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8

Die junge Frau hatte den Besuch ihrer früheren Pflegemutter gehabt. In allem war die Doktorin Lamprecht ein eifriger Mensch, in Rede wie in Tat. Und so hielt sie auch mit einer gewissen pflichtvollen Emsigkeit darauf, Klaras Einladung zum Nachmittagstee zu folgen. Klara hatte gesagt: komm doch an schönen Sommertagen, so oft du willst, nachmittags herüber. Das war der alten raschen Dame zu unbestimmt gewesen, und sie setzte sich selbst im stillen den Dienstag und den Freitag zu den Gängen nach dem Herrenhaus von »Severin Lohmann« fest. Das hatte Klara natürlich bald gemerkt, und wenn sie einmal an einem dieser Wochentage verhindert war, telephonierte sie ab. Heute war die alte Frau eigentlich darauf gefaßt gewesen, daß man ihr abwinke. – Die jungen Eheleute wollten doch mit ihrer Jacht den Seglern entgegenfahren. – Likowski, der immer einen Augenblick vorsprach, erzählte von der erhaltenen Einladung, der er nicht folgen könne.

Als dann aber kein Abwinken erfolgte, stürzte sich die alte Frau mit ihrer vollen Lebhaftigkeit in Sorgen. War das Kind krank? Oder der Geheimrat? Darüber nachzudenken und sich mit jedermann, der ihr in den Wurf kam, eindringlich zu besprechen, war sehr unterhaltend. Zum Glück erwies sich alles als überflüssige Gedanken- und Zungengymnastik, denn sie fand Mutter und Kind in der völligsten Gesundheit vor, und der Geheimrat war nicht sichtbar. Er arbeitete oben mit seinem Sekretär. Das Kind hatte mittags viel geschrien und war ein wenig mit der Verdauung gestört gewesen – nun lag es prachtvoll anzusehen im offenen Wagen, und die Amme in der malerischen Tracht saß dabei und wehrte den Fliegen. Nicht weit davon hatten die beiden Damen Tee getrunken. Der Platz unter den alten Ulmen war angenehm, man hatte von da einen sehr malerischen Blick auf die Hochöfen, die wie in einem Ausschnitt, vor dem blauen Himmel, von grünen Zweigen umrahmt, ernst dastanden. Die Doktorin Lamprecht erzählte mit unermüdlich dahinrinnenden Worten von allem Kleinkram ihres engen Lebens.

Dann geleitete Klara die flinke kleine graue Alte hinab zur Fähre, wo es noch einen wortreichen Abschied gab, bis Sörensen, der Fährmann, ungeduldig fragte: »Wölt wi nu foahren, oder wölt wie nich foahren?«

Als Klara langsam treppan zwischen den Hainbuchenhecken zurückging, fühlte sie sich von einer unbegreiflichen Zuversicht und Heiterkeit erhoben. Woher ihr die kam – sie wußte es nicht. Das Grundlose ihrer wechselnden Stimmungen, das Gegenstandslose ihrer frohen Sehnsucht und jammervollen Zerdrücktheit, als läge alle Qual der Welt auf ihr – sie vermochte es nicht zu erklären. Alles, was sie konnte, war, eine äußerlich immer beherrschte Haltung zeigen.

Jetzt däuchte ihr, sie sei glücklich, daß das bißchen Unruhe des Kindes nicht die Vorbotin von ernstlichen Störungen gewesen sei. Sie machte sich Vorwürfe, ihren Mann nicht doch begleitet zu haben. Sie wollte ja all seine Interessen und Freuden teilen – das war ihr ernster Vorsatz. Aber dieser freie, friedlich ungezwungene Nachmittag war so schön – fast, als sei es weniger – mühsam. –

Als sie sich dem Platze unter den Ulmen näherte, sah sie, daß die Amme fortgegangen war und daß anstatt ihrer Leupold Wache hielt. In seiner einfachen dunkelblauen Livree stand er da und beugte sich auf den Wagen hinab.

Klara schlich beinahe. Sie wollte ihn überrumpeln, und das gelang ihr auch. Er fuhr auf und wurde rot.

»Kathrin bat mich – ich sollte mal ein paar Minuten aufpassen. – Ich kam her, weil Herr Geheimrat bitten lassen, wenn es der gnädigen Frau recht sei, möchte das Abendessen erst um neun Uhr angesetzt werden.«

Da lag Severin der Kleine in seinem Wagen, luftig zugedeckt, die nackten Ärmchen frei – er fing nun schon an, mit der einen Hand nach der anderen zu greifen, ohne daß es ihm gelang – in diesem allerersten zweckvollen Spiel der Glieder. Er sah so gepflegt und lieblich aus, daß selbst ein unverständiger Beobachter wie der alternde Junggesell Leupold erkennen mußte, es sei ein köstliches Exemplar von einem Kinde.

