Dämmer und Aufruhr

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Sie hatte die Perücke abgenommen, dafür ein Handtuch um den Kopf geschlungen, ein paar weißliche Fäden hingen ihr über die Wangen. Sieh da nicht hin, sagte sie, war jemand im Flur, hast du gegrüßt? Sie hielt sich eine Hand über die Augen, es war schon die Geste der Entlassung, auch die Geste, mit der sie ein Gespräch platzen ließ. Im Flur war niemand, erwiderte ich, die meisten schlafen schon, bist du nicht auch müde? Ich ging zum Kühlschrank, zu der zweiten Flasche Wein. Nur diese Flasche und die Butter und etwas Käse, vom Essen übrig geblieben, lagen dort wie verbannt. Sie wollte keine Lebensmittel in ihrer Nähe, nichts, was verderben konnte; sie wollte auch keine Blumen, Blumen verwelkten nur, und man könne nicht genau sagen, wann das Verwelken einsetze, ja auch eine frische Blume verwelke schon, man sehe es nur nicht so, man wisse es aber und warte darauf, bis man es sieht, besser also keine Blumen. Vor allem aber nichts Angebrochenes im Kühlschrank, nur der verschlossene Wein durfte dort bleiben, die Flasche war dann schon die Flasche für den nächsten Sohnesbesuch. Ob ich sie heute Abend noch unbedingt öffnen müsste – muss das sein? Meine Mutter war auf einmal bei Stimme, und die Antwort hieß: Ja. Aber sie hätte auch heißen können: Ich kann nicht anders, als jetzt noch zu trinken, am liebsten die ganze Flasche, zum Glück muss ich ja morgen nichts tun, nur im Zug sitzen, warum also die Flasche nicht öffnen? Und ich zog den Korken und schenkte mir ein und setzte mich an ihr Bett, das volle Glas am Mund, und hätte auch gern noch gesagt, dass ich trinke, weil etwas in mir betäubt sein will, wenn die Betäubung durch die Arbeit, das Schreiben, gegen Abend nachlässt. Und dass alles, was sie in Verbindung mit mir stolz macht, an seidenen Fäden hängt. Ebenso gut hätte es auch anders laufen können, auf der schiefen Bahn abwärts; statt dem Erfolg und der Bekanntheit durch Erfinden und Übertreibungen im Roman, statt dem Verführen oder Rache-Üben allein mit Worten, ohne dass jemand dadurch zu Schaden kommt, ein tatsächliches Verlogensein, das einen als Erfolgsbetrüger erst in die Schlagzeilen bringt und zuletzt ins Gefängnis.

All das wollte der Sohn loswerden an dem Abend, dazu den Wein trinken, am besten aus der Flasche, was schon ein Stück reale Rache gewesen wäre: Seiner Mutter im Bett zu zeigen, welche Art des Trinkens ihm am nächsten war, und wenigstens machte er eine Andeutung, tat so, als ob, die Flasche am Mund, um schließlich doch das Glas auf eine nun in sich eingesunkene, wie in ihre Welt zurückgetauchte alte Frau zu erheben. Ich erinnere mich, auf ihr Wohl getrunken zu haben, ausdrücklich auf ihr Wohl und noch viele gute Tage, aber sie war bei der Ungehörigkeit hängen geblieben, der Flasche am Mund, und kippte dadurch noch weiter zurück, sie kam auf ihre frühen Hamburgjahre und meinen Vater: Der habe auch immer aus der Flasche getrunken, ja überhaupt gern Wein getrunken. Warum wollte er denn weg aus Hamburg, unbedingt in den Schwarzwald? Natürlich auch, weil es bei Freiburg die Weinberge gab, einen sogar in der Stadt, das hat er gleich erzählt, als er von seiner Erkundung zurückkam, und ein paar Wochen später saßen wir zu fünft in einem alten VW und fuhren in zwei Tagen durch ganz Deutschland, großer Gott!

