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6

Das war ein Tag, eine Nacht gewesen! Der alte Herr hatte sie in seinem Sessel verbracht. Keine Bitten des treuen Leupold vermochten etwas. In dem greisen Riesen kochte die einstige Ungeduld. Er wünschte ein Gott zu sein, um der Natur befehlen zu können. Seine wartende Aufregung setzte sich in Zorn um – nicht gegen irgend einen Menschen – nein, in diesen unbestimmten Zorn über menschliche Ohnmacht. Und er mußte sich doch fassen. –

Sein Sohn war verreist. Unglücklicherweise! In diesen furchtbaren Stunden hätte er neben seiner Frau sein sollen. Das Schicksal gefiel sich wahrlich darin, Wynfried immer fern zu halten, wenn mit großen Mahnungen Tod oder Leben an dies Haus klopften …

Damals freilich, als es schien, sein Vater werde erliegen, hielten ihn unwürdige Dinge ab, die ihn seiner Besinnung beraubt hatten.

Jetzt war es ein ernster, anständiger Grund, der ihn fortzwang.

Die Sitzung, in welcher die Kreyser-Werke definitiv in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden sollten, war auf den siebzehnten April anberaumt worden. Der Generaldirektor Thürauf hätte die Vertretung des Geheimrats übernehmen können – wie so oft, seit dieser an seinen Krankheitsthron angeschmiedet war. Aber es war seit Monaten bestimmt gewesen, daß bei dieser wichtigen Gelegenheit, die doch auch Wynfrieds Vermögen anging, der Sohn zum erstenmal als Teilhaber des Hauses Severin Lohmann draußen zwischen anderen Magnaten der Kohle und Kapitänen der Industrie für das Haus eintreten solle.

Der Geheimrat wußte ja auch: sein Sohn hatte sich erst Ansehen zu verschaffen – noch besaß er es kaum. Er mußte Vertrauen zu sich erwecken – wie sollte man es ihm schon schenken! Denn die Welt hatte wahrscheinlich mehr von dem früheren Lebejüngling gewußt als der Vater selbst. Es galt, sich einen neuen Ruf zu erobern. Das ist schwerer, als wenn man unbekannt und unbeschrien in einen Kreis tritt. Aber der Geheimrat wußte auch: die bloße Tatsache, daß er zu dieser Sitzung nicht Thürauf, sondern seinen Sohn entsandte, ließ die Herren aufmerken, erweckte die wohlwollendsten Gedanken.

Das alles hatte er oft mit Klara besprochen. Erst sollte die Sitzung Anfang März stattfinden, ward verschoben und dann zu einem Termin anberaumt, der einen Konflikt heraufbeschwor.

Es schien dem Geheimrat unmöglich, daß der junge Ehemann jetzt seine Frau verlasse. Andererseits schien es eine Unmöglichkeit, plötzlich anstatt Wynfrieds den Generaldirektor zu entsenden. Man würde denken, er habe im letzten Augenblick Wynfried doch nicht recht Vertrauen geschenkt.

Wynfried verhielt sich ziemlich passiv in der Frage. Die Geschichte interessierte ihn immerhin ein wenig. Außerdem: jedesmal wenn er hinaus konnte – wenn er nur im Abteil der Eisenbahn oder im Auto saß – nach Berlin – nach Hamburg – dann wachte etwas in ihm auf … Als wenn er wieder jünger werde … Als wenn ihm irgend was tröstend sage: na, die Welt wartet ja noch auf dich. –

Aber das mochte er nicht zeigen, besonders jetzt nicht. Denn seine Frau, diese großartige, famose Frau hatte doch am Ende Ansprüche zu erheben …

Klara entschied. Wie konnte sie es anders als so, daß sie bat, Wynfried möge unbekümmert reisen. Niemand konnte wissen, ob das erwartete Ereignis denn auch gerade in den Tagen seiner Abwesenheit einträte. Und wie, wenn er umsonst die Teilnahme an der Sitzung aufgegeben hätte! …

Sie war, wie immer, auch in dieser Frage ihrer Tat treu. Es hing so viel daran, daß Wynfried sich erprobte, in der Welt der großen Herren der Industrie sich Zutrauen erwarb.

Aber der Schnellzug, der ihren Mann nach Köln zur Vorbesprechung und Sitzung brachte, war vielleicht eben aus dem Bremer Bahnhof hinausgeglitten und raste auf die Heide zu, als Klara nach dem Arzt schicken mußte. Sie verbot eine Rückberufung und daß man Wynfried depeschiere.

