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»Wollen Sie mir gestatten, als väterlicher Freund allerlei Fragen an Sie zu richten?«

»Wem sollte ich lieber dies Recht einräumen? Ich werde mit Wahrheiten antworten.«

»Sie sind mit Ihrem Beruf zufrieden?«

»Vollkommen, Herr Geheimrat.«

»Wir, mein Mitarbeiter und Freund Thürauf und ich, glauben beobachtet zu haben, daß Sie auch für eine Tätigkeit, wie die unsere ist, ein Verständnis haben, aus dem man auf Berufung schließen kann. Denn ein gewisser Grad von Verständnis und Interesse läßt mit Sicherheit auf Begabung schließen – nicht nur von den Künsten, sondern auch von wissenschaftlichen und praktischen Berufen darf man das behaupten. Was meinen Sie?«

»Gewiß, Herr Geheimrat,« sprach Stephan offen, »ich fühle mich auf das stärkste, ja leidenschaftlich zu all den wunderbar großen Dingen hingezogen, wie ich sie auf ›Severin Lohmann‹ kennen lernen durfte. Wie sich da Wissenschaft, Wagemut, praktischer Erfindungsgeist vereinen, um die Elemente in den Dienst der Kultur zu zwingen, das ist herrlich. Und all die volkswirtschaftlichen Bedingtheiten eines solchen Werkes regen mich unablässig zum Nachdenken an. Man fühlt immerfort: alles ist lebendige Kraft. Und wie ungeheuer die Verantwortung, die Summe all dieser Kraft stets in rechter Balance der Bewegung zu erhalten!«

»Sie hätten keine Lust, trotz dieser starken Teilnahme von der Armee zur Industrie überzugehen?«

»Wenn ich in meinen Knabentagen, in der Zeit, wo man anfängt, über den Beruf nachzudenken, Gelegenheit gehabt hätte, in diese Welt des Feuers und Eisens hineinzusehen, so würde ich vielleicht meine Eltern gebeten haben: laßt mich Hüttenchemie studieren.«

Er setzte mit einem Lächeln voll Ergebenheit und Verzicht hinzu: »Aber ich bin im Kadettenhaus auferzogen, weil es das Billigste war; ich habe gar keine Gelegenheit gehabt, nachzudenken über Berufswahl, weil ich nie was anderes gewußt habe, als: Offizier werden. Und meine Eltern hätten mich auch gar nicht studieren lassen können.«

»Und jetzt?«

»Jetzt würde es auch schwer sein, den Rock auszuziehen, den ich liebe! Wenn es denn endlich losgeht, möchte ich nicht zu Hause bleiben.«

»Beides läßt sich verbinden. Sie brauchten keineswegs zur Landwehr überzutreten, sondern könnten, wenn Sie alljährlich eine längere Übung machen, als Reserveoffizier Ihrem Regiment im Frieden wie im Kriege angehörig bleiben.«

»Das weiß ich wohl, Herr Geheimrat. Aber ich weiß auch, daß die großen Unternehmer schwerlich ihre unteren Angestellten alljährlich so lange beurlauben. Und ich könnte doch vorderhand nur immer ein untergeordneter Angestellter werden, ohne Vorbildung wie ich bin – wenn ich mir’s auch zutraue, in die Aufgaben hineinzuwachsen.«

Der Geheimrat sah ihn nachdenklich an und erwog: wie gehe ich weiter? Denn er spürte, daß Marning gar nicht daran dachte, es handle sich um »Severin Lohmann«.

»Nun,« sprach er, »die Unternehmer denken verschieden. Und warum nicht gleich mit der nötigen Vorbildung hineinkommen? Ein Jahr auf der Hochschule in Charlottenburg Hüttenchemie studieren – sich dann noch ein halbes Jahr praktisch umtun – das wäre schon Vorbildung, die Sie natürlich nicht sofort für eine direktoriale Stellung reif machte, aber doch, bei Ihrer Intelligenz und Ihrem Pflichtgefühl, Ihrem Ehrgeiz, Sie von vornherein in die obere Laufbahn brächte.«

»Herr Geheimrat,« sagte Stephan mit ernstem, entschlossenem Ton, »ich habe mich durch ähnliche Erwägungen schon manchesmal in Versuchung gefühlt. Ich muß aber darauf verzichten, den verlockenden Weg zu beschreiten. Es wäre bei meiner überaus bescheidenen Vermögenslage ein Wagnis, das ich nicht unternehmen darf. Wenn ich für das Studium und eine kurze Volontärzeit von meinem sehr kleinen Erbteil das Erforderliche opfere, und ich finde nachher keine Stellung, so gerate ich in eine schwere Lage. Ich habe keine Beziehungen zum Hause Krupp oder anderen Häusern. Und wenn mir auch diese Unterredung den mutvollen Gedanken geben darf, daß ich auf Ihre Empfehlung würde rechnen können – eine Sicherheit wäre mir damit nicht gegeben. – Und so muß ich verzichten.«

