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Er kannte hier alles genau – oft und oft war er hier umhergegangen – allein – mit dem Generaldirektor – mit einem der Ingenieure oder der Chemiker. Sein Interesse war unersättlich, sein Verständnis ein so rasches, als habe seine ganze Intelligenz sich von jeher darauf vorbereitet, diesen Stoff aufzunehmen. Wie es vielleicht immer ist, wenn Menschen von ihren überkommenen Bahnen aus plötzlich den Blick gewinnen auf ein Gebiet, dahin sie sich berufen gefühlt haben würden, wenn sie es gekannt hätten.



Heute aber war das Bild doch verändert. Nicht all der zischende Wasserdampf zog gleich frei hinauf zur Höhe – viel von diesem weißen Gewölk schlich sich um die Eisenträger, unter den Bahnen und Rohren, zwischen den Bauten hin. Der starke Feuerschein, vom beschädigten Ofen her, glänzte unheimlich über das Gelände hin.



Er wußte auch, wo die Rettungsstation war. Wenn die junge Frau dem Verunglückten beistand, mußte sie dort sein.



Vor der Tür traf er vier Männer. Sie warteten in bedrücktem Schweigen, mit finsteren Mienen. Das Mitleid fraß an ihnen und das Bewußtsein von der Bedrohlichkeit ihrer Arbeit.



»Wir sollen ihn ’rüber bringen,« sagten sie.



In der Kolonie Severinshof gab es doch das kleine Krankenhaus mit den vollkommenen Einrichtungen.



Stephan zauderte – durfte er eintreten? Er fühlte: ja! Nicht nur, weil die Bitte des alten Herrn ihn trieb. Er war Offizier. Es lag ihm im Blute, sich nach einem Gefallenen liebevoll umzutun.



Er öffnete die Tür.



Und er und die finster wartenden Männer sahen es alle: – Da drinnen kniete eine junge Frau und küßte die berußte, schmerzverzerrte Stirn des Verunglückten. –



»So,« sagte Doktor Sylvester, »nu faßt an – aber leise, – leise – schwebt sozusagen – geht auf Eiern. – Schwester Ludmilla hat schon telephoniert – alles bereit drüben.«



Der Verunglückte schloß die Augen, sein Wimmern zitterte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor …



Und wie die vier schwer tragenden Männer mit ihrer düsteren Last davonschritten, stand Klara und lehnte ihre Stirn gegen die zusammengepreßten Hände an der hellen Wand.



Draußen packte Doktor Sylvester, ehe er der Tragbahre folgte, den Arm Stephans.



Er raunte: »Ich will Ihnen mal was sagen – es gibt noch edle Frauen! – Und den Mann mach’ ich gesund – wenn Gott uns nich ganz verläßt – dem Tode aus ’m Rachen reiß’ ich ihn. – Ja …«



Stephan trat über die Schwelle. Gefaßt und erhoben.



»Edle Frau,« dachte er – »edle Frau –«



Sie hörte ein Geräusch – sie hatte gedacht, sie sei nun allein. – Sie brauchte ein paar Minuten der Sammlung. Der Schreck, das Entsetzen – das Geheul des armen Menschen – und der betäubende Geruch – Jodoform – verbranntes Fleisch – furchtbar! – Sie war wie benommen. – Von der Nähe des Mannes hatte sie keine Ahnung. – Nun schreckte ein Schritt sie auf, der hinter ihr anhielt. Sie löste sich von der Wand, an der sie Halt gesucht. Sie wandte sich um, in einer müden Bewegung.



Und erschrak – und erglühte. –



Sie starrten einander an. – Auch er von ihrem Schreck ergriffen. –



Sie faßten sich … Mit all ihrer Kraft.



»Gnädige Frau,« sprach er sehr förmlich, »Ihr Herr Schwiegervater beauftragt mich, Sie heimzugeleiten.«



»Danke,« sagte sie mit kaum hörbarer Stimme – wie eine Zerstreute war sie, die nicht recht bei ihren Worten ist; »danke – ja – Vater –«



»Er war in großer Angst um Sie.«



»O – keine Ursache – gar keine …«



Sie ging auf die Tür zu. Hielt sich am Pfosten. Raffte sich abermals auf und schritt hinaus. – Er folgte ihr. – Draußen waren ein paar Leute – sie wichen ehrerbietig zurück.



Und wie sie so dahinging, mit unsicheren Füßen, schwankend, im beschmutzten weißen Kleid, an dem kein Schmuck, kein Zierat auffiel – das Haar zerzaust – das Gesicht bleich, von der Erregung mit scharfen Linien durchzeichnet – da hätte man sie wohl eher für das Weib des Verunglückten halten können als für die Herrin dieses Werkes.