Sie mochte es sich kaum in ihren Gedanken gestehen: es war ihr lieb, ihn fern zu wissen. – Sie mußte sich ganz mühsam immer wieder klar machen, wie wichtig doch das Ereignis auch für ihn sei. – Er hatte so wenig Teil daran genommen … Das kann ein Mann vielleicht auch nicht … Rücksichtsvoll war er immer – und manchmal so zärtlich, als seien sie wirklich miteinander in der großen Liebe verbunden, auf die Klara noch immer wartete. –

Solchen Tag und solche Nacht hatte das Haus noch nicht erlebt. Die Doktorin Lamprecht, die nicht vom Platze wich und einigemal von der zornigen Ungeduld des alten Herrn angefahren wurde – die wußte noch: als Wynfried das Licht der Welt erblickte, hatte der selige Lamprecht chloroformieren müssen, denn die gnädige Frau lehnte es ab, auch nur den leisesten Schmerz zu ertragen, wenn die Wissenschaft ihr den ersparen könne. So war die damals im Schlaf zur Mutterwürde gelangt.

Klara wollte bestehen, was die Natur von ihr verlangte. Es waren heilige Leiden. Sie mußten tapfer durchlitten werden. Und am siebzehnten April erhob sich aus feinstem Dunst ein Morgen voll erquickender Herbheit. Hyazinthenduft atmete von den Beeten vorm Hause auf. Der alte Herr hatte die Fenster seines Erkers öffnen lassen und belebte sich an dem zarten Frühlingszauber der Luft. Drüben überm weiten Gelände lag die Poesie der Frühe.

Gerade hinauf stieg aus den Schloten des Werkes der Rauch, wie ein Morgenopfer zur Unendlichkeit empordampft.

Feierliche Würde war in diesem jungen Tag.

Da kam Leupold wieder einmal herein – bleich, verwacht auch er.

»Ich darf Herrn Geheimrat in den Fahrstuhl helfen?«

»Was soll das? – Was willst du mit mir …«

»Die gnädige Frau lassen bitten …« Und er hatte ein seltsam verstocktes Gesicht.

»Meine Tochter? … Meine Tochter?« murmelte der alte Herr verstört … irgend ein unbestimmter Schreck wollte ihn packen, obgleich man ihm wohl an die zwanzigmal zugeschworen hatte: es steht sehr gut – keine Sorge – nein gar keine. –

Er zitterte …

Und Leupold dachte: er wird alt! Auch in ihm war Zorn. Solche Aufregungen waren nicht für seinen Herrn – und Nächte durchwachen, wenn man streng und vorsichtig nach Regeln zu leben hat, um überhaupt zu leben … Alles verkehrt – dieser ganze Zustand jetzt, mit einer zweiten, jungen Wirtschaft unten im Haus … Ehedem war alles im Gleichmaß hergegangen …

Unter solchen Gedanken half er der mächtigen Gestalt in den Fahrstuhl und schob ihn rasch zum Lift.

Der alte Herr wagte nicht zu fragen. Wenn Leupold gewußt hätte, warum Klara nach ihm rief, würde er es gesagt haben …

Unten riß schon der hellfarbige Georg mit dem gestriegelten Blondhaar und gewaschenem Gesicht die Tür des Lift auf.

Da war auch Dienerschaft am Wege zu Klaras Zimmer … Das Küchenpersonal, die Stubenmädchen – fast als bildeten sie eine Gasse … Und im großen Zimmer, wo das Bild der teuren Toten lieblich ernst von der Wand herabsah, standen wieder Menschen: die alte Lamprecht, klein, grau, gebückt und selig lächelnd; und mit verdienstvollem Gesicht der dunkelblonde Doktor Sylvester mit dem Kneifer vor den hellen Augen und dem Schmiß vom Mundwinkel bis zur Wangenhälfte, der ihm einen Ausdruck gab, als sei er immer voll Verachtung. Und noch zwei unbekannte Weibswesen.

Sie ließen ihn durch ihre Reihen fahren … Und ihm wurde immer beklommener zumute … Sein Herz klopfte.

Die Tür zum Schlafzimmer tat sich auf. –

Da lag, im feinen, hellen Licht der Frühe, bleich ein Haupt auf weißen Kissen … Und da lag ein Bündel, auch weiß, und aus ihm sah ein dunkles Fellchen hervor, ein ganz kleines Stück nur …

Leupold schob ihn an das Bett. –

Aus dem bleichen Gesicht auf dem Kissen leuchteten dunkle Augen in heißem Glanz höchsten Glücks … und die geraden, strengen Brauen waren ein wenig zusammengerückt – als seien die Nerven nach dem Krampf der Schmerzen noch nicht ganz gelöst …

Und die junge Frau hob mit schwachem Arm ein wenig das Bündel – und nun sah man: das Fellchen war dunkles Haar.

