigkeit.

Drüben rauchte und rumorte das Hochofenwerk; da und dort glühte feuriger Schein zwischen seinen Bauten.

Der ungeheure Himmelsraum war grau, und dunkle Wolken jagten in der Höhe.

»Gnädiges Fräulein haben keine Furcht, bei solchem Wetter sich übersetzen zu lassen?« fragte der Freiherr von Marning.

»Ich fahre oft bei viel größerem Unwetter. Drüben habe ich ein Amt. Ich bin Lehrerin. Unterrichte an der Schule von Severinshof. Wenn ich da wohnen wollte, müßte ich die alte Dame verlassen, bei der ich seit meinem zehnten Jahr lebe. Das täte ihr zu weh,« sagte Klara einfach.

Nun stieß der Kahn ab, und Likowski und Marning hielten sich lachend aneinander fest – denn beinahe hätten sie im ersten Anstoß das Gleichgewicht verloren.

Klara saß schon auf der umlaufenden Bank, und die Herren folgten ihrem Beispiel.

Schwer ging die Fahrt, und die vom Dampfer aufgewühlten Wasser wellten hoch.

Marning sah die schlanke Gestalt an, die sich da so sicher und ungezwungen ihm gegenüber hielt, als wiege man nicht im peitschenden Regen über einen Fluß, sondern säße irgendwo voll Behagen.

»Das ist viel gefordert von einer jungen Dame,« sprach er.

Likowski hatte ein unklares Gefühl, als müsse er das junge Mädchen in Marnings Augen gewissermaßen gesellschaftlich noch heben. Er erzählte: »Fräulein Hildebrandt ist nicht nur die Pflegetochter der Doktorin Lamprecht, sondern auch die des Geheimrats.«

Und Marning merkte auch unwillkürlich auf. Was mit dem Geheimrat zusammenhing, seine Gunst besaß, war allen Menschen der Gegend gleich interessanter.

Für Klaras Feingefühl hatte diese Erklärung aber irgend etwas Kleinliches, ihr nicht Zusagendes, und auch eigentlich zu Likowski nicht Passendes. Ganz abwehrend klang ihr Ton, als sie sofort eilig hinzufügte: »Ich schulde Herrn Geheimrat viel Dank, er ist sehr gütig. Pflegetochter – das ist zu viel gesagt.«

Und sie sprach gleich weiter und sah den Freiherrn gerade an. »Der Geheimrat kennt Sie. Er hat mir von Ihnen erzählt. Sie waren einigemal bei Verwandten von Ihnen zusammen zur Jagd eingeladen …«

»Wie ist das viel, daß ein solcher Mann sich an den bescheidenen Leutnant erinnert. Ich kann Ihnen beipflichten: er ist sehr gütig – er war es zu mir und würdigte mich manchen Gespräches, das mir so lehrreich war. Nun ist das Jagen wohl für immer vorbei?«

»Oh,« sagte Klara gläubig, und ihre Augen bekamen feuchten Glanz, »ich hoffe, daß er noch einmal ganz der frühere wird – die linke Hand kann er schon wieder bewegen. Und das Bewußtsein war ja damals sofort wieder klar – das ist das große Glück …«

»Pu–r–r–r,« machte Likowski mit den Lippen, um Nässe- und Kälteschauer auszudrücken. »Angelangt – na, nu hopp!«

Und mit einem Schritt stand er auf der Brücke unterhalb der Sandsteintreppe. Er nahm die Stufen hinauf mit einer strammen Gleichmäßigkeit des Schrittes. Hinter ihm folgten Klara und der Oberleutnant.

»Darf ich Sie bitten – Fräulein Hildebrandt? – nicht wahr? – Herrn Geheimrat Lohmann meine verehrungsvollsten Grüße und Wünsche auszurichten.«

»Gern. Er hat einmal ausdrücklich gesagt, wie es ihm leid sei, Sie noch nicht gesehen zu haben. Aber Gäste kann er noch nicht empfangen – darf noch nicht.«

Dann geleiteten die Herren, da sie vorerst den gleichen Weg hatten, Klara noch auf der Landstraße an den Anlagen vorbei. Sie sah zum Erker hinauf, der in der Mitte des ersten Stockwerks aus der Front des Herrenhauses hervorsprang. Und sie sah: da beugte sich das grauhaarige Haupt aus den Lehnen des mächtigen Stuhles heraus – so, als sei es vorwärts über ein Buch oder eine Schrift geneigt. Daß er nicht aufpaßte, um sie zu begrüßen, war ein selten vorkommendes, auffallendes Ereignis.