Klara sah ihn an – irgend etwas in ihrem Blick forderte ihn auf, zu sprechen.

»Ich glaube,« sagte er verlegen, »der Kleine wird mal ganz und gar Herrn Geheimrat ähnlich …«

Dann setzte er schnell hinzu und wurde wieder rot: »Es ist das schönste Kind, das ich je gesehen habe …«

Und ging rasch davon. Klara lächelte. Sie fühlte: der eifersüchtige Mann hatte ihr nun endlich verziehen, daß sie die Schwiegertochter und bevorzugte Pflegerin seines Herrn geworden war. Severin der Kleine hatte ihn entwaffnet, und er war vielleicht von ähnlichem Stolz auf den Stammhalter erfüllt wie der Großvater selbst.

Ja, so kleine Händchen können viel.

»Vielleicht,« dachte Klara, von einer plötzlich aufwallenden Hoffnung ganz erregt, »vielleicht doch noch einmal die Herzen seiner Eltern recht zusammenfügen …«

O Stunde des Glücks, wenn das geschähe! – Und warum nicht? Es gibt doch Gefühlswunder, Wandlungen – man las so viel Schönes davon. Und was die Poesie verherrlicht, muß sie doch im Leben gefunden haben. –

Um neun Uhr kam der alte Herr herunter und saß in seinem Fahrstuhl am Tische. Trotz des wundervollen Sommerabends blieben die Fenster geschlossen. Das Hereinschwirren von Insekten und ihr Tanz und oft genug ihr Tod im Licht war Klara immer widerwärtig. Der Geheimrat teilte ihren Ekel davor.

»Nun hast du heute gar nichts von dem Sommertag gehabt,« schalt Klara.

»Die Arbeit drängte. Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, die Denkschrift, die ich dem schwedischen Handelsminister zustellen lassen will, noch heute zu beenden. Morgen gibt es Störungen die Menge. Direktor Malzan von der Frankfurter Heizkessel- und Röhrenfabrik hat sich angesagt – eine Verbindung, die Wynfried anknüpfte. Die Fabrik will fortan ihr Rohmaterial von uns beziehen. Außerdem ist Mühlmann aus Harburg zu erwarten.«

»Ach der alte Herr, der immer denselben Spaß macht, indem er bedauert, daß er mir von den niedlichen Kleinigkeiten, die er fabriziert, keine Pröbchen zu Füßen legen könne.«

»Du solltest aber mal wirklich die Mühlmann-Werke mit Wynfried zusammen ansehen; wenn ihr mal in Hamburg seid, ist’s ja nur ein Katzensprung. Anker für Ozeandampfer und Krane und Ketten von kolossalischen Größen und Gewichten. – Ja, also Malzan und Mühlmann wohl sicher. Vielleicht noch zwei Geschäftsfreunde aus Rußland. Und möglicherweise der junge Marks. Die Reederei Marks in Stettin hat uns, aus einer Konkursmasse, billig einen Kohlendampfer angestellt. Wenn der Juniorchef selbst kommt, muß er zu Tisch gebeten werden. Aber du weißt: alles ist unsicher.«

Ja, das kannte Klara: an vielen Tagen der Woche Tischgäste: die, auf welche man sich vorbereitet hatte, kamen zu ganz anderen Tageszeiten und konnten nicht zum Speisen dableiben; ein andermal erwartete man niemanden, und eine Stunde vor Tisch hieß es plötzlich, es würden Gäste kommen. Oder man dachte an einen oder zwei Herren, und es wurden ihrer sechs.

Aber die Küche war darauf eingerichtet, und Frau Flüggen, die Herrenköchin, war eine Verbindung von rascher Entschlossenheit und Ruhe, die Klara heimlich bewunderte.

»Und da Thürauf verreist ist,« fuhr der alte Herr fort, »mag ich gern selbst alle sprechen und sehen. – Auf dem Werk macht Wynfried ja sowieso allein die Honneurs, wenn Thürauf fort ist.«

Klara legte ihrem Schwiegervater von dem leichten Ragout aus Kalbsmilchern und Zunge vor, das für ihn besonders bereitet war.

»Du sprachst von einer Denkschrift?« fragte sie.