Wieso zu fünft? Ein Nachhaken, auch wenn ich die Antwort kannte, aber sie sollte von dieser Weltreise, wie unsere Fahrt damals hieß, etwas erzählen, während ich den Wein aus dem Glas trank, und sollte nicht nur im Bett liegen und eine Art Schnappatmung vortäuschen. Wieso? Weil die Annegret dabei gewesen sei, das Kindermädchen, still vor sich hin heulend im Auto, weil sie schon Heimweh gehabt habe – ob ich die ganze Flasche trinken wollte? Sie unterbrach sich selbst, noch eine Methode, Gespräche platzen zu lassen; ich stellte die Flasche ab und bat sie, weiterzuerzählen, und sie rief mit einer jähen, fast gespenstischen Energie in der Stimme, ob ich mir überhaupt vorstellen könnte, wie jung sie und mein Vater damals auf dieser Weltreise in den Schwarzwald mit Übernachtung hinter Kassel gewesen seien? Und der Sohn konnte sich zwar nicht vorstellen, wie jung sie waren oder sich fühlten im Mai fünfundfünfzig, aber dass sie beide jung waren auf der Reise in eine neue Heimat, die nie ihre Heimat wurde, nur seine der Kindheit, ausgefüllt von ihrer so anderen Sprache, ihrer bewaldeten Landschaft und all den neuen Gerüchen, nach Heu, nach Traktorfett, nach Gülle und Tinte aus dem Tintenfass, das wusste er.

Ja, ihr wart jung, sagte ich. Aber wann sind wir angekommen? Und meine Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf, wie immer, wenn sie sich etwas ins Gedächtnis rief, an das sie eigentlich nicht erinnert sein wollte. Wann sind wir angekommen? Irgendwann gegen Abend waren wir in Freiburg und sahen das Münster und den Schlossberg mit Weinstöcken und haben uns umarmt, dein Vater und ich. Nur war Freiburg gar nicht das Ziel, sondern ein Vorort, dort gab es am Fuß einer alten Bergwerkshalde ein Gebäude, in das die Firma einziehen sollte, und wohnen sollten wir in Kirchzarten, einem Dorf in der Nähe. Es gab eine Straße, die führte an der Halde vorbei, einem Hang, der aussah, als hätten Bomben eingeschlagen, von dort ging es zwischen Wiesen und Waldhängen Richtung Kirchzarten, bis die Straße nur noch ein Feldweg war, und an einer Stelle am Wald sah ich einen Gasthof, den Gasthof zur Tanne, dort haben wir die erste Nacht im Schwarzwald verbracht – du wirst dich nicht erinnern, sagte sie, und ihr fielen schon die Augen zu. Aber die Bilder vom Ende unserer Weltreise waren nach allem, was sie gesagt hatte, ganz deutlich: Es gab Würstchen und Limonade, die Bluna hieß, und mein Vater, den ich bewunderte für sein Autofahren mit Zwischengas beim Schalten und das mit einem Fuß, noch dazu dem falschen linken, trank aus einem kelchförmigen Glas seinen ersten Wein aus der Gegend, in der er von nun an leben würde. Wir bezogen in dem Gasthof zwei Zimmer, eines die Eltern, das andere die Geschwister und das Kindermädchen; sie weinte schon wieder vor Heimweh, und mein Vater rief, sie solle sich zusammenreißen. Es war ein milder Maiabend, wir aßen im Freien, meine Mutter streckte sofort ihre Fühler aus nach einer Bleibe, bis wir in dem nahen Dorf etwas Passendes gefunden hätten, und die Wirtsleute erzählten von einem Hof, nur wenige Minuten entfernt, dem Hug’schen Hof, wo wir für den Sommer unterkommen könnten. Mehr sagten sie nicht, aber die Schauspielerin ohne Bühne malte schon die Idylle auf dem Hof aus, und ich sehe noch meine Eltern ihre Weingläser aneinanderstoßen, auf das Paradies, und sehe die Tränen der Annegret hinter ihrer starken Brille und weiß noch, wie ich das erste Wort in der so fremden Sprache aufschnappte, aus dem Mund des Wirts: Sel Glas, sagte er, statt dieses Glas, ob er sel Glas nachfüllen dürfe, und mein Vater rief Jawoll!, mit doppeltem L, und kam dann mit einer Erklärung, später bei jeder Gelegenheit wiederholt: Dass sel in der Sprache hier, im Alemannischen, für der, die, das stehe, für alle Artikel, und die Abkürzung von selbiges sei. Wie maulfaul praktisch, sagte er vielleicht noch, und seine schöne junge Frau schmiegte sich an ihn und summte den Refrain eines Liedes, das sie im Auto sogar gesungen hatte, als es auf Freiburg zuging: Schwarzwaldmädel hübsch und fein, du sollst meine Liebste sein. Wir Kinder sangen es mit, jedenfalls der bald Siebenjährige, überfällig für den Besuch einer Schule, dafür aber von hoher Aufmerksamkeit für alles, was die Erwachsenen sagten, besonders der Vater, und dazu noch, bisher von anderen Kindern weitgehend ferngehalten, ein Beobachter seiner selbst – ich erinnere mich auch an ein Streifen durch den Garten des Gasthofs zur Tanne, während die Eltern rauchten und das Kindermädchen meine kleine Schwester zu Bett brachte. Es gab dort in den Beeten bunte Kugeln auf Stecken, um die Vögel abzuhalten, eine Szenerie wie vor dem Landgasthof bei Kitzbühel, und gleich beim Anblick dieser grünen, blauen und roten Kugeln überfiel mich eine Sehnsucht nach meiner großmütterlichen Hüterin, die uns erst später – im Herbst, hieß es, aber was ist für ein Stadtkind der Herbst – vom fernen Hamburg in den Schwarzwald nachfolgen sollte, was aber hieß, dass ich einen ganzen Sommer schutzlos wäre.