Ganz langsam fragte der alte Herr und sah ihm gerade in die Augen: »Wie viel Zulage haben Sie?«

Und mit freiem Blick, stolz und einfach antwortete Stephan: »Sechzig Mark, Herr Geheimrat.«

»Schulden?«

»Nein, Herr Geheimrat. Auch keine Kleiderschulden. Ich habe von Anfang an beim Offiziersverein immer bar bezahlt und zwölf Prozent bekommen.«

Rührung zog durch das Gemüt des Alten und machte es weich. Und ein Hochgefühl wallte in ihm auf.

Ja, so gibt es Tausende – Tausende. – Mit einer knappen Zulage. – Großer Gott: zwei Mark für jeden Tag! Mit dem schmalen Sold vom Reiche schlagen sie sich durch. Entbehrung ist ihr Los. – Aber sie zu ertragen, ist ihr Stolz.

Arm! Mutig! Voll heiterer Kraft!

Das ist der deutsche Offizier im stillen Heldentum, das der Friede fordert.

Und es ist Gefahr, daß das Volk diese reine, straffe, aufrechte Gestalt nicht mehr richtig sieht.

Weil die Zeit nicht von ihr fordert, daß das Schwert erhoben werde.

Lastende Zeit … Das ging so durch ihn hin.

Der junge Offizier fühlte die Güte des Blickes, der auf ihm ruhte – er ahnte, daß dies Schweigen erfüllt war von Achtung und Verstehen. – Und er wurde weich – sehr weich. – Er hätte am liebsten in kindlicher Verehrung die Hand des Alten geküßt.

Nun aber fuhr der aus seiner Rührung und seinen Gedanken auf.

Der Augenblick war da. Die Frage mußte getan werden.

»Ich bin wie alle alten Leute,« sprach er mit einem mühsamen Lächeln, »ich mache lange Vorreden. Ganz klipp und klar hätte ich gleich sagen sollen: wollen Sie nach den nötigen Vorbereitungen bei ›Severin Lohmann‹ eintreten?«

Stephan sprang auf. Er erblaßte so sehr, daß dem alten Mann, der ihn mit fast gieriger Wachsamkeit beobachtet hatte, das Herz rasend zu klopfen begann.

»Hier?« sprach er sofort – ließ keine, gar keine Pause aufkommen, »hier? – auf ›Severin Lohmann‹ sein? Hier? Jeden Tag – immer? – Nein. Nein! Ich – ich – danke gehorsamst, Herr Geheimrat. Ich muß ablehnen.«

Bei den letzten Worten spürte man es: er hatte sich gefaßt. Und er setzte sogleich hinzu: »Sowie Likowski wieder Dienst tun kann, komme ich um Versetzung ein. – Nur sein Unfall hat mich verhindert, es schon heute zu tun. Ich danke gehorsamst –«

Das mächtige Haupt neigte sich ein wenig, als sei es müde. Unter den starken, grauen Brauen her kamen die tiefen Blicke und schienen in die Stürme und Leiden des jungen Menschen hineinsehen zu wollen.

»Können Sie mir den Grund sagen, weshalb Sie nicht bei uns bleiben wollen, weder als Mitarbeiter noch in Ihrer Garnison? Wollen Sie es nicht einem alten Mann sagen, der Sie liebhat und der – der auch – ein – Mensch ist … der gelitten hat –«

Diese zitternde Stimme – zum erstenmal klang sie ihm greisenhaft – erschütterte Stephan.

Und doch sprach er leise und fest: »Nein!«

Nichts als dies kurze, jede weitere Frage ablehnende »Nein!«

Der gramvoll forschende Blick aber ergriff ihn. – Er tat, wozu es ihn schon vor Minuten hatte hinreißen wollen – er neigte sich tief und küßte die Hand des alten Herrn.

Fast wollte seine Fassung zerbrechen – ein Übermaß von Empfindungen stürmte durch ihn hin. – Als bäte er mit diesem Handkuß: verzeih mir, daß ich deines Sohnes Frau liebe. – Als schwöre er: zwischen dieser edlen Frau und mir steht nicht der Schatten einer Schuld. – Als flehe er: versteh doch, daß ich gehen muß.

Dann richtete er sich auf – stand voll Haltung.

Er griff nach seiner Mütze und hielt sie in der Hand.