»Der kleine Severin Lohmann,« sagte sie.

Und ihre Stimme bebte vor Seligkeit …

Er schluchzte auf. – Dem alten Mann, der stark geblieben war in jedem Kampf und in jeder Not, zerbrach die Fassung.

Und das kleine, dunkle Fellchen in den Kissen des Bündels war ihm der wunderbarste Anblick, den das Leben ihm gegönnt …

Die große Männerhand streckte sich aus – tastete scheu nach diesem Köpfchen, von dem man so wenig sah. Und zog sich erschreckt zurück, als habe sie Heiligstes berührt – so überfein und unfaßlich zart war das, was seine Fingerspitzen verspürten.

Dann umgriff er der jungen Mutter Hand, hob sie zu sich heran – er mußte sich mühsam vorneigen, um sie mit seinen Lippen zu erreichen … Und er küßte sie – immer wieder – von Dankgefühl übermannt – wortlos. –

Bis Doktor Sylvester mit einem von den fremden und in geplätteter Kleider- und Schürzensauberkeit knitternden Weibswesen hereinkam und Leupold kurzerhand den Fahrstuhl rückwärts und zum Zimmer hinauszog …

Ja, das war ein Tag! Der Geheimrat wollte durchaus schlafen, denn nun lag ihm erst recht am Leben. Aber die Aufregung ließ ihn nicht dazu kommen. Und Doktor Sylvester tröstete Leupold: es schade nicht. Man wisse ja, wie Freude für den alten Herrn bekömmlich sei.

An den beiden Torpfeilern, rechts und links von der Inschrift »Eisenhütte Severin Lohmann«, wehten Flaggen; von den Häusern der Beamten und der Villa des Generaldirektors wallten die rot und weißen und die schwarz-weiß-roten Tuchstreifen, im frischen Wind zu schönen Wellenbewegungen immer wieder neu entfaltet.

Auf die Depesche nach Köln hin kamen drei Antworten. Wynfried sagte durch den Draht seiner Frau: »Freudig bewegt sende tausend Grüße und Wünsche, am zwanzigsten bin ich wieder dort. Innigst Wynfried.«

Und seinem Vater: »Mit dir stolz und froh. Bitte täglich zwei- oder dreimal um Telegramm über Befinden. Wynfried.«

»Gottlob,« dachte der Geheimrat, von einer beglückenden Ruhe ganz erfüllt, »nun liegt die Zukunft klar und sicher da.«

 

Das dritte Telegramm machte ihm Spaß. Mehr noch: er schmunzelte, und ein Ausdruck freudigen Stolzes ging über sein Gesicht.

»Es lebe der vierte Severin Lohmann. Möge er des Großvaters würdiger Enkel werden. Mutter und Kind wünschen wir alles Gute. Dem hochverehrten Großvater bringen wir Glückwünsche und Gruß.«

Diese Kundgebung war von elf Namen unterzeichnet, mit dem Kreysers an der Spitze. Und jeder hatte Klang, der über die Ozeane hallte. Großfürsten der Industrie und des Handels – sie nahmen freudig teil am Dasein des winzigen kleinen Kerlchens im weißen Bündel. Sie waren stolz, daß eine der Dynastien in ihren Reihen weiterblühen sollte …

Das wollte der Geheimrat aufheben; wenn der Junge erst lesen konnte, sollte er selbst die Depesche sehen – sie sollte ihm einst sagen: Du bist in große Verantwortungen hinein geboren. Viele Augen sehen darauf, ob du ein tüchtiger Mann wirst …

Alle, die sein Arm nur erreichen konnte, sollten Freude haben heute.

Er bat den Generaldirektor Thürauf, als der mit seiner Frau zum Gratulieren vor dem gewaltigen Ledersessel stand, daß die sofortige Verteilung einer großen Summe an die Arbeiterschaft bewerkstelligt werde. Über eine sehr erhebliche Stiftung nützlicher Art für die Kinder der Arbeiter wolle er noch mit seiner Schwiegertochter sich beraten und ihr die Freude gönnen, am Tauftage des Kindes der Arbeiterschaft davon Mitteilung zu machen. Die wunderhübsche dunkeläugige Frau Thürauf bat er, den Schulkindern eine festliche Nachmittagsbewirtung veranstalten zu lassen, und sie, die immer von der anmutigsten Gefälligkeit war, versprach, mit ihren drei Töchtern selbst Schokolade und Kuchen in befriedigenden Mengen anzubieten.