Ja, so war das, sagte meine Mutter mit jetzt erschöpfter Stimme, als hätte sie das alles haarklein erzählt – alles, was mir, Jahre nach ihrem Tod, durch den Kopf gegangen ist und immer noch durch den Kopf geht –, und wie als Beleg für unsere einstige Weltreise und den ersten Abend in der Fremde summte sie sogar noch die alte Melodie vom Schwarzwaldmädel, vermischt mit einem Ringen nach Luft, und der Besuchersohn schenkte sich Wein nach und leerte das Glas in einem Zug. Sie sah es nicht mit ihren zugefallenen Augen, trotzdem war sie noch wach, voller Willen, und erteilte einen präzisen Auftrag, ihr noch ein Wasser für die Nacht zu bringen, das Wasser aber aus einer Flasche, die nicht auf dem Balkon stand, nur ein wenig kühl ist, weniger als lauwarm, und nicht zu voll das Glas – etwas mehr als die Hälfte, hörst du? Und der Sohn hörte heraus, was sie neben dem Wasser eigentlich wollte, ihren Willen durchsetzen, also ging er zur Küchennische und füllte ihr Glas mit Wasser von Vittel, das nach nichts schmeckt und weder lauwarm ist noch kalt, nur flüssig – ich füllte es bis zu einer Markierung, die nur der sah, der meine Mutter kannte, lebenslang, ging wieder zum Bett und stellte das Glas auf den Nachttisch, die dafür vorgesehene Ecke, nah am Rand, aber auch nicht zu nah. Es folgte das Herunterbeugen und zuerst ein Kuss auf die Stirn, während ihr Mund schon leicht vorschnappte für den eigentlichen Gutenachtkuss, wenigstens andeutungsweise auf die Lippen, bevor, auf ihr Geheiß, das Licht am Bett zu löschen war. Nur eine Lampe brannte jetzt noch in dem Appartement, eine Stehlampe mit grünem Schirm in der Sitzecke, sie sollte die ganze Nacht anbleiben, gegen die Dämonen, auch wenn sie das nicht aussprach, nur sah man es ihr an. Da war ein Bangen in ihren Augen, wie bei Kindern, die erstmals für einen Abend allein gelassen werden, und ich sah sie ganz in diesem Bangen, dieser stillen Furcht, sah sie plötzlich als die, aus der ich, wenn es sie nicht mehr gäbe, sie mich allein gelassen hätte, in der Erinnerung erzählend etwas machen würde, das im Moment noch verschwommen war, eine Geschichte ohne Titel. Dann bis morgen, sagte ich, und sie sagte – nicht das erste Mal an dem Abend –, ihren Herrn Abban bitte zu grüßen, wenn der im Foyer sitze, und ich versprach es und entfernte mich rückwärts und sah noch, wie sie an ihren Handtuchturban griff, bereit, seinen Knoten zu lösen, das dünne weiße Haar zu befreien, das der Sohn nicht sehen sollte, noch nicht. Ich ging zur Tür und wünschte ihr jetzt erst gute Nacht, rief es ins Zimmer, Gute Nacht, und sie antwortete mit fast fester Stimme aus dem abgetrennten Schlafbereich, Gute Nacht, mein Sohn! Ein Wort wie eine Hand, die noch einmal nach mir griff, aber da trat ich schon in den Flur und schloss die Tür hinter mir – blieb noch die Arbeit des Einschlafens in der Stille der Wohnanlage, auch im Gästeflügel, aber schon in dem Flur so umfassend, dass man versucht war, aufzustampfen und laut gegen die Wände zu reden. Ich lief an der Fahrstuhltür mit dem Tageswort von Goethe vorbei, lief die Treppe hinunter und durch einen Gang in das Foyer, und dort saß tatsächlich einzig und allein Herr Abban im dunklen Anzug mit Schlips in einem Sessel, ein schmaler, in sich gekehrter Herr, von meiner Mutter, als sie noch das Restaurant der Wohnanlage betreten hatte, als Tischnachbar auserkoren. Er schien zu schlafen, ich ging auf Zehenspitzen weiter, aber da murmelte er ein Guten Abend, die Augen weder auf noch zu, und ich erwiderte den Gruß, verbunden mit seinem Namen, Guten Abend, Herr Abban. Mehr konnte ich nicht sagen, auch wenn es gut gewesen wäre, ihm noch Grüße meiner Mutter zu bestellen, gut für seinen Frieden in dem Sessel, und so wurde es geradezu ein Davonlaufen in den Flügel mit den Gästezimmern, im Grunde die Flucht vor dem Alter.