Und die von den Arbeitern, die sie sahen, fühlten es: der Schlag, der einen von den Ihren hingestreckt, der hatte auch diese junge Frau mitbetroffen.



Und deshalb sahen sie sie mit tiefen Blicken an …



»Ich darf Ihnen meinen Arm geben,« sprach er. »Sie können ja kaum …«



»Eine Minute …« flüsterte Klara.



Nein, so nicht vor den Vater treten – er würde sich entsetzen. – Fassung – Haltung …



»Eine Minute,« sagte sie noch einmal.



Und an seinem Arm ging sie ein paar Schritte in den Knickweg hinein, der auf die Straße mündete. –



Da, zwischen den ragenden Wänden der hohen Büsche, die ineinander verflochten, vom Gerank des Caprifoliums durchwirkt, auf den Erdwällen sich hinzogen – da war Ruhe. – Die Sommernacht wohnte hier – und die schwarzblaue Höhe droben über allem Irdischen tröstete. – Vom Werk her kam ein blasser Schein. – Sie konnten einander deutlich erkennen – jeden Zug der Angesichter.



Sie strich sich über die Augen – mit schwerer Hand.



Dann hob sie den Blick zu ihm … Sie sahen sich an – lange.



Und langsam kam das Entsetzen über sie.



»Nein …« stammelte das junge Weib – »nein … nein!«



Und sie streckte ihre Hand abwehrend gegen ihn aus …



Nicht wissen, was in der eigenen Seele gleich wahnwitzigem Glück, gleich rasender Verzweiflung aufging. – Nicht wissen, nicht hören, was die seine betäubte …



Stark daran vorüber! –



»Eine Frage,« sprach er leise – kaum seiner Stimme mächtig – »eine Frage! – Ich gehe von hier – sobald ich kann – aber eine Wahrheit muß ich hören! – Sagen Sie es mir – geben Sie mir dies Wissen mit … Warum haben Sie ihn geheiratet –«



Und sie fühlte: er war der einzige Mensch auf der Welt, der diese Frage an sie stellen durfte – er der einzige, dem sie Antwort geben mußte.



Sie faßte sich.



»Aus Dankbarkeit!« sprach sie klar. »Nicht weil der reiche Mann mir zehn Jahre lang Unterhalt und Bildung gab. – Nein. – Er hat mehr an uns getan. – Er hat meine Mutter geliebt – und vor ihrer Würde seine Leidenschaft bezwungen – mein Vater hat sein Vertrauen verraten – ihn um Hunderttausende geschädigt – sich erschossen. – Und er hat den Schimpf vom Grabe meines Vaters und die Schande vom Leben meiner Mutter ferngehalten … Deshalb bin ich seines Sohnes Frau geworden …«



Er hörte – und über sein bleiches Gesicht ging eine tiefe Bewegung.



»Edle Frau!« sagten seine Gedanken wieder, »edle Frau –« ein halbbewußtes Echo der Worte, die ein anderer gesprochen. –



Nun konnte er gehen – hinaus in ein einsames Mannesleben voll Entsagungen.



Aber er nahm ein reines Bild mit.



Dennoch – er war ein Mensch – ein junger Mann – und die starke Liebe, die sein Herz erschütterte, rang um ein wenig Hoffnung …



»Ehen lassen sich lösen –«



Vom Werk her kamen die tausend Stimmen der Arbeit. Sie vermengten sich zu einem dumpfen Getön – gedämpft, zuweilen fast sanft.



Die junge Frau horchte – hob ein wenig ihr Haupt – als wolle sie mit allen Sinnen diesen Klang aufnehmen. War es nicht, als sei es eigentlich die Stimme des alten Mannes, der sie liebte und ihr vertraute? Redete er ihr raunend zu: »Verlaß uns nicht mit deinem Herzen! Nicht mich, der dies Werk schuf, nicht deinen Sohn, der es einmal lenken soll« –? Zitterte in den brausenden Dämpfen ein Ruf mit, der an ihren Mut erging? Klang in all dem Krachen und Stoßen und Rasseln, das vereint und gemildert herüberkam, nicht ein stolzer Rhythmus? Umschmeichelte es sie nicht wie ein tröstliches Lied?