Noch ein paar Herzschläge lang sahen sie einander fest in die Augen! Höher hob Stephan den Kopf, und sein Blick schien zu leuchten, im Bewußtsein, daß er ihn so frei erheben könne.

Dann grüßte er militärisch und ging.

Als müsse dieses leise »Nein« das letzte Wort zwischen ihnen bleiben. –

Und wenn tausend gesprochen worden wären, sie hätten dem alten Herrn nicht mehr offenbaren können als dies eine.

Nun hatte er keine Zweifel mehr.

Erschöpft legte er sich zurück und schloß die Augen.

»Wie sich alles wiederholt!« dachte der Greis.

Hatte das Schicksal so wenig Erfindungsgeist?

Warum mußte es diesen beiden herrlichen jungen Menschen dieselben Leiden aufbürden, die er und eine heilige Tote einst getragen?

Aber war denn an diesem Leid wirklich nur jene unbekannte Macht schuld, die man so unbestimmt und sich selbst entlastend gern »das Schicksal« nennt?

Waren es nicht vielmehr seine eigenen Hände gewesen, die alles so geschoben hatten? In herrischer Selbstsucht!

Voll harter Aufrichtigkeit gegen sich gestand er sich das ein!

Den Sohn hatte er retten wollen, sich selbst die holdeste Tochter gewinnen.

Er täuschte sich nur zu rasch und freudig vor, daß sie für seinen Sohn Neigung habe.

Er genoß es als Glück, ihr Sorglosigkeit und ansehnliche Stellung darbringen zu können.

Er glaubte der Geliebten noch über das Grab hinaus Treue zu beweisen, indem er ihre Tochter in sein Haus zwang.

Und nun wußte er: Klara konnte seinen Sohn nie geliebt haben – denn sie war nicht veränderlichen und leicht entflammten Herzens.

Er erkannte längst: von äußerem Glanz war sie so unabhängig, wie es ihre Mutter gewesen.

Und er fühlte, daß die teure Tote weinen würde über das Geschick der Tochter …

Gut machen! Das war seine Pflicht! Aber wie denn? Noch einmal Schicksal spielen?

Klara sagen: wenn du einen anderen Mann liebst – sei frei!

Aber das war ja ganz unmöglich!

Er dachte an seinen Sohn – an den anderen Mann.

Die bitteren Vergleiche taten ihm nicht wohl! Er wußte klar: sein Sohn war von der Art seiner Mutter. Begabt, schön, beweglichen Verstandes – ohne Tiefe des Herzens und ohne Zuverlässigkeit. Genußfreudig.

 

Und er sah den anderen stolzen Mann vor sich, der still und aufrecht seinen entsagungsvollen Weg ging.

Ja – dieser wäre Klaras würdiger gewesen …

Und wie verschwiegen und tapfer und schuldlos sie litten!

Wie er selbst einst gelitten …

Seine heiße Liebe, die so ganz und gar mit der Liebe zu einer Toten verwoben war, daß sein Herz oft erzitterte, wie in Furcht vor seltsamen Geheimnissen – diese heiße, selbstsüchtige und dennoch zugleich über jedes Mannesgefühl hinaus in das rein Menschliche erhobene Liebe – sie wallte stürmisch auf. Sie wehrte sich dagegen, ohnmächtig zuzusehen, daß Klara sich in heimlichem Gram verzehre.

Aber tat sie denn das? Was wußte er von ihr? Von ihrem Herzen? Warum hatte sie seinen Sohn denn geheiratet? Er hatte es ihr doch damals ernst und stark geschrieben: nicht das geringste, was ich sorglich für dich tat, darf dich bestimmen? Und von all den schweren, häßlichen Dingen, die den Tod ihres Vaters umspielten, wußte sie doch nichts.

Was sollte er tun?

Ganz gewiß war sein Sohn nicht der ebenbürtige Gatte dieses jungen Weibes.

Aber er, der eigene Vater konnte ihm doch nicht die von der Seite fortreißen, die seine Helferin, sein edelster Besitz war? Wahrscheinlich hatte er keine volle Erkenntnis von dem Adel und der Würde seiner jungen Frau. Dennoch aber – das hoffte der Vater so sehr von ganzem Herzen, daß er daran glaubte – dennoch stand sie ihm hoch, und er fühlte dankbar, wie ihre Reinheit und ihre Klugheit ihn aus dem elenden Lebensüberdruß herausgerettet, dem er verfallen gewesen.

Ihm war, als höre er ihn sagen: »meine famose, großartige Frau!«

Das klang immer so flach, so äußerlich – es hatte ihn schon oft verletzt.

In diesem Augenblick, als das so in sein Ohr zurückkam, fühlte er: von Wynfried war es ehrlich gemeint und eine starke Anerkennung.