Er mochte es gern haben, wenn sie unterrichtet sein wollte. So lebendig hatte auch einst ihre Mutter an allem teilgenommen, was ihn beschäftigte. Seit die Tochter der Geliebten seine Tochter geworden war, verschwammen beider Gestalten für ihn auf das merkwürdigste in eins. Er konnte seine Empfindungen für die heilige Tote und diese ihn täglich mit Liebe umsorgende junge Frau nicht mehr auseinanderhalten. Und ihm war auch, als erkenne er jetzt erst den tiefsten Sinn des Schicksals, das ihn zum Entsagen gezwungen. Daß die Vergangenheit rein geblieben war, adelte ihm heute die zärtlichen Vatergefühle. Klara war ihm teurer, als eine Tochter aus eigenem Blute hätte sein können – jene verborgensten, geheimnisvollsten Verwandtschaften sprachen, die jenseits aller Erklärbarkeit liegen.

Wie genoß der alte Herr nach Tagen voll angestrengter Arbeit und in seinem brüchigen Zustand diese Stunden – auch ihm war’s im tiefsten Herzen uneingestanden recht, wenn Wynfried am Abendtisch fehlte. Er, der Vater, und sie, die junge Frau, waren sonst immer bemüht, daß Wynfried sich nur behaglich fühle …

Er sprach zu der eifrig Hörenden.

»Weißt du, es ist auch eine Art Zeitkrankheit: dies Erwachen eines blinden Nationalismus überall – der so oft Forderungen erhebt, die dem eigentlichen volkswirtschaftlichen Interesse des Vaterlandes zuwiderlaufen. – In allen Ländern das gleiche. Nun gibt es in Schweden große Gruppen von Politikern, die es als eine Schädigung der wirtschaftlichen Zukunft ausschreien, wenn Schweden fortfahre, seine Eisenerze auszuführen. Und es wäre beinahe Selbstmord, wenn diese Ausfuhr je verboten werden sollte. Die Eisenerzlager sind ungeheuer groß. – Und Schweden ist so klein – es hat auch keine Kohlen – keine Arbeitskräfte – selbst wenn es all seine Erze selbst verhütten wollte und könnte, fehlte wieder die Feinindustrie, die den Hüttenwerken das Rohmaterial abzunehmen imstande wäre – und sie könnte auch niemals in einem Maße entstehen und sich entwickeln, um all dies gedachte Roheisen zu verarbeiten. – Deutschland ist der nächste, der gegebenste Abnehmer – es trägt für das Erz, das es empfängt, ein Riesenkapital über die Ostsee nach dem befreundeten Land. In Deutschland ist der Eisenverbrauch pro Kopf in den letzten dreißig Jahren um etwa neunzig Kilogramm gestiegen: von vierzig bis auf hundertunddreißig – stell dir das mal vor …«

 

Nein, das konnte Klara sich natürlich nicht auf deutliche Art vorstellen, wie ein Mensch hundertdreißig Kilogramm Eisen verbrauchen soll. Sie lächelte glücklich, war voll Freude, daß der Vater immer in dem starken Bedürfnis, sich zu betätigen, geistig so frisch wie nur je sich zeigte, und sie scherzte ein wenig – denn das mochte er haben. Und sie sagte, daß diese Statistiken auch unfreiwilligen Humor besäßen; und Großvater solle es sich doch seinerseits einmal vorstellen, wie Severin der Kleine hundertdreißig Kilogramm Eisen verbrauche … Er mußte lachen. Und sie lenkte durch wißbegierige Fragen ihn wieder auf seinen Vortrag zurück.

So saßen sie in Frieden, und Klara sprach endlich, etwa um elf Uhr, davon, ob man nicht ans Zubettgehen denken müsse.

»Wenn du sagst ›man‹, meinst du mich,« scherzte der Geheimrat.

»Eingestandenermaßen! Ich möchte noch aufbleiben – auf Wynfried warten – aber nur bis Mitternacht – später könnt’s ihm eher bedrückend als erfreuend sein.«

»Klug!« lobte er. »Und Wynfried hat es ja heute wirklich nicht in der Hand – wenn zum Beispiel Flaute eingetreten sein sollte …«

Klara klingelte zweimal. Das hieß, daß Leupold kommen solle, um seinen Herrn hinaufzuschaffen, und daß Georg oben zur Stelle zu sein habe, um beim Zubettgehen zu helfen.

Sie geleitete den Fahrstuhl noch hinaus – der Lift mündete in der Nähe des Eßzimmers auf die Diele.

Diese war nur schwach erleuchtet. Die Glastür, durch die man in den Hauseingang kam, war geschlossen. Aber die breite Tür, die von der Diele aus auf eine Plattform mit Sitzgelegenheiten führte, stand weit geöffnet, und die Wärme des Sommerabends kam herein.