 

Ich bewohnte das Zimmer, das auch meine Schwester während ihrer ja tagelangen Besuche, immer bis zum Gehtnichtmehr an der Seite der Besuchten, für ein paar Stunden Schlaf nutzte. Dort lag im Kühlschrank Wein bereit, die eiserne Reserve des Sohns, und ich trank im Stehen aus der Flasche, wie es mein Vater getan hatte, wenn es ihm an Sommertagen, aus reiner Lebensfreude, so gefiel, bis sich eine Chemo zwischen ihn und den Wein oder überhaupt das Leben stellte. An unserem ersten Abend im Schwarzwald aber hatte er sich darin gefallen, aus dem neuartigen kelchförmigen Glas mit seinem dicken geriffelten Stiel zu trinken und es immer wieder an das Glas seiner jungen Frau zu stoßen, vielleicht als Auftakt zu einer Umarmung im gemeinsamen Gasthofbett, der ersten Umarmung in seinem Arkadien, auf das er gesetzt hat, einer Gegend der Süße und des Lichts nach dem grauen Hamburg, während die Kinder bei der heimwehkranken Annegret aus Moorfleet lagen und dem Sohn vor dem Einschlafen noch etwas durch den Kopf ging – ich glaube, mich daran zu erinnern, aber das kann auch an dem Berauschenden liegen, seit die Arbeit des Schreibens am letzten Glücksort der Eltern geschieht, in ihrem Zimmer mit Meerblick für wenige Tage: Warum wohl das Dorf, in das wir ziehen wollten, Kirchzarten hieß.