Likowski und Marning kamen, als die von den drüben garnisonierenden Herren dem Hause nächst Befreundeten, und der Geheimrat nahm ihren Besuch an. Er hatte ja ein unersättliches Bedürfnis, Klara zu preisen, seine eigene Freude auszusprechen. Sein ganzes Wesen war verwandelt. Er war nicht mehr der große Beherrscher, der den Kopf voll von Sorgen hat. Nur ein ganz einfach glücklicher Mann war er, voll Ehrerbietung vor der Würde einer jungen Frau, voll seligen Glückes, einen Enkel zu haben.

Als die beiden Herren fortgingen, sagte draußen Stephan Marning: »Ja, dies Kind hat sich eine bevorzugte Statt ausgesucht – solche Mutter – und solche Zukunft!«

Likowski verbreitete sich über Frau Klara Lohmann. Marning solle sich gefälligst erinnern, was er, der Hauptmann, schon für ein Urteil über Fräulein Klara Hildebrandt gehabt habe! Die Frage bleibe für ihn nur: Hatte der Gatte eine Ahnung, wer die Frau an seiner Seite sei?

Alles in Stephan wehrte sich dagegen, mit seinem Kameraden diese junge Frau und ihre Ehe zu besprechen. Er sagte nur: »O – man hat doch stets den Eindruck eines angenehmen Verhältnisses …«

»Angenehm – angenehm!« schalt Likowski. »Den Kuckuck auch – soll er wohl gar unangenehm sein? Ich weiß nich – ich trau’ ihm nich – nee – wo das mal drinn steckt – so ’ne Männer sind gerade wie die Gäule früher von der Kavallerie, als die noch Signale blasen ließ – wenn ein ausrangierter noch nach Jahr und Tag wieder das Signal ›Marsch‹ hörte, brannte er durch … Warten wir’s ab …«

»Lieber Likowski – Sie sind ein Pessimist – in allen Dingen –« sprach er.

»Kunststück – erlebt man was anderes als Enttäuschungen? … Die sind mein tägliches Brot … Haben Sie die Morgenblätter schon gelesen? Hab’ ich nich gleich gesagt – damals im Februar – dieser auffallende Besuch von Haldane – und dann die Pressekampagne hinterher – passen Sie auf, wir werden wieder eingeseift – na – uns, grad’ uns kommt’s ja zu, zu schweigen – warten – aufrecht bleiben –«

»Ich denke,« sagte Stephan Marning, um nur keinenfalls des Freundes Gedanken zu der jungen Frau und ihrer Ehe zurückkehren zu lassen, »wir haben noch Zeit – lassen Sie uns einen Rundgang durch das Werk machen – ich habe mir von Thürauf vor einiger Zeit die Erlaubnis erwirkt, nach Belieben hinein zu dürfen, und bin oft da – es regt mich unersättlich an …«

»Fabelhaft – Ihr Interesse! … Thürauf und der alte Herr sagen schon: der kommt noch zu uns herüber … Marning, das tun Sie mir nich an – nee – daß Sie um schnöden Mammon unseren Rock ausziehen …«

»Darum? Nie!« sprach Marning ernst. »Aber denken Sie denn, daß all die Herren, die bei Krupp und sonst da und dort in die Industrie oder die Schiffahrtsgesellschaften eintraten, das immer um des Mammons willen taten? Haben Sie damals, als wir – wissen Sie noch, es war am Geburtstag der jungen Frau – als wir zuerst auf dem Werk waren – mir eine neue Welt – ja, da haben Sie selbst gesagt: wir stehen doch Schulter an Schulter … Sie können ruhig sein, Likowski, mich wird schon kein Krupp, kein Erhardt, kein Thyssen berufen und mich vom Regiment weglocken. Ich bin ein gänzlich unbekannter armer Oberleutnant ohne großmächtige Beziehungen. Aber das ist wahr: wär’ ich nicht Offizier, möcht’ ich auf solchem Werk mitarbeiten – sei’s gegen noch so bescheidenen Lohn …«

»Gottlob,« sagte Likowski zufrieden, »daß Krupp und Konsorten keinen Schimmer von Ihrer Nebenliebe haben …«

Unterdessen kehrte bei dem alten Herrn eine Art von körperlicher Mattigkeit ein, die, weil durch seelische Beruhigung hervorgerufen, sehr wohltätig war. Früh schon wagte Leupold den Vorschlag, ob Herr Geheimrat nicht zu Bett gehen und seine Abendmahlzeit in bequemster Lage nehmen wolle.