Sie erbebte. Und ihre Seele sagte den mahnenden Stimmen: ich höre – ich höre …



Da sie schwieg, sprach er es noch einmal aus: »Ehen lassen sich lösen –«



»Die meine nicht und nie!« sprach Klara. – Und ihre Fassung wollte zerbrechen …



»Ich wußte, was ich tat. – Liebe vielleicht kann enden. – Aber Pflicht nie – wenn sie allein der Inhalt einer Ehe war und ist – und – immer sein wird. – Und ich will eher sterben, als daß ich meinen Vater verließe und mein Kind …«



Sie schluchzte auf … Sie streckte ihm die Hand hin. –



Er begriff, es hieß: Lebewohl!



Er nahm die Hand und hielt sie lange.



So standen sie im Helldunkel der Sommernacht.



Und sie gaben einander durch diesen festen Händedruck den Mut und die Würde, in Reinheit zu entsagen.



Dann löste sie ihre Hand aus der seinen – schonend – leise.



Und er ging. –



Einige Minuten später schritt Klara mit müden Füßen langsam die Straße dahin, zurück nach dem Hause.



Der Hauptmann von Likowski begegnete ihr. Er war erstaunt.



»Da schickt der Herr den Jochen hin,« zitierte er. »Wo ist der Marning, der Sie suchen soll? Und hier bin ich, der Sie und Marning holen soll. Der alte Herr is was nervös – o jeh. – Na und Sie, Frau Klara …«



Er griff zu. Ihm schien denn doch, als sei sie zu unsicher auf den Füßen und gleiche einer Nachtwandlerin.



In seiner väterlichen Art legte er einfach ihren Arm in den seinen … Sie konnte nur schweigen. –



»Wir haben den alten Herrn ins Haus gekriegt – ich hab’ einfach selbst den Stuhl geschoben. – Na, wenn er Sie nur erst mit heilen Gliedmaßen wiedersieht –«



Ja, da war er dann auch ruhig – er streichelte Klaras Hand und sah sie an und fand ihr Gesicht blaß und scharf. – Aber er schalt nicht. – Er dachte sich wohl, was ihr Gemüt erschüttert hatte. – Auch ihm, dem Manne, erbebte das Herz, wenn ein Arbeiter erschlagen ward von der Riesenfaust des Eisens und des Feuers.



»Mein Kind!« sagte er nur zärtlich, »mein Kind!«



Und dann fragte er noch: »Wird er leben bleiben?«



»Sylvester hofft es.«



»Ist es ein Verheirateter von Severinshof?«



Klara wußte es nicht.



Da mischte sich Leupold ein, der mit den Händen am Griff des Fahrstuhls bereit stand, um seinen Herrn in den Lift zu schieben.



»Nein. Georg hat gehört, er heißt Judereit und sei ein wilder Kerl –«



»Möchte er gerettet werden,« sprach der alte Herr leise vor sich hin.

 



Aber nun wollte er zur Ruhe. – Was? Gerade schlug die Uhr auf der Diele. – Einen Schlag? Dunkel und volltönig? Halb eins! Wo blieb nur Wynfried?



Likowski verabschiedete sich. Und er sagte, er müsse doch zunächst noch seinen verlorengegangenen Oberleutnant aufgabeln. Und wettete, daß der, wieder vom Werk hypnotisiert, sich nicht trennen könne. –



Wie sehnte die junge Frau sich nach Einsamkeit.



Und ganz merkwürdig ging es ihr kurz durch die Gedanken – wie ein Erstaunen: ich bin ja nie allein. – Ihr Eigenleben war wie erdrückt und verdrängt von dem Leben um sie herum …



»Gute Nacht, Vater!«



Sie neigte sich zu ihm und küßte seine Stirn, wie jeden Abend.



In ihrem Zimmer hatte sie noch nicht begonnen, ihr Haar zu lösen, als es klopfte – sie erschrak. – Warum? Ihr Mann mußte doch endlich heimkommen.



»Darf ich dir noch Gute Nacht sagen, Klara?«



Und er trat ein.



»Agathe läßt dich vielmals grüßen. Es hat ihr sehr leid getan, daß du nicht mit kamst. Die Fahrt war herrlich. Nur zuletzt starke Flaute. So wurde es spät,« sprach er.



»Wie gut, daß ich hier blieb. Weißt du denn nicht …?«



Sie beschäftigte sich vertieft mit einer Schatulle, die auf ihrer Kommode stand.



»Fatal. Ja. Wir hörten schon in Travemünde von einem Malheur. – Durchbruch – na ja – ziemlich aufregende Geschichte. – Und in diesem Moment Produktionsverminderung, wo wir gerade mit Direktor Malzan morgen Lieferungen abzuschließen hofften –«



Wie merkwürdig – das Leben mit all seinem tausendfältigen Inhalt ging weiter – wie jeden Tag. – War es denn nicht ein neues und von Grund aus erschüttertes geworden, seit jenem letzten Blick und Händedruck?