Der alte Herr atmete sie ein – sie tat ihm wohl.

»Ein paar Minuten,« sagte er, und Leupold fuhr seinen Herrn gehorsam auf die Plattform hinaus. Klara setzte sich auf den nächsten Stuhl, stützte den Ellbogen auf seine Lehne und schaute ruhevoll hinaus in das schwarze Dickicht des Parkes.

Dieser Abend hatte der jungen Frau wohlgetan. Sie fühlte: solange dieser große Mann lebte, war sie, als seine Tochter, reich. Wie mußte er immer und immer an sich gearbeitet haben, bis sein brausender Wille, sein überragender Verstand sich mit Güte und Gerechtigkeit gleich einer Gloriole umgab. Sie ahnte auch, daß er nicht nur aus Neigung zu dem Gesprächsstoff, sondern sehr zweckvoll sie ganz und gar mit dem Werk und seinen tausendfältigen Beziehungen vertraut machte. Sie legte es sich so aus: er wolle, daß sie ihrem Gatten immer mit Verständnis entgegenkommen und sein Interesse, falls es erlahme, neu beflügeln könne.

Man sah von dieser Plattform aus nichts vom Hochofenwerk. An das Rumoren des Betriebes waren ihrer aller Ohren so gewöhnt, daß sie es nicht mehr hörten. Ihnen schien Sommernachtstille entgegenzuströmen, und Friede und ein sanftes Dunkel füllte die Luft, als webe und schwebe in ihr der Geist lieblicher Schlafseligkeit. Alles zwang zum Schweigen. Und diesem beruhigenden Schweigen nachzuhängen, war schön.

So ließen sie die Minuten rinnen. – Da geschah etwas Furchtbares – grauenvoll Bedrohliches – sie zuckten zusammen – ein dunkler, runder Ton hatte die Luft zerrissen. – Die Gewalt der Erschütterung war so groß, daß ein Zittern durch die Nacht ging.

Der Schreck legte seine kalte Hand auf den Mund der jungen Frau, und sie konnte nicht einmal schreien –

»Mein Gott!« stieß der alte Mann heraus. – Und er saß und war gefangen …

Eine Explosion – irgend etwas war geschehen. – Ungewöhnliches – vielleicht Furchtbares.

Sie horchten unwillkürlich dem dunklen, knallenden Ton nach – ein, zwei Sekunden – unter der Wucht des Nachhalls, der ihnen im Ohr lag – in der Lähmung des Schreckens.

»Durchbruch?« sagte der alte Mann. – Als Frage klang das in die jetzt wieder stumm gewordene, dunkle Nacht hinein.

Und seine Hände auf den Lehnen seines Stuhles zitterten.

Nach dem Schreck kam der erste deutliche Gedanke: Leupold sollte hinüberlaufen und fragen. – Aber er hatte keine Zeit, das zu Worten zu formen.

Denn die junge Frau rannte fort – es trieb sie – rief sie.

»Klara!« aber der starke Ruf erreichte sie nicht mehr. Ihre weiße Gestalt war schon um die Hausecke verschwunden.

Und sie lief, wie sonst Knaben laufen, in rasender Eile, mit langen, federnden Schritten.

Sie sah vor sich das Werk – war nicht alles wie sonst? … Die vielen kleinen Sonnen all der elektrischen Lichter standen als heller Kern in ihrer runden Strahlenglorie. Malerisch beschienen wälzte sich der Rauch von der Kokerei her langsam in schräger Lage über und durch all das Eisengestänge der Drahtseilbahnen und Rohrleitungen, ehe er sich in die dunkle Luft hinauf verlor und von der Nacht aufgesogen ward. Als hellbeleuchtete Säulen erhoben sich unbeschädigt die Schornsteine. Die weit hinausragenden eisernen Linien der Ausladebrücken waren klar zu erkennen. Das ungeheure Geschöpf mechanischen Lebens, der Selbstgreifer, senkte sich von der ersten Brücke hinab in den Bauch eines Dampfers, um ihm Riesenhände voll gepulverter Kohle zu entreißen und oben in die Wagen zu entleeren.

Klara umfaßte im Laufen dies ganze, ihr so vertraute Bild von Lichtern und Feuerscheinen und überhelltem Gewölk, senkrecht und wagerecht von schwarzen Linien und Gebäudesilhouetten durchschnitten. Wie ein Märchen aus Tausendundeine Nacht, aber gewaltiger und viel phantastischer, stand dies Wunder menschlicher Kraft vor dem schwarzen Himmel, inmitten der dunklen Landschaft.