6

Der Name des neuen Lebensorts südöstlich von Freiburg im Dreisamtal erschien mir als Willkommensgruß oder Verbeugung vor meinem Familiennamen, eine Auffassung, die dem bald Siebenjährigen half – endlich war ich in die Schule gekommen, zu anderen, echten Kindern, etliche noch barfuß unterwegs –, damit fertigzuwerden, dass sein weltenferner norddeutscher Vorname bei den Dörflern zu einem landläufigen Bruno wurde. Und wem das so fremde Kind mit Baskenmützchen auf einer der noch ungeteerten Dorfstraßen über den Weg lief, der sah es an und fragte: Wem g’hörsch au’ du?

Der Umzug in den Schwarzwald im Frühsommer fünfundfünfzig, die kleine Schwester noch keine drei, hat alles bisherige Kindsein buchstäblich gesprengt. Wir wohnten in den ersten Monaten, während des ganzen Sommers bis in den Herbst hinein, auf jenem Hug’schen Hof weit außerhalb von Kirchzarten, einem Bauernhof mit Getier aller Art in Verbundenheit mit den Menschen. Da gab es Schweine im Pfuhl und ein sich drängendes Vieh in warmer Stallung, gewaltige Gäule, dampfend um ihre Nüstern, und Puter mit rot schwellendem Kropf; es gab einen Höllenhund und zahme Kaninchen, rundliche Ferkel und eine gewaltige, kaum auf die kurzen Beine kommende Sau; es gab Hühner und Gänse, Katzen und Mäuse und Kälber mit Augen, die das Stadtkind vertrauensvoll ansahen. Und inmitten all dieser Lebendigkeit, wie dessen Achse, fuhrwerkte ein Altknecht, der Blasius, genannt Bläsi, für die Geschwister eine Art Zentaur durch seine Figur und eine tierlautartige Sprache. Er saß entweder auf dem Traktor oder war im Stall zu finden, wo sich auch der frisch Eingeschulte oft aufhielt und gebannt zusah, wie sich das Vieh gleichmütig entleerte. Die Volksschule lag mitten im Dorf, der Weg dorthin mit einem Ranzen auf dem Rücken, jeden Morgen, kam mir unendlich weit vor, nur gab es bis zu den Sommerferien einiges nachzuholen, weil die anderen schon seit Ostern eingeschult waren, Buben und Mädchen, und die Gescheiteren bereits alle Buchstaben auf ihre Schiefertafeln schreiben konnten. Der Neue hinkte hinterher, dafür gewann er einen ersten Freund, seinen Banknachbarn mit rotem Haar und Sommersprossen, Bertram Auerbach aus einer richtigen, großen Familie, fünf Kinder, die Eltern und eine Oma, alle unter einem Dach; noch war es keine Alltagsfreundschaft, der eine wohnte im Dorf, der andere außerhalb. Aber wenn der Junge aus dem fernen Hamburg abends mit Vater und Mutter, kleiner Schwester und Kindermädchen, den Knechten des Hofs und den alten Hugs, denen alles gehörte, um den bäuerlichen Tisch saß, versuchte er, immer ein Wort von der so fremden Sprache aufzugreifen, um es am nächsten Tag in der Schule anzuwenden und den Banknachbarn vielleicht noch mehr zu gewinnen.