Wynfried war unruhig – anders als sonst. Sie begann es zu spüren. Seine Worte liefen so – als flöhen sie am liebsten schnell an dem Schrecken der Dinge vorbei. Wie begreiflich war es ihr! Ein Menschenleben durch den Dienst auf dem Werk gefährdet. – Aber wie sonderbar – er wußte es doch wohl nicht – er sprach so unnötig lang und breit von dem Schaden, den sie hatten – erwog Zahlen – ging auf und ab in seinem weißseidenen Sportkostüm, daran nichts farbig war als der schwarz-weiß-rote Schlips des Kaiserlichen Jachtklubs.



»Es ist ein Mann sehr schwer verunglückt,« sagte sie und schloß den Deckel der Schatulle, darin sie nichts gesucht hatte, »das weißt du wohl noch nicht.«



»Doch, doch,« sprach er, »aber es ist zum Glück keiner vom alten Stamm – bloß Judereit – ein Wasserpolack – kenn’ den Kerl zufällig – war neulich dabei, als er von Thürauf in Person verdonnert wurde – war in wahnsinniger Verliebtheit zu dreist gegen ein Mädel von Severinshof geworden. – Der Vater hatte sich beschwert. – Der Judereit wollt’ sie zum Weib – sie will aber nicht. – Ja, die Leute haben auch ihre Romane.«



»So leidet er tausendfach,« sprach sie.



»Na nu – so schroff?«



»Verzeih. Ich bin zum Umfallen müde. – Und es war so aufregend …«



»Also denn gute Nacht.«



Und er küßte ihr die Hand – sehr ritterlich – mit Allüren, als sei hier ein Salon, in dem sich eine feierliche Gesellschaft dränge. –



Als die junge Frau sich endlich in ihrem Bett ausstrecken konnte, war es ihr wie eine Beglückung.



Allein – feierliches Dunkel – kühles Leinen um die erschöpften Glieder.



Das tat wohl.



Und denken können – denken! …



Aber ihre Gedanken zerrannen. – In eherner Gewißheit stand ihr Schicksal vor ihr.



Aber sie fühlte: es war nicht klein!



Ihr Dasein hingebend, hatte sie große Dankesschuld abtragen dürfen: Der herrliche Mann, nun ihr Vater, war beglückt – durch sie, durch seinen Enkel.



Dies Bewußtsein gab Halt und Frieden.



Ihrer Ehe fehlte die Liebe. Aber der Bund war ja nicht aus Liebe geschlossen. – Sein Inhalt hieß: sittliche Pflichten, Wahrhaftigkeit – Treue – dieser Inhalt war unumstößlich! – Die Gründe, um derenwillen sie sich mit Wynfried verbunden, bestanden fort.



Sie dachte an den anderen Mann.



Nun wußte sie es. – Sie hatte ihn immer geliebt. – Von jenem ersten Tage an, da sie im Regen und Sturm zusammen übers Wasser fuhren.



All diese dumpfe Bedrängnis ihres Herzens, all diese geheime Angst – es war die Furcht vor dieser Liebe gewesen.



Einen Augenblick wünschte sie: hätte ich nie begriffen –!



Aber nein – nein – lieber leiden und kämpfen, als auf dies Wissen verzichten.



Sie sah ihn wieder vor sich, im Helldunkel der Sommernacht.



Nur seine Augen hatten gesprochen.



Und wie ihm seine Ehre und die ihre heilig war! – Sie fühlte es in beseligender Erschütterung.



Ihr Herz war erhoben in Dank und Glück.



Wie deutlich erlebte ihr Gedächtnis noch einmal das erste Begegnen.



Da fiel ihr etwas ein. – Sie drehte das Licht auf. – Sie glitt aus ihrem Bette. – Hinten, tief im Schubfach ihrer Kommode gab es ein weißes Paketchen – es umschloß eine blaue Mütze und eine beschriebene Karte. – Klara wußte nun, weshalb sie diese kleinen, geringen Dinge aufgehoben hatte. – Und weil sie es wußte, durfte sie sie nicht behalten.



Sie holte sie hervor – sie ging an den Kamin und knüllte Papier und die Wollhäkelei zusammen und warf sie auf den Rost – ganz hinten an die Rückwand des Feuerloches.



Da war auch noch die Karte – sein Name – wenige, förmliche Zeilen von seiner Hand.



Klara sah lange diesen teuren Namen an – las ihn – als enthielten diese Buchstaben die Geschichte seines Lebens, ihres Lebens und – ihrer Liebe.