Da mußte er schon mit etwas sehr Wichtigem beschäftigt sein.

Likowski erzählte: seine Kerle unter der väterlichen Führung von »Baby« Hornmarck seien schon über die Hochbrücke marschiert, um sich im Grabenausheben und Schanzenaufwerfen zu üben. Er habe den Bauern Vietig bewogen, seine Brachkoppel dazu herzugeben.

Nun schritten sie an dem mit Eisenspitzen bewehrten Palisadenzaun des Werkes hin – nun kamen sie an den stattlichen Verwaltungsgebäuden vorbei, die mit ihren Fassaden den Zaun unterbrachen. Und da war das mächtige Tor, über dem auf breitem grauen Blechschild in schwarzen Lettern zu lesen stand: Eisenhütte Severin Lohmann.

Gerade stand der Portier vor seinem Häuschen, das sich drinnen an den Torpfosten drängte, und sah einen ausfahrenden Wagen untersuchend durch. Die schweren vlämischen Pferde standen halb schon zum Torbogen hinaus, und ihre Nüstern dampften.

Diesem Tore gegenüber mündete ein Landweg, von Knicken eingefaßt, in die Straße, die an Severinshof vorbei und weiter hinaus ging.

Und hier mußten die Herren sich verabschieden. Likowski konnte es nicht, ohne noch eine von seinen bitter-humoristischen Betrachtungen anzustellen.

»Wissen Sie, Fräulein Hildebrandt – im Grunde – nee wirklich – tun wir ja ziemlich was Ähnliches. Nämlich: vorbereiten! Sie schuften, um aus den rotznasigen Bengels unterrichtete, manierliche Jünglinge zu machen. Wir schuften, damit diese Jünglinge fixe Kerls werden, die nich mit der Wimper zucken, wenn’s endlich ans Dreinschlagen geht. Na, und danken tut uns das keiner – Ihnen nich – uns nich – is auch egal! In der stillen Schufterei is doch was drinn – das erhebt. – Na, also: empfehl’ mich gehorsamst …«

Er verbeugte sich und legte die Finger an den Mützenrand. Und so tat auch Marning.

»Ja,« sagte Klara, »wenn man es so nehmen will –«

Sie neigte, ein wenig lächelnd, ihr Gesicht – das war ein abschiednehmender Gruß voll Anmut und doch voll Zurückhaltung.

Die beiden Herren stapften in den lehmigen Knickweg hinein. Das dicht verschrankte Gezweig und Gerank der Knicke, das Laub der Hainbuchen und der Schlehdorne, die kletternden Jelängerjelieberstengel, die grünen Zweige der wilden Rosen bildeten nasse Mauern. Und in den Spuren der Räder floß gelbes Wasser.

»Was für eine Stellung nimmt dies Fräulein Hildebrandt ein?« fragte Marning.

»Klara Hildebrandt? Stellung? Gar keine. Oder ’ne schiefe – man weiß nie recht. Wohin gehörtse nu eigentlich? Und haben tutse nischt. – Kann einen dauern. ’n Mächen I a! Viele sagen: natürliche Tochter vom alten Lohmann. Aber meine olle Lamprecht sagt: Quatsch! Das Wurm sei an die zwei Jahr alt gewesen, als die Eltern es mit herbrachten und der Geheimrat ihre Mutter überhaupt erst kennen lernte.«

»Wenn sie die Tochter vom Geheimrat wäre, würde er sie legitimieren und sie nicht so hart für ihr Brot arbeiten lassen,« meinte der Freiherr.

 

»Das erstere allemal – der ist nicht der Mann, was zu verstecken. Das zweite sagen Sie nich – vielleicht erst recht. Na – aber Fräulein Hildebrandt würd’ mich schön ’runterputzen, wenn sie wüßte, ich bedauerte sie. Wissen Sie, Marning – wenn ich mir das Heiraten nich abgeschworen hätte: die könnt’ einen wankend machen. Mein Vermögen langt ja. Und n’ Dispens kriegte man woll durch den Geheimrat – der hat Beziehungen – Verbindungen bis ganz oben ruff … Nee –«

»So ehefeindlich?« fragte der Kamerad lächelnd.