Und dieses Gefühl war vielleicht das beste, was je in des Sohnes Herzen gelebt hatte.

Und der eigene Vater sollte ihm das zerstören?

Unmöglich.

Und das kleine Kind? Ihr und seines Sohnes Kind? Die Zukunft des Hauses! Sein Enkel – sein Stolz und Glück!

Unmöglich!

Das junge Weib – das Kind – das Werk – alles eine Zukunft zusammengeschmiedet. – Unzertrennlich. –

Wie sollte sich das alles lösen?

Still lag sein Haupt gegen die Lehne gedrückt.

Zum erstenmal fühlte er sich müde – sein herrischer Wille – sein Zorn – sein Schmerz entglitt ihm gleichsam.

Ein leises Ahnen beschlich ihn, daß auch für die stärkste Lebensgier eines Tags die Wirrnisse des Daseins zu mühselig werden können. –

Und draußen surrte der Regen, emsig gießend, in unermüdlicher Betriebsamkeit, als wolle er alle Leidenschaft und alles Unglück nüchtern wegwaschen.

10

Mit der objektiven Bewunderung des vorbildlich glatten Schenkelbruchs hatte der Professor seinen Patienten nur bändigen wollen. Aber als der ungeduldige Likowski nach vierzehn Tagen einsah, daß die Sache keineswegs so einfach sei, daß die Heilung noch Wochen in Anspruch nehmen werde, verfiel er in einen schlimmen Gemütszustand. Da man ihn zuerst wohlmeinend getäuscht hatte, glaubte er nun auch der Versicherung nicht, daß alles wieder völlig gut werden würde und seine Dienstfähigkeit gewiß nicht in Gefahr sei.

Er sah sich schon lahmend und außer Dienst!

Was ihn bei diesem Gedanken befiel, war kein Gram mehr – es war Wut.

Monate der ungeheuerlichsten Anstrengungen und Leiden in einem Feldzuge würde er wahrscheinlich kaum gespürt haben, im Hochgefühl kriegerischer Pflichterfüllung. Aber hier so still liegen und sich gefaßt erweisen, dazu war er nicht der Mann.

Er erklärte das für Frauenzimmersache. Weiber, die hätten’s in den Nerven, daß sie zäh und ergeben dulden könnten – deren Nerven seien eben dehnbarer eingerichtet. Männernerven rissen gleich.

Und die Welt, die nächste um ihn, wie die große, weite draußen, war nicht in Zuständen, die ihn hätten angenehm zerstreuen können.

Das Wort »Krieg« zitterte durch Deutschland. Jetzt endlich glaubte man es ganz gewiß. Der Herbst würde die Völker gegeneinander werfen. – Es schien kein Zweifel mehr.

Jedermann nahm sich in acht, zu Likowski davon zu sprechen. Aber er las ja Zeitungen – immer mehr – Zeitungen aller Parteien. – Und er spürte, wie der Glaube an den Krieg da als Hoffnung, dort als Furcht durch die Druckzeilen bebte. Wie die einen in heißer Opferfreudigkeit erglühten – das sah er mit glückseligem Stolz. Wie die anderen feige nur an ihr bißchen gestörtes Wohlleben dachten, erkannte er mit Zähneknirschen. Es war ihm doch das brennendste Bedürfnis, davon zu sprechen. Und wenn seine Besucher nicht davon anfingen, war es sogleich sein Gespräch, seine Frage.

Thürauf kam. Er mußte bestätigen, daß das Ausland sich mit Bestellungen zurückhielt, daß wiederum einige Industrien des Inlandes überhetzt Rohmaterial brauchten. Die geschäftliche Lage war trübe und besonders von der Ungewißheit geschädigt. In industriellen Kreisen sagten die einen: Ginge es doch los, damit wir dann freie Bahn und neuen Aufschwung erleben, wenn’s überstanden ist! Die anderen: Alles ist nun in schönster Blüte, die Kinderjahre unserer Industrie sind überwunden, wir überflügeln die anderen Völker; und nun soll ein Krieg alles zerstören?

Herr von Pankow kam, und seine joviale Behäbigkeit erschien umflort von gedrückten Stimmungen. Was aus der Ernte werden sollte, wußte Gott allein bei diesem ewigen Regen. Und gerade jetzt war das schnelle und gute Hereinkommen der Ernte so dringlich nötig! Wußte man denn, ob einem nicht morgen die Pferde weggeholt würden?

Er war ja ganz damit zufrieden, obschon sein Einziger als blauer Husar mitmußte – stand in Wandsbek, Regiment Königin der Niederlande – bloß erst die Ernte ’rein – dann war man hinterher auch leistungsfähiger.