Sie hob das Kärtchen – zauderte ein wenig – und leise, leise hauchte sie einen Kuß auf die Schrift.



Und zerriß das kleine Blatt –



Und gleich darauf loderte in der Tiefe des Kamins ein kurzes Feuer auf.



»Lebewohl!« dachte sie, »lebewohl!«



Wieder war Dunkelheit um sie. Und sie weinte in ihr Kissen hinein. – Weinte um einen ihr Toten, der ihr nicht gelebt hatte; um einen ihr Verlorenen, der ihr nie gehört.



Aber dennoch war sie zugleich erfüllt von einem tröstlichen Wissen.



Auch ein Schmerz, wenn keine Schuld ihn belastet, kann ein Glück sein.



9

Der Major im Stabe, der den beiden Kompanien zur Führung beigegeben war, hatte in sehr dringlichen Familienangelegenheiten zu ungewöhnlicher Zeit kurzen Urlaub erbitten müssen, und nun stand dem Hauptmann von Likowski als dem Rangältesten die Herrschaft zu über dies Bruchstückchen der gewaltigen Armee.



Es war Montag, und von Travemünde aus hatten die Jachten ihre Wettfahrt nach Warnemünde angetreten. Hafen und Meeresbucht lagen verlassen. Das rauschende Leben vom Sonntag, wo ein internationales Publikum sich in Travemünde gedrängt, schien verhallt. Auch Likowski hatte mit einem Kreis von Bekannten teilgenommen; nach einem am Strande und bei der Kurmusik verbummelten Nachmittag war auf der Kurhausterrasse ausführlich soupiert und getrunken worden. Lübecker Rotwein. Famos! Aber zwei Sorten Sekt – deutschen und französischen. Vom Übel! Denn das konnte Likowski merkwürdigerweise nie vertragen. Seine Magennerven wollten: entweder, oder!



Erst auf dem Marsch zur Felddienstübung wurde ihm wieder lichtvoller unterm Schädel.



Ein Gewitter war gegen Morgen am Himmel entlang gezogen. Aber das kam noch wieder. »Datt kann nich öber Water,« sagte der Fährmann Sörensen. Nach Westen nicht über die Nordsee und nach Osten nicht über die Ostsee. Sörensen stellte es sich so vor, als irre Gewittergewölk pendelnd über Holstein zwischen zwei Meeren so lange hin und her, bis es sich irgendwie zur Höhe verkrümelte. Jedenfalls: Kühlung war nicht eingetreten.



Schwer troffen Busch und Gräser von Perlen in kristallenem Glanz. Auf der Landstraße war jede flache Furche ein Kanälchen, jede kleine Vertiefung eine Lache geworden. Von kräuterigen und moosigen Dünsten war die feuchte Luft gesättigt, und im gebadeten Wald schien sie unbeweglich zu stehen. Am blauen Himmel trieben da und dort träge und trächtig dicke Wolken einher – weiß und grau. –



»Helm ab!« wurde kommandiert, als die Soldaten unter den Wipfeln der Hohenmeiler Tannen hinstapften. Sie sangen. Munter klang das Marschlied. – Nun lag die Felddienstübung schon hinter ihnen. Ehe die ermüdende Luft von der Mittagsonne durchschwelt wurde, würde man unter Dach und Fach sein.



Likowski, in Generalfeldmarschallhaltung, ritt gelassen vorne. Neben ihm der Oberleutnant, der heute auf dem Heimweg auch beritten war. Denn Likowski wollte seinen zweiten Gaul, eine Neuerwerbung, gern beobachten. Es war ein Stichelrappe, und er schien schon durch diese seine Eigenschaft durchaus unkleidsam für einen Kompaniechef. Bei den sonstigen vorzüglichen Qualitäten des Pferdes wollte nun Likowski einmal sehen, wie er wirke, ob es gehe, ob er ihn lieber gleich weiterverkaufen müsse.