Unvergessen, wie ich erstmals den Sinn eines Ausdrucks erfasste, der jeden Abend beim Essen fiel, wenn der alte Bauer den jungen Knechten oder auch seinen Logiergästen etwas erklärte, vom Wetter, vom Vieh, vom launischen Herrgott, und die kleine Rede stets mit diesem dunklen Ausdruck oder Wort, vuhdämmhär, beschloss, was ja nur heißen konnte: von da her oder deshalb – für einen, der die Welt durch die Sprache entdeckt hat und dem die Sprache darum als Welt erschien, ein Kinderspiel. Alles andere als ein Spiel, die Nagelprobe war es dagegen, den neuen Ausdruck am nächsten Tag in der Schule tatsächlich zu gebrauchen, möglichst mit der gleichen, leicht dunklen und versteckt besserwisserischen Stimmlage am Ende einer Erklärung, etwa der für meinen seltsamen Namen: Weil man mich nach einem Onkel in Amerika benannt habe, als Dank für seine Care-Pakete nach dem Krieg, vuhdämmhär. Und dieser so welterschließende Sprechakt wurde am abendlichen Esstisch dann wiederholt, zum Schrecken und Entzücken meiner Mutter, während die Knechte immerhin aufsahen von den Holztellern mit Speck, den sie von der Klinge ihrer Sackmesser aßen – noch ein Wort, nach dem ich schnappte. Mein Vater trank zu dem Speck den Wein der Gegend, und die Schauspielerin ohne Bühne machte mit den Knechten Konversation, in einem Operettenwienerisch, das in völligem Gegensatz stand zu der Sprache, die der frisch Eingeschulte sich anzueignen bemüht war, eine Sprache, die das sehr hamburgische Kindermädchen – damals Mitte zwanzig – noch mehr in Heimweh stürzte, auch wenn sie sich zusammennahm beim Essen, nur unter der Brille die roten Augen rieb, zitternd in den Brüsten, wenn sie ein Schluchzen unterdrückte für meinen Vater (der bei Gelegenheit ihr heimlicher Tröster werden sollte).

Der große Hof mit seinen Stallungen hatte viele Neben- und Zwischenräume, Gelasse im Boden und Kammern unter dem Dach, ich könnte nicht sagen, wo und wie wir dort gewohnt haben; umso genauer dafür die Erinnerung an Geräusche und Gerüche und immer neue Wörter, die mir zuflogen. Neben all den Tierlauten und den Wolken von Gülle und Heuduft oder dem von Most aus Krügen gab es aus jedem Mund das Alemannische wie eine Musik, die ich aufnahm. Und oft mischten sich Wörter mit bis dahin unbekannten Gerüchen wie dem von altem Zeitungspapier, in handlichen Fetzen auf einen Nagel gespießt, und feuchtem Holz in Gestalt eines Verschlags, darin ein Sitz mit Loch in der Mitte: der Abort, wie die Toilette auf dem Hof und auch in der Schule hieß, gesprochen mit doppeltem B und leichter Verschleppung des A. Unvergessen mein erster Blick in die Grube unter dem Loch im Holzsitz, auf ein bräunliches Schimmern in der Tiefe, und wie der alte Hofbauer, Pius Hug, dem Hamburger Jungen, dem es grauste vor dem Verschlag voller Spinnweben und Gestank, Verständnis entgegenbrachte, mit wunderbaren neuen Worten: Wenn de nur saiche musch’, Bub, brusch’ it auf de Abbort, gohsch’ dehinder.

Es war der Nachklang dieser Sprache, der den Buben zu tragen begann auf dem täglichen Weg zur Schule, der ihn aber auch in Erregung stürzte wie in ein Lampenfieber, weil es galt, in der Schule, genau diesen Klang zu treffen, ohne als Betrüger dazustehen; ich ging den langen Weg vor mich hin murmelnd, ein Repetitorium im Gehen, immer in dem Bewusstsein eines möglichen Skandals. Der Hof lag, wie gesagt, weit außerhalb des Dorfes, etwas erhöht an einem Hang, der Weg führte zunächst ein Stück bergab und dann durch Wiesen und schon wogende Felder vorbei an zwei Kruzifixen, das erste aus rostigem Eisen, wenig vertrauenerweckend, das zweite aus altem bemoostem Stein hinter einem Brückchen über den Rotbach, und vor diesem schöneren Kreuz blieb ich immer stehen für ein Gebet: dass mein Vater mich abholen möge von der Schule. Und manchmal wurde das Gebet erhört, ich kam mittags aus dem Gebäude, und da stand schon der graue VW, aus dem Fahrerfenster hing ein gebräunter Arm mit Zigarette in der Hand, welch eine Rettung. Meistens aber blieb nur der Rückweg zu Fuß, der Bub mit Ranzen trödelte durch die Wiesen und Felder, die Mittagssonne warm im Rücken, nicht ahnend, was sich dabei schon in ihm sammelte, ein bleibendes Empfinden von Heimat – das ist mein Tal, mein Boden.