Und Doktor Sylvester kam, und sein Mundwinkel, in dem der Schmiß von der Wange her endete, zog sich ganz besonders schief. Er sagte, daß er seit seinen Quartanertagen darauf gewartet habe, mitzugehen. Er war Stabsarzt der Reserve und hatte schon an einen alten Verwandten geschrieben, der sich gerade aus der Praxis zurückgezogen habe, aber bereit sei, ihn in Severinshof als Hüttenarzt zu ersetzen. Womit der Geheimrat sich einverstanden erklärte. Und er erzählte, daß der Geheimrat gesagt habe: ein Krieg sei für Deutschland ein Sprung ins Dunkle, man stehe vor Problemen, dergleichen die Welt noch nicht gesehen; denn daß ein Industriestaat ein Volksheer mobilisiere, sei ein in der Geschichte noch nicht dagewesener Fall. Aber die ethischen Eigenschaften unseres Volkes zeigten Erschlaffung, und nur in einem Kriege könnten sie ihre Kraft und Gewalt wieder erreichen. Es liege nun einmal in der deutschen Art: lange Zeitspannen der Sorglosigkeit und des Friedens vertrage sie nicht.

Und Edith Stuhr kam und saß frech und neugierig und vergnügt an seinem Bett – was die alte Doktorin Lamprecht unerhört fand – und erzählte, daß ihr Papa jammere: wenn Bedarf an Schwertern sei, frage man nicht nach Sensen.

Und die Kameraden kamen.

Diese jeden Tag. Und wenn sie nicht sprachen von dem einen, so sagte es Blick und Händedruck …

Sein Vetter, der Kapitänleutnant schrieb: »Wenn es wird, muß es vor dem 14. September sein, denn nach dem Flottenmanöver entlassen wir stets unsere Reserven. – Marinereserven, einmal entlassen, können nicht so rasch wie das Landheer zur Waffe zurückberufen werden. Sie zerstreuen sich, infolge ihres größtenteils seemännischen Berufes, bald über die Ozeane. Die brauchen oft Wochen, bis sie zurückkommen können. Mit eben frisch Eingestellten kann man aber unsere Schiffe nicht bedienen. Also: wenn unsere Reserven zurückbehalten werden, heißt das: Krieg in Sicht!«

Und der Hauptmann schwor wieder: »Ich schieß’ mich tot, wenn’s losgeht und ich bin ein Krüppel!«

Und das Allermerkwürdigste war, daß diese ganze Spannung, dies ungeheure Warten auf das gewaltige Wort in einem Hochsommer sich fiebrisch wach erhielt, dessen Glut und dessen Sonne von endlosem Regen aus der Luft gewaschen wurde. Die Natur überhitzte die Nerven gewiß nicht. Der graue Tageshimmel schüttete vom Morgen bis zum Abend, die schwarze Nacht vom Abend bis zur Frühe Wolkeninhalt hernieder. Gelassen und grau, von keinem Lichtstrahl kristallen durchblitzt sank der Regen herab.

Likowski verbohrte sich in den Wunsch: wenn bloß endlich mal Schönwetter würde!

Als sei damit dann viel geklärt.

Aber es wurde kein Schönwetter.

Die gute, flinke Alte hatte ihre Not mit ihrem Pflegling, und ihre ermahnenden Reden flossen ohne Unterlaß.

»Grad wie der Regen,« sagte Likowski einmal.

Aber sie steckte oft ihr graues Köpfchen mit dem spiegelglatten Flachskopf des Burschen zusammen, und sie kam mit Vollert, in höchst unmilitärischer Verwischung aller Subordinationsgrenzen, überein, daß man Herrn Hauptmann jetzt nie etwas übelnehmen müsse.

Sehr beleidigt war Likowski, daß von »drüben« – womit ein für allemal die Bewohner des Herrenhauses gemeint waren – niemand kam.

Der Geheimrat natürlich konnte nicht. Er schickte seinen Leupold mit erlesenen Früchten und köstlichen Bissen. Und hatte auch in einem eigenhändigen Brief sein Mitgefühl ausgedrückt.

Die Doktorin erinnerte daran, daß doch Herr Wynfried Severin schon einige Male vorgesprochen habe. Aber ihr Pflegling schien diese Besuche nicht zu rechnen. Er mochte nun mal den Mann nicht … Er schalt: wo bliebe denn Frau Klara? Sie schickte Blumen. Aber sie kam nicht. Hatte er das um sie verdient? War er nicht ihr guter Freund gewesen, als sie noch Klara Hildebrandt und eine arme Lehrerin war? Hatte er sie nicht schon damals geachtet und verehrt, so daß er beinahe – aber natürlich nur »beinahe« – erwogen hätte … Und wußte sie denn nicht, daß sie keinen ritterlicheren Freund hatte als ihn? Man erzählte, wie rührend sie sich des verbrannten Judereit annehme; Sylvester sprach sozusagen mit Andacht davon. Und ihn, ihren alten Freund und Hausgenossen, ließ sie ungetröstet daliegen? Als ob es nicht auch für ihn eine Wohltat wäre, ihr ernstes, edles Gesicht zu sehen und ihre sanfte Frauenwürde einmal an seinem Lager zu spüren.