Es schien auch, als wirke die feierliche Ruhe, die unten im Hause herrschte, durch Balken und Decken bis oben hinauf und besänftige alle Nerven.

Viel eher schon als sonst wohl erloschen alle Lichter im Herrenhaus. Leupold, der seit dem Schlaganfall des Geheimrats vor fünfviertel Jahren neben dessen Schlafzimmer seine Stube hatte, zog gerade seinen dunkelblauen Rock aus, als die elektrische Glocke noch einmal schrillte.

Dieser grelle, durchdringende Ton bedeutete zu unerwarteter Zeit immer Schreck. Heute aber begann ihm das Herz vollends rasend zu klopfen.

Denn eben hatte er mit einem abergläubischen Gedanken an die bevorstehende Nacht gedacht. Was konnte sich in ihr ereignen! Man hatte es manchmal erfahren, daß Leben und Tod am gleichen Tage in einem Hause einkehrten … Und die unsäglichen Aufregungen, die der alte Herr durchlitten …

Mit einem Schritt war Leupold an der Tür und öffnete.

Dunkelheit? … Kein Laut? … Angst befiel ihn … seine Hand tastete nach dem kleinen Knebel neben der Tür – das Licht an der großen Lampe, die grün umhangen vom Plafond herabkam, blitzte auf.

Er sah gleich: ganz ruhig lag der Geheimrat, wie immer fast sitzend, so viel Kissen stützten ihm den Kopf. Nur die Augen sahen in heller Wachsamkeit groß und blitzend ihm entgegen.

Er neigte sich ein wenig herab – doch noch in Besorgnis, wollte fragen …

Da packte die große Hand ihn um das Gelenk seiner Rechten. Und der alte Herr sprach: »Leupold – du weißt es seit damals – ich muß immer gerüstet sein. – Ich wollte dir nur sagen: Die junge Frau und das kleine Kind – das ist nun das Heiligste, was das Haus Lohmann hat … Und versprich mir: so lange du hier deine Gerechtigkeit findest – überhaupt noch dienen magst – verlaß sie nicht! Das mußt du einsehen: Deine Treue für mich ist keine ganze Treue, wenn du sie nicht auch der jungen Frau und meinem Enkel gibst …«

»Hat die gnädige Frau über mich geklagt?« fragte Leupold mit blassen Lippen.

»Nie!« sagte der Geheimrat stark. »Aber ich hab’ so allerlei ’rausgefühlt …«

Leupold stand beschämt, daß sein Herr ihn durchschaut habe. Und er sah wieder die junge Mutter auf dem weißen Kissen und das Bündelchen in ihrem Arm. Er war ja immer Zeuge vom Leben seines Herrn, und so schnell er sich auch heute morgen zurückgezogen hatte – den von Glück bebenden Ton vernahm er doch noch, mit welchem die junge Mutter sprach: »Der kleine Severin Lohmann.« – Da war doch auch über sein etwas vertrocknetes Junggesellenherz eine weiche Welle hingegangen – fast wie Rührung.

Er sprach in einer wunderlichen Mischung von Verstocktheit und Ergriffenheit: »Die gnädige Frau und der kleine gnädige Herr sollen sich auf mich verlassen …«

Der Geheimrat war von einem beklemmenden Aberglauben befallen gewesen. – Man hat es zuweilen erfahren, daß Leben und Tod ein Haus am gleichen Tage suchen … Deshalb konnte er sich nicht der Dunkelheit und der Nacht geduldig und vertrauensvoll ergeben. – Er mußte der geliebten Tochter und dem Kinde noch einen Treuen werben.

Nun aber löste sich alles in einem frohen Auflachen.

»Der kleine gnädige Herr! Schafskopf – wir sind keine Fürsten. Denkst so ungefähr: Seine Hoheit der Erbprinz haben geruht, seine Windeln voll zu – na … Wie ich meine Tochter taxier’, lehrt sie den Jungen feste erst mal gehorchen – auch dir! … Der kleine ›gnädige Herr‹ …«

Er hatte einen großen Spaß und sah im Geist das dunkle Stück Fell in den Kissen.

So trennten sich Herr und Diener mit einem glücklichen, humorvollen Lächeln. –

Am zwanzigsten kam Wynfried von Köln zurück. Einige Minuten nach sechs Uhr abends traf der Zug in Lübeck ein; das Auto war am Bahnhof; um sieben raste es auf das Hüttenwerk zu und hielt vor dem Herrenhause.

Klara hörte den Ruf der Hupe – hohl und dunkel.