Ein Blick – in solcher Angst – erfaßt in Sekundenschnelle viel – die nächste Sekunde änderte das Bild.

War dort nicht die Ordnung und das gewohnte Sichüberschneiden der Linien zerstört? Wo war der leiterartige Schrägaufzug, dieser feine, durchsichtige Bau von Eisenstäben, zwischen denen sonst die Förderwagen gleich kleinen Lasttieren hinaufkrochen, um oben in das Beschickungsloch der Hochöfen Erze, Kohlen und Kalkstein zu werfen? Starrten da nicht zerbrochene Rippen in die Luft? Aber noch ehe der Blick dies sicher erkennen konnte, geschah etwas Neues. – Dampf quoll auf, weißer, dickgeballter Dampf kochte in die Höhe und verhüllte alles.

Schon war die junge Frau am Tor – von Severinshof strömten Menschen heran. – Die Männer der abgelösten Belegschaft, die der Knall aus ihrer Ruhe riß – verängstete Frauen.

Der Torwächter gebot diesen Frauen ein Halt. – Aber wie durfte er es der Tochter und Gattin der Herren zurufen?

Klara stürzte vorwärts – sie die einzige Frau unter den Scharen von Männern.

Nun sah sie – da am ersten Hochofen sah sie es – in kurzen Sekunden, wenn der weiße Dampf zischend höher trieb. – Ergoß sich ein Lavastrom aus dem Bauche des Hochofens? Wo kam diese weißglühende, feurige Masse her, die alles Wasser, das gleich einem gläsernen, rinnenden Mantel die Burg der schmelzenden Erze umgab, zum Verdampfen brachte?

Das flüssige Eisen und die kochende Schlacke hatten ihren Panzer durchfressen.

Und indem sie sich, ihren Kerker zersprengend, hinausdrängen wollten, machten sie allen Gasen freie Bahn.

Mit einem Donnerknall war die glühende Luft entwichen, indem sie Steine und Eisen zerbrach – und die Masse geschmolzenen Metalls flutete ihr nach.

Es war ein ungeheuerliches Bild – wie dies Gedärm von fließendem Feuer nun fast ruhevoll herausquoll und sich über den Unterbau, den Herd ergoß.

Und eine unerhörte Aufregung zuckte durch die Menge.

Vor dem Höllenatem der Bruchstelle und ihren Entladungen, vor dem weißkochenden Dampf wich alles weit zurück. – Und doch hieß es eingreifen – größerem Unglück vorbeugen – von all den maschinellen Betrieben des Werkes Störungen abhalten – die vorbeiziehenden Bahnen und Rohre vor der Schmelzglut schützen – die fließende Lava aufhalten. Von der Gießhalle her mußte das Stichloch eingestoßen werden, um den Abfluß auf die sandige schiefe Ebene ihres Bodens zu lenken.

Tapfere Männer, Hände und Arme mit nassen Lappen umwunden, von Schläuchen mit Wasser begossen, drangen mit der Stoßstange vor – berannten das Stichloch – damit sein Tonverschluß zerbreche.

Einer der Ingenieure, die die Arbeit leiteten, näherte sich Klara. – Sie stand, leichenblaß, zitternd, erdrückt von der Majestät der Elemente, die sich der Menschenhand entwinden wollten.

»Gnädige Frau,« bat der Ingenieur höflich, und es hieß: »Gehen Sie.«

»Alle fort – Thürauf – mein Mann –« stammelte sie.

»Was zu tun ist, geschieht,« sagte er ruhig.

»Nein – ich bleibe …« Sie stand ja sicher.

Dampf und Glut umhüllten das Bild und entschleierten es in jähem Wechsel, wie Wind, Hitze, Luftwirbel spielten.

Die hellen Töne der Eisenstange, die die Männer gegen das Stichloch trieben, klangen durch die Wirrnis.

Da ein Schrei und ein furchtbares Aufheulen.

Im gleichen Augenblick, da das Durchstoßen des Stichloches gelang, sackte von oben im Gehäuse des Ofens die ganze Beschickungssäule, diese schon halb durchschmolzene Masse von Erzen und Kohlen und Kalkstein nach, hinab in den entstandenen Hohlraum, und preßte so auf die herausquellenden Massen, daß sich aus dem Stichloch ein Katarakt, ein Springquell von fließendem Eisen ergoß und auf den Unterkörper des Vordermannes traf.

Das wahnsinnige Aufheulen ließ jeden erbeben, und da war wohl keiner, dem nicht ein Frösteln über die Haut lief und ein Gefühl von Übelkeit emporstieg.