Leutnant Hornmarck marschierte, den Säbel in der mit braunen Glacéhandschuhen bekleideten Hand, neben der Kompanie. Mechanisch – denn nun, da die Übung vorbei war, kamen seine geheimen Liebessorgen auf das dringlichste zurück. Und diese entnervende Gewitterluft im verregneten Wald machte es ihm zur Gewißheit, daß er an seiner Doppelliebe scheitern und weder Edith noch Finchen erringen werde! Aber das Drama würde durch höhere Gewalt bald ein Ende finden! Es gab Krieg! Diesmal sagte es nicht nur der Hauptmann, sondern ganz Deutschland fürchtete es. – Er hoffte dann wenigstens das eine, daß beide Mädchen zusammen um ihn weinen und sich im Andenken an seinen Heldentod versöhnen würden. –



»Ja,« sprach Likowski zu dem neben ihm Reitenden, »selbst der Geheimrat sagt, es wäre für die Industrie und den Handel zwar furchtbar – aber der ewige Druck wär’ auch schädigend. – Und dann besser endlich mal die Entscheidung. Nun, wir sind bereit! Wie der Kaiser befiehlt und das Volk will! Ich sage nicht: Siegen oder sterben. Ich sag’ nur: Siegen! Merken Sie wohl, wie mit einem Male das Volk sich wieder näher an uns ’ran fühlt? Wie es uns interessierter nachsieht? Wie alles vibriert? Man spürt’s an dem Landvolk hier herum. – Gestern in der Menge war’s zu merken. – Auf den Dampfern sind die Leute wie toll gewesen. – ›Deutschland, Deutschland über alles‹ haben sie gesungen, als die Schiffe um die ›Hohenzollern‹ kreisten. – Ein Jubel zum Kaiser empor! Er soll ganz erschüttert und blaß gewesen sein.«



»Es ist wohl kein Zweifel mehr,« gab Marning zu.



»Daß wir es nun endlich erleben!« sagte der Hauptmann bewegt. »Seit ich denken kann, hab’ ich davon geträumt. – Meine Mutter hat mir’s, ihrem Jüngsten, eingeimpft: ›Werde ein Held! Deines Vaters, meiner Ahnen würdig‹. – Mein Vater hatte das Eiserne erster – starb an den Folgen seiner Verwundung – hat aber doch noch nach dem Kriege, trotz Schmerzen und Beschwerden, zehn Jahr weiter dienen können. – Dann ging’s nicht mehr, und er siechte langsam hin. – Meine Mutter hat ihren Vater und drei ältere Brüder verloren Siebzig – sie war ’ne ganz junge Frau – ihr erster Junge war unterwegs. – Ja, wir wissen’s – das kostet unser Blut! Nun, wir sind Soldaten!«



Und ein ruhiger Stolz verschönte sein Gesicht.



»Was werden Sie sagen, Likowski, wenn ich nachher mich dienstlich bei Ihnen melde mit dem Wunsch, daß ich um meine Versetzung einkommen will?« sprach Stephan langsam. Er hatte Sonnabend und Sonntag hindurch diese Frage begrübelt.



Er wußte es wie jedermann es wußte und las: eine ungeheure Spannung lag über Europa, und die Völker standen Gewehr bei Fuß. In einem solchen Augenblick werden Versetzungen nicht nachgesucht – nicht leicht bewilligt. – Aber es mußte sein …



Likowski war starr.



»Wa–as …?«



»Ja, ich will dringlich um meine Versetzung bitten,« sprach Marning. Er war sehr entfärbt – graublaß flog ein Schein über sein bräunliches, verbranntes Gesicht.



»Ich versteh’ immer: ›Versetzung!‹« sprach der Hauptmann, blöd tuend.



»Bitte, Likowski – verzeihen Sie mir.«



»Mensch! Kam’rad! Marning! Freund! Nee – das is doch Unsinn. – Verset – Aber nee. – Wieso denn, warum denn? In dieser Zeit noch obenein!«



»Es wird mir schwer, Sie zu verlassen, unsere Kompanie. – Dies gesammelte Leben in Dienst und Natur und das gewaltige Werk und den bedeutenden alten Mann da drüben. – Verzeihen Sie mir. – Es muß sein. Ich will einen sofort anzutretenden Urlaub nachsuchen und würde dann, wenn inzwischen meine Versetzung genehmigt wird, nicht erst hierher zurückkommen.«



Seine Stimme klang gedämpft. Sie war von einer solchen Festigkeit durchgeistigt, daß der Hauptmann wohl spürte: es war Ernst. Aber so rasch wollte er sich nicht ergeben. Er hatte seinen Oberleutnant noch über das Kameradschaftliche hinaus liebgewonnen.



»Sehn Sie mal, Marning,« begann er, »alles Persönliche muß doch in solcher Zeit hintanstehen. Bedenken Sie: jeden Tag kann der Befehl zur Mobilmachung kommen.«



»Ich glaube nicht, daß es vor dem September was wird. – Sie meinten es doch neulich auch, in der Marine heiße es: im Herbst läge es günstiger für uns. Aber wenn auch – es ist doch für einen Soldaten gleich, wo und wann ihn der Ruf trifft – er hat zu folgen.«

 



Der Hauptmann schüttelte den Kopf.