»Nich aus Weiberfeindschaft! Ih wo! Aber sehen Sie: mal muß es ja doch endlich losgehen – wir lassen uns ja rein auf der Nase ’rum spielen, das kann ja nich dauern. Na, und denn will ich kein weinendes Weib und keine schreienden Kinder zurücklassen, und mein Herz soll keinen Zwiespalt haben.«

»Es gibt auch tapfere Frauen. Wir haben eben eine gesehen.«

»Ach Gott – das is ja nu ganz was anderes, untern bißchen mühseligen Umständen dem Broterwerb nachgehen als ’n geliebten Mann in ’n Krieg ziehen lassen. In der Liebe verändern sich die Weiber völlig.«

Marning dachte an das schöne, etwas strenge Gesicht unter den braunen Haaren, auf denen die pastellblaue Wollmütze saß. Er war sich nicht klar, woher der Ausdruck von Strenge kam. Plötzlich begriff er: diese seltsam geraden Brauen – die gaben diesen Zug.

Likowski sagte jetzt: »Hören Sie mal – Sie müssen aber Besuche machen. Wenn Sie sehr gesellig veranlagt sind, können Sie ’rauf nach Lübeck fahren. Da is viel los – gastfreie Menschen die ollen Hanseaten. – Ich komm’ nich oft hin – unterhalt’ bloß kameradschaftliche Fühlung mit dem Regiment da – fahr’ kaum mal ins Theater. Das nimmt Zeit. Tags kann man nich zum Studieren kommen. Sie wissen ja: ich beschäftige mich immerlos mit Strategie, auch der älteren, hab’ mir grade Willisen und Jomini angeschafft – man lernt ja immer noch zu. Das kommt einem doch zustatten, wenn’s los geht. Und das tut es doch mal – muß es mal! …«

»Nein,« sagte Marning. »Ich bin nicht übermäßig gesellig. Nur grade, was sein muß –«

»Na – freilich. Ganz abschließen kann man sich nich. Verkehr ist Pflicht. Man lernt auch hie und da. Bloß nich Kommiß werden! Mit Scheuklappen. Nee. Also denn hier ’rum. Allzuviel is es nich. Um Überblick zu geben: da is der Großindustrielle Stuhr – der mit der Sensenfabrik – entzückende Krabbe von Tochter – nächstes Jahr geht sie aus. Denn die paar Honoratioren – drüben der Generaldirektor Thürauf – wohnt dicht bei der Kolonie Severinshof – kluger Mann, feine, hübsche Frau – drei prosaische Töchter – semmelblond – gute Diners und gemütlich. Ein paar Güter. Vor allem Schloß Lammen! Gott, über die verwitwete Baronin Hegemeister reden sich die Leute ja auch die Zunge wund und fuselig: soll ’n dolles Mädchen gewesen sein – die Eltern, reiche Parvenüs, hatten alle Ursache, sich’s zwei Millionen kosten zu lassen, damit sie unter Dach und Fach kam. Der alte, verschuldete Hegemeister hatte keine Vorurteile, soll sich nich daran gestoßen haben, daß das Mächen schon ’n Hufeisen verloren hatte. – Wer weiß, ob’s wahr is. Kein Mensch kann’s jetzt anders sagen: einwandsfrei hält sie sich, die schöne Agathe. Sieht nur beste Gesellschaft bei sich. Auch der Geheimrat verkehrte bei ihr, mit Frau – und die Geheimrätin sei ’ne scharfe Dame gewesen, sagen alle – als ich herkam war sie schon dot. – Na, vielleicht möcht’ die schöne Agathe wieder heiraten, was ja an sich kein sündhafter Wunsch ist. Und auch kein unerfüllbarer. Vorausgesetzt, daß sie ihn nich auf meine Wenigkeit fixiert.«

Jetzt öffnete sich rechts im Erdwall, der die überregnete, dicht ineinanderverflochtene Mauer der frischgrünen Gebüsche trug, eine breite Einfahrt. Ihr primitives, niedriges Tor aus Latten war nach der Koppel zu zurückgeschlagen.

»Da wären wir. Und nu wollen wir mal sehen, wie unser ›Baby‹ die Leute angestellt hat – fixer kleiner Kerl, der Hornmarck – hat ’n Schneid – na, ein Trost – man erlebt immer noch famosen Nachwuchs. – Wir werden uns mal den Helden von Siebenzig ebenbürtig zeigen. – Haben Sie gelesen, Marning – die letzten Depeschen – höllisch brenzlich! Passen Sie auf – in diesem Sommer erleben wir’s …«

Unterdessen begann Klara ihren Unterricht. Im freundlichen Schulhaus und seinen großen Zimmern, die durch beste Einrichtungen gelüftet und durch sehr große Fenster erhellt waren, konnte man fast das Wetter vergessen, obgleich der Regen eiligst an den Scheiben draußen niederrann, als sei es sein Geschäft, sie gründlich abzuspülen.