Auch die junge Frau schrie auf – sie drängte sich durch die Männer – sie lief und lief und merkte kaum, daß ein paar Atemlose mit ihr fast Schritt hielten. Zwischen starren Eisenträgern und Mauern vorbei ging der Weg – durch Qualm und gasige Dünste – und da war das kleine Rettungshaus. – Da war die Tragbahre – in Glasschränken alles, was einem Verunglückten wohltun kann.

Und da war auch schon Doktor Sylvester, der für alle Fälle herbeigeeilt kam, als er über den Knall erschrak.

Und zehn Minuten nachher lag auf der Tragbahre, die mitten auf dem braunblanken Tonestrich des kleinen Raumes stand, der Mann – gefallen auf dem Felde der Arbeit – ein stiller Held, der in ruhigem Mut sich dahin stellte, wo seine Pflicht ihm das Leben kosten konnte.

Sein Jammern erfüllte die Luft und machte der jungen Frau den Herzschlag fliegen.

Sie weinte und wußte nicht einmal, daß ihr die Tränen aus den Augen liefen und daß sie sich zuweilen mechanisch mit dem Handrücken abwischte, um klarer zu sehen.

Mit raschen, gehorsamen Händen folgte sie den Anweisungen Sylvesters – ihr Frauengefühl, die sanfte Sicherheit ihrer Bewegungen waren gute Dienerinnen. Und Sylvester, mit dem Schmiß über die Wange bis zum Mundwinkel hinein, sah verächtlicher und grollender aus als je – seine Stirn war gefaltet – seine Finger zart, wie die eines schonenden Weibes.

Und sie schnitten dem Verunglückten die Kleider vom Leibe, und von dem nackten berußten Körper stieg der furchtbare Geruch verbrannten Fleisches auf. –

Dann kniete Klara neben der Bahre – und als der Arzt begann, mit lindernden Mitteln, antiseptischen Watten und schleierdünnen Bandagen die Beine und Schenkel zu behandeln, umfaßten die beiden feinen Frauenhände manchmal die zwei krampfhaft geballten schwarzen Arbeiterfäuste.

Das heisere, brüllende Schreien des Mannes wurde matter – er mochte die Wohltat des Verbandes spüren – und vielleicht kam die Schwäche – jene Grenze der äußersten Leiden war erreicht, wo die Nerven schon leiseste Milderung erlösend empfinden.

Sein Blick – sein furchtbarer Blick voll Zorn und Wildheit – in dem noch die ungebrochene Wut der Schmerzen loderte, traf den Blick der jungen Frau.

Und es war, als sprächen sie zusammen.

Aus den dunklen Augen strahlte ein Mitleiden voll himmlischer Kraft.

Und diese junge, weiße Stirn war von einem ungeheuren Schmerz gefurcht.

Tief neigte sie sich zu ihm herab – als wolle sie ihre Seele der seinen nahe bringen.

Und ihre Seele wollte der seinen viel sagen.

Aber nicht einmal ihre Gedanken konnten sich zu Worten fassen – in dem Übermaß der durcheinanderflutenden Gefühle tauchten, gleich Bruchstücken, einzelne, deutlichere Empfindungen auf …

»Ich leide mit dir – sieh – ich hab’ mich niemals über dich erhoben – hab’ nie hochgemut den Reichtum genossen – ich bin ein einfacher Mensch wie du – deine Schwester – verzeih mir – verzeih Gott – verzeih dem Leben – verzeih, daß du leidest – du sollst keine Sorgen haben – sei tapfer – bleib mutig –«

So stammelte ihr Denken. – Und sie hob mit aller Kraft ihre gefalteten Hände zum Arzt empor – ohne Worte flehte, fragte sie: er wird leben?

Und Sylvester verstand diese stumme, glühende Frage.

Er sprach fest: »Ich hoffe.«

Und sein Blick glitt ab, nicht weil er log – sondern weil die Inbrunst in diesen Augen, weil das heilige Mitleiden auf diesem Angesicht seine männliche Fassung fast zerbrach.

 

Und wieder neigte Klara sich über dieses düstere, halbzerstörte, ächzende Geschöpf. Mit leisen, liebevollsten Händen streichelte sie seine Schläfen – strich ihm das nasse Haar aus der Stirn.

Und wieder sprachen ihre Blicke zueinander – in schrecklicher Klage und in innigem Trost.

Da bückte sich die junge Frau noch tiefer und küßte die berußte, von wilden Schmerzen verzerrte Stirn.