Erst eine höhere Gewalt beendete diesen prägenden Schulweg: Ich kam unter eins der Pferde auf dem Hof, durchgegangen, weil es der launische Herrgott so gewollt habe. Es galoppierte über mich hinweg – bühnenreife Schreie meiner Mutter, während mein Vater wie auf zwei Beinen heraneilte. Er trug mich zum Auto, ein aus Wunden an allen Körperteilen blutendes Kind, er stoppte die Schreie der Mutter und lud sie mit ein, tat, kriegserprobt, das Nötige und fuhr rasend dorthin, wo mit Hilfe zu rechnen war, zum Dorf, und bei dem ersten, dem rostigen Kreuz kam es zum Zusammenprall mit einem entgegenbrausenden Motorrad. Der abgeworfene Fahrer wurde gleich mitgenommen, zwei Blutende saßen jetzt im Wagen, und natürlich wusste der Einheimische, wo der Dorfarzt wohnt, und meine Mutter dankte laut dem lieben Gott für das Glück dieses zweiten Unfalls, der mich ohne Umweg in rettende Hände brachte. Es waren die Hände von Dr. Eckart mit großem Haus, von da an unser Kontakt in Kirchzarten, bezahlt mit meinen Wunden, die aber so eindrucksvolle Verbände nötig machten, dass ich von den restlichen Schultagen vor den Sommerferien befreit wurde. Und auf einem Bett im Schatten eines Apfelbaums – dem ersten Bett, das je auf dem Hug’schen Hof ins Freie gestellt wurde, durchgesetzt von meiner Mutter – lernte der allseits bedauerte Patient unter bestmöglichen Umständen die ihm noch fehlenden Buchstaben des Alphabets mit der für ihn falschen Hand zu schreiben. Nur das Alphabet an sich, die richtige Reihenfolge der Buchstaben, hat der vom Unterricht Befreite zu lernen versäumt, jedenfalls ab dem N, ein Mangel, der sich nicht beheben ließ, der sich immer wieder zeigt, und wenn es hier nur im deutsch-italienischen Wörterbuch ein Wort etwa mit R am Anfang zu suchen gilt – R wie Reibeisen, grattugia, um dem afrikanischen Zimmermädchen zu erklären, warum ich für den Balkonstuhl ein Sitzkissen möchte.

Es war ein Frühsommer der Rekonvaleszenz in der bäuerlichen Umgebung, einer Aneignung der neuen Welt von meinem Lager aus. Aber kaum waren die Wunden etwas verheilt, begann ich mit Streifzügen rund um den Hof und erlebte die erste Ernte, das erste Gewitter, den ersten Gewaltausbruch, eine Prügelei zwischen Jungknechten, und auch das erste geschlechtliche Schauspiel: Eine der Mägde, die für einen Unbekannten mit schwarzem Hut den Rock hob, sich ihm darbot mitten am Nachmittag, ihm das behaarte Geheimste zeigte und die Möglichkeit gab, sich an sie zu pressen, ohne den Zeugen im Heu zu bemerken. Von da an war es eine Zeit des verstörten Alleinseins, mit immer ausgedehnteren Streifzügen in die Umgebung – ich sprach mit mir selbst, wie die Leute auf dem Hof sprachen, die neue Sprache wurde mein Begleiter. Es war eine Zeit der Entdeckungen, von meiner Mutter im Ehejahresbericht nur mit wenigen Sätzen aus ihrer Scheuklappensicht erwähnt: Wir lebten auf einem wunderschönen Bauernhof, unser kleiner Sohn lernte dort Lesen und Schreiben. Wir aber gingen ans Werk und versuchten, aus dem Hoffnungsfaden, der uns nach Freiburg gezogen hatte, ein Tau zu machen. Privat kam uns dabei ein Wunder zu Hilfe, wir fanden in Kirchzarten ein Haus mit Garten, das wir nach dem Sommer beziehen konnten, die Besitzerin, eine liebe alte Dame, hat ihr Zimmer unter dem Dach. Wieder einmal war es ein Aufatmen, und das Wunder für die Firma, dachten wir, würde bald auch noch kommen. Man muss an solche Wunder nur fest glauben!