Sie wartete sehr auf ihren Mann. In einer Art von Neugier – in Angst – in Enttäuschung. – Niemals hätte sie genau sagen können, in was für Empfindungen. Bald sprach die eine stark und bald die andere.

Von der Mutterschaft hatte sie eine ganze Umwandlung ihres seelischen Daseins erwartet.

»Über gar nichts im menschlichen Leben werden so viel überspannte, hochgeschraubte Phrasen geschrieben wie über das Wunder der Mutterschaft,« dachte Klara. »Das tun wohl Männer, die sich nur konstruieren können, was wir innerlich erleben – und Frauen tun es, die selber niemals ein Kind hatten.«

Sie war ganz dieselbe geblieben, die sie vorher gewesen. Nur eine verzehrende unendliche Liebe zu dem winzigen Geschöpfchen war in ihrem Herzen und erweiterte es gleichsam – als sei ihm ein Stück hinzugewachsen …

Sonst hatte sich nichts verändert …

Und sie war so getragen gewesen von dem Glauben, daß das Kind in ihr eine heiße Dankbarkeit für den Vater, eine neue, nun wirklich leidenschaftliche Neigung zu dem Vater mitbringen werde – wie ein Geschenk aus den dunklen Untergründen des Daseins.

Nichts davon … Alles war wie bisher. – Eine kleine Neugier war hinzugekommen, was Wynfried sage, wie er sich in die neue Würde schicken könne – die ihm vielleicht – Klara ahnte es – nicht so ganz zusagte …

Aber wenn sie ihn nur erst sähe! An dieser Schwelle eines neuen Lebensabschnittes voller Pflichten mußten sie sich von Auge zu Auge verstehen – ein Blick war mehr als alles Begrübeln …

Nun schrie die Hupe zweimal auf –

Klara wurde erregt. Das sah die Wärterin und mahnte mit der bevormundenden Familiarität solcher Frauen in solcher Lage. »Sie wissen so viel mehr als die jungen Mütter, die ihre Schülerinnen werden, und das neue kleine Leben ist ihnen anbefohlen – da werden sie naiv überheblich,« dachte Klara oft.

Die alte Doktorin Lamprecht, die sich dem Wahn hingab, sie pflege Klara mit, und sich nur wichtig in allen Räumen des Hauses zeigte, kam herein. Wynfried meine, nach sieben Uhr werde er hier wohl nicht vorgelassen … Die gute Alte trug das in einem neckischen, zärtlichen Ton vor, der Klara wehtat, als sei er voll verborgener Taktlosigkeiten. – Klara sah an ihr: greise Menschen haben, wohl aus Bedürfnis zum Frieden, so leicht rosige Phantasien und ein so kurzes Gedächtnis … Und die alte Frau tat längst schäker- und schäferhaft, wenn sie von Klaras Ehe sprach – deren Grund sie doch kannte …

Die geraden Brauen über den dunklen Augen rückten näher zusammen – Klara sah nervös aus – als schmerze sie etwas –

»Ich möchte meinen Mann sofort sehen,« sprach sie etwas kurz.

Und dann trat er ein. Niemand war zugegen. Die Vorhänge hatte man zurückgezogen, da die Sonne schon zu tief im Westen stand und ihre Strahlen diese Fenster nicht mehr erreichten. Es war hell.

Und wie durch eine Eingebung erriet die junge Frau, daß der Mann mehr unsicher, mehr verlegen war als gerührt und erhoben …

Er kam mit raschen Schritten auf das Bett zu – neigte sich herab und küßte Klara –

Sie sah ihn an – tief – tief. – Er lächelte dem Blick zu, der ihm doch fast unbehaglich war …

Er fragte alles, was sich nur bei diesem Wiedersehen aus dem Ereignis ergeben konnte. Und er küßte Klara zwischendurch wohl viermal die Hand und streichelte leise ihre Wangen –

Seine Herzlichkeit, seine Freundlichkeit war voller Rücksicht – wie sie es immer gewesen war, und nicht anders …

Nein – nicht anders …

Auch in ihm hatten sich keinerlei Wunder begeben –

 

»Willst du ihn nicht sehen?«

Gehorsam stand Wynfried auf und ging an das Bettchen, nahm mit vorsichtigen Fingern ein wenig den blauen Seidenstoff und die Spitzenüberhänge auseinander, atmete einen Dunst von neuem Flanell und lauer Wärme ein, der ihm gräßlich war, sah ein Stückchen Schädel mit dunklem Haar, schloß die Falten wieder zusammen und sprach: »Entzückend – hoffentlich sieht er dir ähnlich – ja – so’n Baby – das ist nun mehr was für Frauen –«

Und dann: »Aber ich darf nur fünf Minuten hier bleiben – die Lamprächtige hat es so befohlen …«

Er küßte ihr die Stirn.