Am anderen Ufer, in der friedlichen kleinen Stadt, saßen der Hauptmann von Likowski und sein Oberleutnant und Freund, der Freiherr von Marning, noch spät zusammen. Die Fenster waren geöffnet, und der schwebende Rauch aus des Hauptmanns Zigarren zog um die Lampe und dann in feinen Streifen hinaus ins Dunkel der Nacht.

Marning hatte das schlichte Abendbrot des älteren Kameraden geteilt. Dann saßen sie und nahmen eine strategische Aufgabe durch, die Likowski sich ausgedacht hatte. In der lebhaftesten Meinungsverschiedenheit stritten sie hin und her. Aber nun war es für heute genug. Morgen früh vier Uhr begann eine große Marschübung. – Also: gute Nacht –

»Ich danke Ihnen, daß ich heute abend bei Ihnen sein konnte,« sagte Marning, während er seinen Säbel umschnallte.

»Na ja, und ich dank’ Ihnen, daß Sie sich bei mir einluden. Sagen Sie mal, Marning, was ist das, daß wir uns um Vorwände bemühen, Herrn Wynfried Severins Aufforderungen auszuweichen? Und obenein mit Zurhilfenahme von Verschleierungen und Vorspiegelungen. Er muß meinen, nach der Art unserer Absage, daß bei mir ’n großer Kommispekko für Unbeweibte stattfindet. Und wir haben bloß friedlich zu zweien fachgesimpelt – leider Gottes tun wir ja immer nur was Friedliches.«

»Ich weiß auch nicht, was es ist,« sprach Marning.

»Schade! Ist ja übrigens nicht auf unserer Höhe! Nach Vorgefühlen gehen! Denn was anderes als dies unbestimmte ›Wir mögen ihn nu mal nich‹ können wir doch nich vorbringen. Er ist ein liebenswürdiger Wirt. Er soll sich zum fixen Geschäftsmann entwickeln. Wir sehen ihn nur in ritterlicher Art mit Vater und Frau verkehren. Daß er acht Jahre lang ’n Lebejüngling war – nu – über so was wächst ja Gras – Und dennoch: nee – ich kann nu mal kein Herz zu ihm fassen – ich trau’ ihm nich – Er ist mir auch zu schön.«

Marning hätte kaum etwas antworten mögen und können. – Und ihm wurde auch jede Antwort abgeschnitten. – Ein Knall – dunkel und groß – von dem Nachklang krachender Geräusche begleitet, zerriß die Nachtluft in Stücke.

Sie sahen sich an – erschreckt nachhorchend – ein paar Augenblicke.

Was war das? Wo war das gewesen? In der Stuhrschen Fabrik? In welcher anderen der vielen industriellen Anlagen hüben und drüben am Fluß? Oder gar auf »Severin Lohmann«?

Likowski riß die Tür zu seinem nach hinten hinaus gelegenen Schlafzimmer auf und stürzte ans Fenster. Von dort, über das Stalldach hinweg, konnte er das Hochofenwerk sehen. Stand es nicht wie immer, lichtumstrahlt, von beschienenem Gewölk umzogen, als helldunkles Bild wunderbar vor dem schwarzen Nachthimmel?

Nein, nicht wie immer – da stiegen weiße Wolken – kochte Dampf auf.

»Ein Unglück. Rasch, Marning – den zweiten Zug alarmieren – der dritte soll sich bereit halten …«

Der Ruf: »Vollert – Vollert!« donnerte durch das Haus. Der Bursche polterte aber schon gerade die Holztreppe von seiner Dachkammer herab.

Sie griffen nach ihren Mützen und liefen.

Unten streckte sich ein altes, graues Frauenköpfchen aus der Türspalte, und man sah eine weißbekleidete Schulter.

Aber da war nun keine Zeit zu neugierigen und erörternden Gesprächen.

»Ich glaube nicht,« sagte Marning im Laufen, »daß sie uns drüben brauchen. – Die abgelöste Belegschaft tritt ja ein – wenn wirklich was los ist – aber immerzu –«

»Nun – anbieten müssen wir’s –«

Sie rannten fast Hornmarck um, den der Knall vom Schreibtisch aufgeschreckt hatte, wo er seine Gefühlszweifel in Verse goß und sich mit Edith und Finchen in leidenschaftlichen Strophen auseinandersetzte.