Die alte Lamprecht war ganz hilflos und konnte wenig erwidern. Sie wunderte sich ja selbst. Sie nahm es auch für ihre Person etwas übel. Denn nun, da sie nicht mehr nach drüben zu ihren regelmäßigen Teebesuchen fahren konnte, mußte doch Klara einmal das Verlangen haben, ihre Pflegemutter wiederzusehen …

Sogar Agathe Hegemeister besuchte den Hauptmann.

Der Besuch machte ihm anfangs Spaß. Die Baronin fuhr, natürlich mit ihrer Gerwald, im Auto vor. Das Geräusch des Regens war in der Luft, und von der Traufe, neben dem Fenster, rann ein Wasserstrahl und pladderte in gleichmäßiger Eile hinab auf das Straßenpflaster. Das einfache Zimmer, voll Karten an den Wänden und voll Zeitungshaufen und Schriftstücken auf dem Tisch, mit dem etwas schräg vornübergebeugten Spiegel über dem Waschtisch, gegenüber dem Fußende des Bettes – das war kein Schauplatz für die Eleganz, die hereinkam.

Agathe hatte draußen ihren Regenmantel abgenommen und in Vollerts große Hände gelegt, die aber erst einmal den seidigen, gleitenden Gummistoff fallen ließen, was die Damen in Heiterkeit versetzte.

»Wie kommt der Glanz in meine Hütte!« sagte Likowski und hatte sein Wohlgefallen an dem hellblauen, die üppige blonde Frau knapp umspannenden Schneiderkleid. Er dachte: selbst für mich ist es ihr der Mühe wert, sich schön zu machen – wie angenehm für unser Männerauge, daß es Frauen gibt, die das unschuldige Bedürfnis haben, uns sozusagen was vorzublühen!

Obgleich er ein fröhliches Gesicht in diesem Augenblick zeigte, war Agathe doch tief gerührt. Sie konnte nun einmal keinen Menschen leiden sehen, es tat ihr zu weh!

Ihre ganze Herzensgüte wallte auf, und Likowski sah wohl, daß es gar nichts Echteres geben konnte als dies Mitleid, mit dem Agathe seine Hand streichelte. In ihren blauen schwimmenden Augen sah man den feuchten Glanz einer Träne.

Sie konnte es kaum sagen, wie sie ihn beklage.

Die Damen nahmen Platz. Und Likowski unterhielt sich in guter Laune mit ihnen.

»Wie haben Sie es angefangen, liebste Baronin? Sie sind noch schöner geworden. Und ein wenig schlanker – ganz wenig – aber gerade sehr vorteilhaft so. – Ja und auch Fräulein von Gerwald strahlt? Den Damen bekommt der Sommer mit all dem Regen besser als mir – im Grunde verdank’ ich dem verfluchten Regen mein Malheur. Verehrte Freundin, wenn Sie morgen lesen: der Krieg ist erklärt, so kaufen sie gleich einen Trauerkranz für einen, der es nicht überleben wird, zu Haus bleiben zu müssen.«

»Ach,« sagte Agathe, »Wynfried meint, es wird nichts draus.«

Wynfried? Schlankweg Wynfried? Aber Likowski stutzte nur eine Sekunde. Agathe war eng befreundet mit Klara; warum sollte ihr der Name von Klaras Gatten nicht so vertraut und leicht auf den Lippen liegen? Es gab überhaupt in ihrem geselligen Kreis viele, die aus Gewohnheit sagten: »der Geheimrat« und »Wynfried Severin«, um Vater und Sohn bequem zu unterscheiden, und den Namen Lohmann wegließen.