Diese Dringlichkeit, wegzukommen – nicht mal die Versetzung abwarten – gleich auf und davon in Urlaub. – Was war denn los? – Aber er fragte nicht. Er sprach nur: »Nee hörn Sie mal – das kann ich nich so gleich fassen. – Und dann: Ihr Regiment verlassen! Ihr liebes Regiment – in das Sie als junges Küken eingetreten sind. – Nee Marning –«



»Das läßt sich vielleicht vermeiden. Ich möchte nur die Garnison wechseln.«



»Sie waren so gern hier. Sind erst seit anderthalb Jahren – knapp! – wann war’s doch? Mai vor’m Jahr. – Und nu wieder weg! Auch ohne die gespannte Lage und die Aussicht, daß es bald losgeht: Sehn Sie mal, hier mit uns wird sich ja doch bald alles ändern. Die Einheit der Bataillone soll ja nicht mehr zerrissen sein – wir sind noch von den wenigen, die auf zwei Garnisonen verteilt stehen. Da hängen wichtige Änderungen in der Luft. Entweder kommen die zwei Kompanien aus Dassow zu uns oder wir werden dorthin verlegt –«



»Es muß sein!« sprach Marning mit schwerem Ernst.



Nun schwieg der Hauptmann erst einmal und dachte nach. Es war zu natürlich, daß er seine Gedanken nach irgend welchen begreiflichen Gründen umherjagen ließ. Aber er fand nichts. Ein paar Minuten erwog er wohl: flieht er vor den zärtlichen, werbenden Blicken der molligen Baronin? Nein, vor so ’ner gurrenden Taube läuft doch ein Mann nicht weg! Auch fürs Abwinken findet ein zartfühlender Mann noch ritterliche Formen. Ganz abgesehen noch davon, daß Agathe, wie er manchmal gemerkt hatte, in der letzten Zeit recht dringlich mit Wynfried Severin kokettierte – offener, als es einem verheirateten Mann gegenüber schicklich schien.



Er mußte sich also sagen: wenn Stephan Marning einen solchen Entschluß gefaßt hatte und die Gründe dazu verschwieg, so lag Ernstes vor.



Vielleicht kamen da Dinge ins Spiel, die nichts mit den hiesigen Menschen und Verhältnissen zu tun hatten.



Also – wenn Marning schwieg, so hieß es für den Kameraden: diskrete Haltung! Achtung vor seinem Entschluß, der vielleicht ein schwerer war; keine zudringlichen Fragen.



»Was es auch ist, das Sie von hier forttreibt oder von anderswoher ruft: Sie sagen: es muß sein – da darf ich nur noch schweigen,« sprach er bekümmert.



Ihre Pferde schritten mit nickenden Köpfen ruhevoll. Munter klang hinter ihnen der Marschgesang der Soldaten. Der durchfeuchtete Wald stand regungslos in der schwülen Luft.



Stephan rang mit sich. Der kriegerische Mann an seiner Seite war ihm teuer geworden. Er wußte ja: der litt. Heldenblut kochte ungestüm in seinen Pulsen. Und er durfte nichts sein als ein stiller Vorbereiter, ein unermüdlicher Erzieher! – Sollte er ihm nicht ein andeutendes Wort sagen – daß er sich in der Lage befinde, Tapferkeit durch Flucht zu beweisen – ja, es gibt auch solche Lagen – und auch sie fordern stillen Heldenmut. – Stephan fühlte: es war unmöglich! Jede, die fernste Andeutung mußte Likowski die Wahrheit erraten lassen. –



Unmöglich. –



Mit sachlichen und ruhigen Reden erwogen sie, ob wohl Aussicht sei, daß das Kabinett jetzt ein derartiges Gesuch genehmige. –



Nun zogen die Kompanien auf der Landstraße dahin, die als durchnäßtes Band zwischen begrasten Rainen und regelmäßig angepflanzten Bäumen dalag.



Zuweilen spritzte das Wasser unter den Pferdehufen auf. Und mit einem Male stockte das munter-gelassene Marschieren der langen Schlange von Soldaten. – Vorn das Pferd des Hauptmanns? Hatte eine Versenkung es verschlungen? Was war geschehen?



Die Landstraße schien ja stellenweise wie mit Spiegelscherben beworfen – so stark gleißten die stechenden Sonnenstrahlen auf den Wasserlachen und gefüllten Furchen. Und eine von diesen seichten breiten Lachen hatte unter ihrer blinkenden Fläche ein vertracktes, tiefes Loch verborgen gehalten. Da trat der Gaul hinein – es war ein ganz ungeahntes Niederbrechen, ein Sturz wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Und es riß den Reiter mit. Über den Kopf des Pferdes weg wurde er geschleudert. Im Husch des Geschehens hatte er noch seine Füße aus den Steigbügeln lösen wollen – nur dem Linken war’s gelungen.