»Ich bin rasend stolz, daß es ein Junge ist – und Vater ist ja wohl außer sich …«

»Ja,« sagte Klara, »Vater freut sich …«

Ganz einfach sprach sie das – jedes große Wort, jede Aufwallung und Erschütterung blieb aus. –

Es war sehr alltäglich …

Und die junge Frau war wieder allein. Sie schloß die Augen und drehte den Kopf zur Seite – sie heuchelte Schlummer, um nachzudenken.

Und sie konnte doch eigentlich gar nichts denken.

Wenn auf Monate abergläubischen Hoffens fünf nüchtern-nette Minuten kommen …

Das macht das Herz still –

Alles war dasselbe geblieben –

Klara wußte nun, daß sie ihre Tat der Dankbarkeit unter Verzicht auf jedes wahre Herzensglück durchführen mußte …

Nun ging das Leben bald wieder in den Alltag hinein, und nach einigen Wochen war man es schon gewohnt, daß eine neue Hauptperson vorhanden war, die meist schlief und zuweilen überaus kräftig schrie. Auch eine pompöse Amme in Mecklenburg-Strelitzer Tracht, in schwarzem Mieder mit buntem Brusttuch und weißen Hemdärmeln, mit rotbuntem Rande um den schwarzen Rock, sowie einer goldenen Haube, daraus weiße Tüllteile sich künstlich gesichtswärts bogen, hatte die Zahl der Hausbewohner vermehrt.

Denn Wynfried bestand sogleich darauf, daß man ein solches Wesen suche. Er erklärte dem Doktor Sylvester und seiner Frau, daß es ihm einfach gegen sein ästhetisches Gefühl gehe, wenn Klara den Jungen selbst nähren wolle. Er kümmerte sich sonst um nichts. Aber in diesem Punkte war er fest. Doktor Sylvester stritt energisch für das Natürliche. Aber über Klara kam auf der Stelle eine ihrem Wesen sonst fremde Mattigkeit. Sie konnte nicht kämpfen.

Sie hatte nur ein dumpfes Gefühl von einer unüberbrückbaren Verschiedenheit in großen Dingen. –

Sie mußte den stillen Mut haben, ein Opfer zu bringen. Über Wynfrieds Wünsche durfte man nicht hinweggehen – sie nicht, deren Aufgabe es war, einen Mann aus ihm zu machen – und sie spürte: hier war es ihm ein Bedürfnis, sich als Gebieter zu fühlen.

Er kümmerte sich sowieso wenig um das Kind. Ärgerlichkeiten sollten in ihm nicht aufkommen.

Bald bemerkte Klara, daß ihr Mann entweder die Veränderung im Familienleben als einen Abschnitt ansah, der ihm mehr Freiheit zurückgebe, oder daß er die letzten Nervositäten abschüttelte, die ihm noch angehaftet.

Er zeigte allerlei neue Interessen und eine frischere Stimmung von der erfreulichsten Ausgeglichenheit.

Unfern der Anlegebrücke, zu der die von Hainbuchenhecken geleitete Sandsteintreppe hinabführte, ankerten nun ein Motorboot und eine seegehende Schonerjacht. Hart an der Brücke schaukelte an seiner eisernen Kette das kleine Beiboot, mit dem man in ein paar Ruderschlägen zu den beiden Fahrzeugen kommen konnte.

Das Motorboot war viel größer und eleganter als das der Baronin Agathe Hegemeister. Es hatte in der Mitte eine Salonkajüte, aus deren rotgrauen Samtsofas man leicht Bettstatten schaffen konnte. Eine Kombüse und ein kleiner Toilettenraum schlossen sich an. Größere Ausflüge, mit Übernachten an Bord, ließen sich nötigenfalls im Motorboot ausführen. Es hieß dem Kinde zu Ehren »Severin«, während die Jacht den Namen »Klara« trug.

Die war schneeweiß und wirkte neben dem von Benzin getriebenen Mahagonigefährten südlich-kokett. Ihr Deck, von schmalen Pitschpinebohlen, strahlte von Glätte und Sauberkeit. Sie besaß im Raum eine Hauptkajüte, eine Damenkajüte, wo drei Damen es nicht allzu eng haben würden, Kombüse und große Mannschaftskojen, war also zu größeren Küstenreisen durchaus eingerichtet und seetüchtig, auch in den Sunden und Belten der holsteinischen und dänischen Gewässer zu kreuzen.