»Sie – Hornmarck – den zweiten Zug alarmieren – der dritte soll sich bereit halten. – Laufschritt zur Fähre – drüben ebenso nach ›Severin Lohmann‹ – immer zwei Gruppen auf einmal übersetzen lassen. – Die beiden Mann der letzten Rotte hüben und drüben postieren – zum Nachrichtendienst. – Wir laufen voraus …«

Likowski und Marning eilten die schräge Straße hinab, die zur Fähre führte. Das Leben, das schon schlafen gegangen war, erwachte wieder. Einzelne Männer erschienen in den Türen. Aber sie sagten, es sei wohl nichts Besonderes. Da war auch der Fährmann, in Pantoffeln und nur in Hosen und dem blauen Hemd.

Aber da half ihm nun nichts: Likowski hätte ihn mitgeschleppt, wäre er selbst noch kümmerlicher bekleidet gewesen. Und Sörensens mürrischer Einwand: »Herrjes – in Büxen?« half ihm nicht.

»Wat – Büxen! Is ja Sommertid – man to – man to!«

Sie standen voll Ungeduld im großen, schweren Kahn, während die eiserne Kette klirrte. Nun warf Sörensen sie hinein, daß es krachte, und fuhr los.

Über den Fluß, der von schwarzblanker Tinte schien, schaukelten sie. Der dunkle Himmel der Sommernacht spannte sich in unermeßlicher Weite. Alle Ferne war in Finsternis versunken. Aber die Nähe zeigte ihr Bild in großen Zügen. Das Lichtgeflimmer des Hochofenwerks spiegelte sich in der Flut; vor dem mächtigen Hintergrund quoll weißer Dampf in die Höhe.

Sie schwiegen.

Nun waren sie drüben. Sie hatten schon während der Überfahrt gesehen: weder die »Klara« noch das Motorboot lagen an ihren Bojen. Also das junge Paar war von der Segelpartie noch nicht zurück.

»Gottlob!« dachte Stephan. – So brauchte er der Einen nicht zu begegnen, die er mied, wenn er es ohne Aufsehen konnte.

Sie nahmen immer zwei Stufen auf einmal. In den Hainbuchenhecken, die die Treppe begleiteten, raschelte ein wenig Wind. Da, vor ihnen, lag nun das Herrenhaus. Ganz wenig Fenster zeigten sich erhellt. Vorbei – im Laufschritt. – Aber wie denn? Vor dem Gitter, das Park und Vorgarten von der Straße schied, stand der Fahrstuhl. Der alte Herr saß darin – neben ihm stand Leupold Wache.

»Herr Geheimrat!« rief Likowski perplex.

Das mächtige Haupt mit den blitzenden Augen wandte sich um und ihm zu. Er hatte in die Richtung gestarrt, wo der Palisadenzaun um »Severin Lohmann« begann.

»Ja,« sagte er vor Zorn fast heiser, »angebunden. – Und dieser Kerl weigert sich, mich hinzufahren! – Mich zu verlassen! Mir meine Tochter zu holen – und das Schaf – der Georg, der findet sie nicht –«

Leupold nahm den »Kerl« nicht übel. Er sagte nur kurz: »Wie kann und darf ich Herrn Geheimrat verlassen?«

»Ihre Tochter?« fragte Likowski. »Nicht mitgesegelt?!«

»Sie ist drüben – Georg läuft her und hin und kann sie nicht finden –«

»Was ist los? – Der zweite Zug meiner Kompanie kann bald zur Hilfe hier sein. – Soldaten können Sie haben, so viel da sind …«

»Oh – unnötig!« wehrte der Geheimrat ab. »Ihre Soldaten können uns nichts nutzen – danke – danke – was los ist? Durchbruch! Ein Mann verunglückt. – Und Schaden – schwerer Schaden – Produktionsminderung auf zwei, drei Wochen – ich weiß noch nichts Genaues.«

Er sah den atemlosen Georg heranrasen – zum drittenmal.

»Welche sagen, die gnädige Frau sei bei dem Verunglückten – da darf ich nicht ’rein.«

»Marning,« flehte der alte Herr, »holen Sie mir meine Tochter …«

Stephan salutierte gehorsam. – Er konnte nichts sagen. Er ging.

Likowski kam sich ein wenig blamiert vor. Tatkräftig hatte er Retter und Helfer aufgeboten, und nun waren sie nicht einmal gewünscht.

»Darf ich sofort telephonieren? Hornmarck rückt sonst mit den Leuten an – vielleicht halt’ ich sie noch auf –«

Der Geheimrat nickte, sah aber dem davonschreitenden Marning nach, während der Hauptmann, diensteifrig und strahlend von Georg, seinem früheren Burschen, gefolgt, ins Haus ging.

Stephan kam an das große Eingangstor, darüber auf breitem Blechband in schwarzen Buchstaben der wuchtige Name stand.