Nun lag er in einer ganz verbogenen, unglückseligen Verschiebung der Gliedmaßen da.



Das war in der Zeitdauer von ein paar Herzschlägen geschehen. – Schon stürzte alles herzu. – Stephan schwang sich vom Pferde – kniete neben dem Hauptmann – wollte ihm aufhelfen. – Hornmarck griff zu – von der zweiten Kompanie kamen im Laufschritt die Offiziere – kräftige Fäuste brachten das Pferd in die Höhe – es war unbeschädigt.



Aber da lag Likowski, und sein frisches Gesicht war weiß, seine Lippen blau, und als er sich rühren wollte, seinen Körper den helfenden Händen entgegenbietend, da brach kalter Schweiß aus seinen Poren, und in einer kurzen Ohnmachtsanwandlung sank er zurück. – Die singenden Töne in seinen Ohren verstummten aber rasch wieder – er wußte, wo er war – was mit ihm war.



»Gebrochen!« stöhnte er. »Verflucht – schändlich …«



Und er biß die Zähne zusammen.



Ja, da war kein Zweifel. Der Hauptmann hatte einen Bruch des Unterschenkels davongetragen.



Mit zornigem Mut ließ er das gleich feststellen. – Seine Lebensgeister waren alsbald in vollster Energie wach. Er übersah seine Lage.



»Und jetzt,« sagte er, »gerade jetzt! –«



Ein solcher seelischer Jammer bebte in seiner Stimme, daß es die Kameraden ergriff. Und Hornmarck, der noch eben über seinen eigenen Heldentod vorweg gerührt gewesen war und schon zwei weinende Mädchen im Geist untröstlich gesehen, erlaubte sich, zu beschwichtigen: »Ach, es geht schließlich doch nicht los!« Wofür er vom Hauptmann einen flammenden Blick des Zornes erhielt.



»Vorsichtig, Kinder!« mahnte er dann. »Faßt mich klug an – ich mein’: egal, wie weh es tut – ich mein’: vorsichtig – daß die Sache nicht schlimmer wird –«



Und dann richtete er sich an Marning.



»Mir ist so: das kann kein komplizierter Bruch sein – Und wenn’s ein simpler ist – was? Der heilt schnell?«



»In vier Wochen,« sagte Hornmarck in nicht umzubringender Naseweisheit, geradezu mütterlich.



Stephan fertigte eine Ordonnanz ab, sie sprengte auf dem zweiten Pferde Likowskis davon. Die Kompanien setzten ihren Marsch fort. Aber sie sangen nicht mehr. Bald war nur noch eine kleine Gruppe auf der Landstraße: der Hauptmann, mit einem zusammengelegten Soldatenrock als Kissen unterm Haupt – Stephan als Wache und Pfleger – ein paar Soldaten, davon der eine in Hemdärmeln. Und die Soldaten schwärmten aus, um von der Waldgrenze große Zweige zu holen, mit denen sie über dem Gestürzten ein kleines Kopfdach improvisieren wollten. Denn die Sonne brannte durch die feuchte Schwüle, und es war gerade, als ob die schweren Wolken am Himmel vorsichtig vermieden, die grelle Scheibe zu bedecken.



»Hier lieg’ ich nun, als die Karikatur eines Helden. Die ganze Szene Karikatur – sieht ’n bißchen nach Schlachtfeldgrenze aus – ist bloß ’ne Albernheit!«



Stephan hatte als Fahnenjunker einmal den linken Schulterknochen gebrochen, und er wußte: es tut verflucht weh! Auch ein Mann kann da wohl die Zähne zusammenbeißen. Aber er sah wohl, nach der allerersten kurzen Anwandlung, die ihn überrascht hatte wie ein Überfall aus dem Hinterhalt, war bei Likowski die Wut und der Hohn größer als aller Schmerz.



»Wissen Sie,« fuhr er aufgeregt fort, »wenn’s nun losgeht und ich lieg’ da – ich schieß’ mir – bei Gott – ich schieß’ mir ’ne Kugel durch ’n Kopf!«



»Aber bitte! Lieber Likowski! Wenn es wirklich bald zur Mobilmachung kommt – dann folgen Sie uns in einigen Wochen nach –«



»In einigen Wochen?! In vierzehn Tagen will ich wieder zu Pferde sit