 

»Wie geht’s denn Ihrer Freundin? Sie läßt sich bei mir nicht sehen. Sagen Sie ihr, daß es mich kränkt und schmerzt.«

»O – es geht ihr gut, höre ich.«

»Hören Sie? So was sieht man doch.«

»Ja denken Sie,« sagte Agathe, und ein leichtes Rot breitete sich über ihr Gesicht, »das ist schon einfach komisch! Seit Wochen verfehlen wir uns, mit tödlicher Sicherheit. Dreimal bin ich bei Klara gewesen und stets vergebens. Mal war sie zu Besorgungen nach Hamburg, einmal war sie mit ihrem Mann bei Stuhrs eingeladen, einmal lag sie mit Kopfschmerzen zu Bett. Und sie ihrerseits hat mich auch verfehlt. Die kleinen Essen, die der Geheimrat sonst gern mochte, sind seit Wochen nicht mehr gewesen … er soll sich angegriffen fühlen. Mal war ich eingeladen, als ein paar Großindustrielle da waren. Schweden und Finnländer – ich kann nicht Schwedisch, und englisch zu sprechen, ist mir verhaßt. Man hat mich in meiner Jugend zu viel damit geärgert. Neulich lud ich das Ehepaar ein – sie konnten nicht, weil der Geheimrat gerade Geburtstag hatte.«

»Das nennt man Pech!« gab Likowski zu.

Und ganz eilig und unaufgefordert versicherte Fräulein von Gerwald: »Es tut Frau Baronin wirklich sehr leid.«

Gerade hörte man auf der Straße ein dumpfes Dröhnen, und das hielt vor dem Hause an.

»Mehr Besuch!« sagte Agathe, »gewiß Stuhr.«

Aber es war nicht Ediths nervöser und sorgenvoller Vater, sondern Wynfried Severin kam herein. Schön, heiter, ein Mann von Lebensfreude wie umglänzt.

Und nach einer Minute schon hatte der Hauptmann das peinliche Gefühl: dies Zusammentreffen sei vielleicht kein Zufall. Agathe war unruhig wie ein Backfisch und kicherte und strahlte. Und Wynfried küßte ihr die Hand und fragte, wie den Damen der Ausflug neulich bekommen sei, und erzählte dem Hauptmann, daß er das Glück gehabt habe, die Damen in Hamburg zu treffen, gerade als er ins Hotel Atlantic ging, um dort zu speisen. Da habe er denn den Vorzug gehabt, mit ihnen essen zu dürfen. Und als sie aufbrachen, stießen sie in der Tür auf Stuhr. – Aber Likowski wisse wohl schon davon, Stuhr habe es sicher erzählt …

»Nein,« sprach der Hauptmann kurz, »Stuhr ist kein Klatschweib.«

Mit wachsamen Augen und Ohren lag er da. Und er erkannte wohl, daß in Agathens schwimmenden Blicken der Glanz war, den die gierige Verliebtheit entzündet. Und er hörte wohl, daß in des Mannes Stimme ein Ton herrischer Vertrautheit mitschwang – dieser Paschaton, der gewisse Frauen entzückt.

Diese lachenden, sich und ihn neckenden Menschen, die etwas Festliches an sich hatten und doch voll unbegreiflicher Unruhe zu sein schienen – als könnten sie vor Heiterkeit mit keinem Gespräch zu Ende kommen und vor Nervosität nicht zwei Minuten still sitzen – sie verstimmten ihn tief.

Als Agathe gekommen war, hatte es ihm etwas Zerstreuung bedeutet. Als sie nun zu dritt gingen – nicht ohne daß Wynfried den Hauptmann laut beneidete um das Mitleid dieser holden Gönnerin – blieb er finster zurück.

Das hatte ihm nicht gefallen – nein – nein. –

Es müßte sich jemand finden, der Klara sagte: paß auf!

Aber so jemand findet sich nie. Aus Feigheit, aus der Gewohnheit, »konventionell« und »formell« sich zu betragen, mischt man sich nicht ein. Sagt einer Mutter nicht: Dein Sohn ist in moralischer Gefahr. Sagt einer Frau nicht: Gib acht auf deinen Mann. Sagt einem Manne nicht: deine Frau macht dich zum Gespött. – Zusehen ist schicklicher.

»Nun, ich werde dieser jemand sein – sobald ich Gelegenheit habe!« schloß er mit festem Vorsatz seine Betrachtungen.

Die Doktorin Lamprecht kam herein. Sie wollte ihre ausführliche Kritik des geräuschvollen Besuches vom Herzen heruntersprechen, und besonders hatte es ihr mißfallen, daß Wynfried mit den Damen davonfuhr und sein eigenes Auto wegschickte – »als wenn’s zum Jahrmarkt gegangen sei,« hatte sie das Betragen gefunden.

»Gottlob, daß es noch Menschen gibt, die sich der Zeit zum Trotz amüsieren können,« sagte Likowski abweisend.

Aber diesmal ließ sich die eifrige Alte nicht wegscheuchen. Sie mußte sprechen. Das war bei ihr auch eine Funktion, die sich nicht zurückhalten läßt.