Die Kinderschar, Knaben und Mädchen, saßen in Reihen, und lauter aufmerksame Gesichter waren der jungen Lehrerin zugewandt, die neben einem großen farbigen Bild an der Wand stand. Das war eine topographische Karte, und Klara lehrte die Kinder die nächste Umgebung kennen und wußte durch allerlei historische Rückblicke, knapp und einfach vorgetragen, diese eingezeichneten Wälder, Felder und Dörfer zu beleben. Jedes einzelne Gewese war auf der Karte eingetragen. Und Klaras Augen sahen, wie infolge einer inneren Nötigung, immer wieder auf die Koppel des Bauern Vietig. Da übte jetzt die Kompanie des Hauptmanns von Likowski Grabenausheben und Schanzenaufwerfen – und der Oberleutnant Freiherr von Marning war auch dabei. –

Plötzlich fiel es Klara ein: Stephan heißt er! Der Geheimrat nannte einmal den Namen.

Und ganz unwillig über diese Störung ihrer Gedanken wehrte sie das von sich: dieser Mann geht mich ja gar nichts an. –

Er sah sehr schön aus – männlich und vornehm, und Augen von seltener Ausdruckskraft hatte er auch. –

Aber wirklich – er ging sie nichts an. – Wie töricht, daß sie diese Augen so deutlich vor sich sah. – Und sie sammelte sich fest und klar auf ihren Vortrag und all die Fragen der aufmerksamen Kinder und überwand dieses unbegreifliche Zurückdenken an eine im Grunde so gleichgültige Begegnung. –

Die Stunde lief ab, und andere folgten ihr – noch drei – sie schwanden schnell dahin. Und als Klara, hinter dem Rücken der letzten sich hinausdrängenden Kinder, nach ihrem Mantel griff, der am Zeugreck im Flur, neben der Tür nach dem Spielplatz hing, kam Leupold und hatte einen Brief und sagte, auf Antwort solle er nicht warten. Sie warf den Mantel über den Arm und öffnete sofort den Brief.

Des Geheimrats eigene Handschrift! Konnte es etwas Wichtigeres geben! Vielleicht bat er sie, im Herrenhause zu essen – es war heute Mittwoch –

Und sie las …

Sie mußte sich an den Pfosten des breiten Zeugrecks lehnen – betäubt – fassungslos –

Nun kamen ihre männlichen Kollegen – Herr Magers wollte, ehe er zu seiner Frau hinauf in das obere Stockwerk ging, ihr noch sagen, daß der kleine Rohrdantz wieder gelogen habe und daß sie doch einmal zu der Mutter des Jungen gehen möge – aus Frauenmund Warnungen zu hören, käme die Mutter sicher leichter an. – Und Herr Kehl strich sich durch seine blonden Haare und wartete, bis der Vorgesetzte treppan gestiegen war, und sah Klara über den Rand seiner Stahlbrille weg unsicher und zärtlich an. Sogar die Kinder der oberen Klasse hatten es schon heraus: »Herr Kehl ist in Fräulein Hildebrandt verschossen.« Nun bat er, verlegen über diese seine Nebentätigkeit, von der er doch einen wunderbaren Umschwung seiner Existenz erwartete, ob er ihr das Manuskript einer schon dreimal von ihm umgearbeiteten Novelle geben dürfe, ihr Urteil sei ihm ihm –

»Morgen,« sagte Klara, »morgen –«

Und sie zerrte sich ihren Mantel um, drückte sich die Mütze auf den Kopf und lief hinaus.

»Fräulein Hildebrandt – Ihr Schirm!«

Sie hörte nicht – sie fühlte ihren Körper nicht – nicht Regen – nicht Sturm – Sie lief – und lief –

Sie dachte nicht, daß Vater oder Sohn sie von den Fenstern des Herrenhauses vielleicht sehen könnten.

Fort, nur fort – in die Einsamkeit. Nachdenken über das Ungeheure, das an sie herantrat.

Wynfried wollte kommen und um sie anhalten.

Die Frau eines Mannes sollte sie werden, den sie nicht liebte.