Ihre Mannschaft trug krebsrote Sweater zu weißen Hosen und krebsrote Zipfelmützen. In dieser munteren Tracht sah man sie wie Spring- und Kletterwesen an den Masten und mit den bleichgelblichen Seidensegeln flink hantieren. Sie wurden von einem »Schiffer« kommandiert, der einen marineblauen Jackenanzug mit Goldknöpfen trug und um seine Schirmmütze ein goldenes Band hatte.

Daß Wynfried plötzlich auf diesen Sport verfallen war, sagte dem Geheimrat in mancher Hinsicht wohl zu. Er sah es: nach einem Jahr des gesunden Lebens neben einer Frau, die ihm Achtung abforderte, in immer regelmäßiger werdender Arbeit, war seinem Sohne ganz einfach das zurückgekommen, was er in tollen Jahren verloren gehabt hatte: die gesunde Jugendkraft.

Und wenn sie sich im Sport betätigen wollte, konnte ihr hier, in der Nähe von Travemünde und dem berühmten Segelwasser der Lübecker Bucht, keiner verlockender scheinen als dieser.

Er freilich hatte dergleichen nie gebraucht, um sich zu erholen.

Diese seine Randbemerkung fand Klara etwas ungerecht und zu sehr: einst gegen jetzt.

»Solche Arbeitsgenies wie du sind auch selten. Außerdem: alles liegt anders jetzt. Der Mann von heute wird ja durch seine Arbeitsstunden so gepeitscht, daß er Ausgleich für seine Nerven haben muß, wenn er sich nicht zu früh verbrauchen soll. Du, Vater, und all die deiner Generation – ihr seid so nach und nach in das Hetzen hineingewachsen. Heut fängt’s ja schon für die Kinder mit dem Telephon an. Ich meine: Gottlob, daß Wynfried die Erholung im Sport sucht.«

»Ja – gottlob,« dachte der Geheimrat. »Wenn er alle Augenblick nach Berlin oder Hamburg führe, um sich zu erholen …«

Sicherlich, das hätte sein Vaterherz geängstigt – obgleich – Nein! Nein – solche Frau – und einen Sohn in der Wiege – da war wohl keine Gefahr mehr.

Klara fuhr fort: »Du hast mir einmal erzählt, daß seine Mutter sehr vergnügungssüchtig gewesen sei, und es hier nie lange aushielt. Sieh – es rumort doch gewiß auch etwas vom Blut seiner Mutter in ihm und will durch Abwechslung und Freude beruhigt werden. Wollen wir nicht dankbar sein, daß er sie in der Natur sucht?«

»Nimm ihn nur in Schutz,« sagte der alte Herr weich. Lieberes konnte er gar nicht hören. –

Die Taufe wurde mit einem großen Mittagessen gefeiert, zu dem von allen Seiten her, aus dem Mecklenburgischen und Lübeckischen, die Freunde des Hauses gefahren kamen.

Tags zuvor sprach Agathe Hegemeister endlich wieder vor. Sie war solange fortgewesen. Nun kam wie eine Erlösung diese Tauffestlichkeit. Agathe hatte ihren Eltern klar machen können, daß sie dabei nicht fehlen dürfe, ohne ihre intimste Freundin Klara schwer zu kränken. Und Agathe war beinahe schon umgekommen in dem Berliner Vorort. Man hatte den Eindruck, daß die Eltern der blonden Baronin sehr darauf bestanden, ihre Tochter jeden Frühling acht Wochen bei sich zu haben, weil sie wünschten, der Welt ein inniges Verhältnis mit ihr vorzuführen. Agathe konnte mit ihrer treuen Gerwald so oft nach Berlin hineinfahren, wie sie wollte, und dort nach Gefallen einkaufen und Geld vertun. Aber es sei dennoch immer eine versteckte Gefangenschaft, klagte sie der Freundin vor.

Ganz abgesehen von der beständigen Sehnsucht nach dem Einen, Bewußten, wegen dessen Kälte sie noch vor Gram sterbe. Klara werde es nicht glauben: keinmal, kein einziges Mal habe er geschrieben – sie habe keine Hoffnung mehr.

»Aber der Gram und die Hoffnungslosigkeit sind dir glänzend bekommen,« meinte Klara.

»Ich bin eine von den unglücklichen Konstitutionen, denen man ihren geheimen Jammer nie glaubt,« sagte Agathe bekümmert.

Aber dann raffte sie sich wieder auf und schwor, den Undankbaren mit Kälte zu strafen.