»Liebster, bester Herr von Likowski,« raunte sie, »ich klatsche nie – aber was jetzt die Leute sagen, geht mir doch zu nahe.«

»Sie wissen, Lamprächtige – hab’ keine Spur von Neugier …«

»Dies interessiert Sie auch. Es geht Klara an … Man spricht davon, daß – daß Wynfried und die Hegemeister – wenn er verreist – verreist sie auch. – Und er ist manchmal allein auf Lammen – aber nicht mit seinem eigenen Auto sagen die Leute.«

»Sagen Sie den Leuten wieder, daß sie ihre Nase in ihre eigenen Angelegenheiten stecken sollen,« befahl Likowski.

Und die Alte dachte bekümmert, daß ein Hagestolz doch für gewisse Dinge kein Gefühl übrig habe. Diese Teilnahmslosigkeit – denn es ging doch Klaras Leben an – kränkte sie schwer.

Gegen Abend saß Marning am Bette des Freundes. Er fand ihn sehr erregt. Sollte man es nicht sein? grollte der Hauptmann. Morgen wurde der letzte Verband abgenommen. Die Massage und die Gehversuche würden beginnen – es war vom Professor das Wort »Wiesbaden« ausgesprochen. Und ganz gewiß – morgen würde es offenbar werden, davon war er überzeugt – sein linkes Bein sei mindestens eine Handbreit zu kurz. – Marning schwor ihm zum unendlichsten Male zu, daß es nur zwei Zentimeter seien, und daß der Professor gesagt habe: die glichen sich von selbst aus. Nicht einmal steifer oder nachschleifender würde es werden.

Aber das war es nicht allein – andere Dinge hatte Likowski gelesen: in England waren die Menschen wie verrückt: glaubten einen Zeppelin in nächtlicher Dunkelheit über London gesehen zu haben. Und in Frankreich – diese Empfindlichkeit, dieser anmaßende Ton … Und die Wunder unserer Disziplin! Als ob es nicht den Männern an der Grenzwacht in allen Nerven zuckte.

»Sie haben noch mehr!« sagte ihm Marning auf den Kopf zu.

»O ja – ich merk’, Sie kennen mich – ja schmerzen tut’s mich – daß die junge Frau von drüben nicht kommt. – Und da wären so allerhand Gründe … möcht’ mal mit ihr eins schwatzen – mal sehen, wie weit man mit dem Gespräch sich wagen kann …«

Stephan saß schweigend und blaß.

»Und kurz und gut – sagen Sie’s ihr nur geradezu – es sei keine Sache, einen alten Freund in trüben Tagen zu vernachlässigen.«

Plötzlich fiel ihm was auf. Er wurde noch lebhafter: »Herrjes – wie ist mir denn? Sie sind ja wohl lange nicht mehr drüben gewesen?«

»Nein, lange nicht.«

»Aber jetzt gondeln Sie mal ’rüber und bestellen ihr …«

»Gewiß, gern – gelegentlich,« sagte Stephan ausweichend. »Sie wissen doch: wir mögen den jungen Herrn Lohmann nicht. Und da der alte Herr jetzt nicht einlädt, komm’ ich nicht hinüber.«

Zu seiner Erleichterung ließ der Hauptmann das Gespräch völlig fallen – lag grübelnd, mit bösem Gesicht da.

Er dachte: »Wenn man doch die Wahrheit erfahren könnte! Ob Marning auch von dem Klatsch gehört hat? Deshalb nicht mehr ’rüberfährt?«

Fragen wollte er nicht. Das war so eine von den Sachen, die man nicht zart genug behandeln kann. –

Er fühlte. »Ich muß bald wieder auf dem Posten sein! In jeder Hinsicht – man ist doch kein Überzähliger! Gottlob nicht. Und könnt’ sein, daß da drüben die junge Frau auch mal ’n Freund braucht …«

Vom nächsten Tage an schien er aber nur noch an sich zu denken. Erst natürlich wetterte er über die Maßen herum, daß sein Bein nicht bloß eine Handbreit, nein daß es um die Hälfte verkürzt sei und die Knochen wie von Glas. Zuzutreten schien ein Ansinnen, als solle er’s gleich noch mal brechen. Aber mit viel Geräusch und ungemeiner Energie kam er vorwärts. Er fing an, zu hoffen, zu glauben. –

Der furchtbare Regen, der tagaus, tagein herniedersickerte, hatte das rechtzeitige Abernten der Felder unmöglich gemacht. Die Manöver mußten teilweise verschoben und teilweise abgesagt werden. So behielt Likowski die Kameraden um sich. Der Major im Stabe, der die beiden Kompanien führte, ließ zum Ersatz ganz besonders große Marsch- und Felddienstübungen unternehmen, deren Anlage und Verlauf Likowski dann am Abend mit den ihn besuchenden Kameraden besprach.