 

Das Haus lag in der Höfener Straße vierundzwanzig, und die liebe alte Dame war schon etwas umnachtet, für meine Schwester und mich war sie nichts als unheimlich, zumal sie nie in Erscheinung trat, ein Art Gespenst oben im Haus, ein Haus, mit dem wir Kinder Glück hatten durch den alten Garten (groß genug, dass dort längst ein weiteres Haus steht), ein Garten mit Obstbäumen, einer Tanne und Kieswegen, ja sogar einem kleinen verwilderten Labyrinth, angelegt aus mehreren Hecken, und dann gab es noch eine hohe Birke, deren Äste über einen Schuppen ragten, meinem Spielreich. Inzwischen hatte die Volksschule wieder begonnen, und durch eine neue Aufteilung von Jungen und Mädchen kam ich in eine Klasse mit der Tochter des Arztes, der mir die Wunden aus dem Frühsommer behandelt hatte – Doris Eckart, weichwangig, katzenäugig, dazu mit schönem Mund und Pferdeschwanz, erfüllte alle Voraussetzungen für die ersten schwärmerischen Gefühle. Und als dann auch noch im großen Haus ihres Vaters ein Zimmer für meine aus Hamburg nachgezogene Hüterin frei wurde, dort ein neues Exil entstand, ich wieder pendeln konnte zwischen dem Machtbereich der Eltern und einem Schlaraffenlandzimmer mit dem summenden, halb singenden Atmen der einstigen Sängerin, mit ihren so verlässlichen kleinen Geschenken und all den Extramahlzeiten, war dort einer Kinderliebe Tür und Tor geöffnet. Immer wieder saß ich auf den Stufen zum Arzthaus neben Doris, ergriffen von ihrer Schönheit, und im elterlichen Garten spielte ich mit dem Schulbanknachbarn Bertram, endlich um die Ecke wohnend, ergriffen von der Idee der Freundschaft: das erste Stück einer nicht weiter auffallenden, einer gewöhnlichen Kindheit – von der Chronistin dieser Zeit mit keinem Wort erwähnt. Im jährlichen Ehebericht meiner Mutter, dem für das Jahr neunzehnhundertfünfundfünfzig, geht es fast nur um die Finanznöte der kleinen Firma, von welcher Seite mit welchen Mitteln etwas Geld besorgt werden könnte, mal fünftausend Mark, mal zehn- oder achttausend, jeweils Beträge, die alles hätten zum Besseren wenden können – Dieses ständige Zittern, ob es uns morgen noch gibt, heißt es da an einer Stelle, dieser tägliche Kampf um etwas Balance, den nächsten gesicherten Tag! Und war es wieder einmal in letzter Sekunde geglückt, ein Finanzloch zu stopfen, dankte die Verfasserin in großen Lettern dem lieben Gott: der fest an ihrer Seite stehe, immer. Sie und ihr bewunderter Mann und Gott als Retter in höchster Not waren die Hauptakteure in dem Bericht, die Kinder blieben im Hintergrund, als Glückslieferanten. Zweifellos gab es eine Liebe für sie, überschäumend, ein Auge für ihr Tun gab es nicht, weder für den Sohn, der schon in einer eigenen Welt lebte, mehr mit sich sprach als mit anderen, noch für sein Schwesterchen, das weiter die Schaukelbewegungen machte, sich nur langsam von dem Familienhinundher ihrer ersten Jahre erholte – auch das ein täglicher Kampf um Balance. Der große Bruder fand seinen Ausgleich dagegen auf dem niederen Dachboden des Gartenschuppens, in einem dämmrigen Reich, das er zu gestalten anfing, indem er seine frühen übermächtigen inneren Bilder nach außen kehrte: Ich baute mir dort eine Geisterbahn.

Die kleine Schwester, nunmehr vier und im Kindergarten, behielt ihr Los, eben kleine Schwester zu sein, hintanzustehen, für sich, während der Bruder die Gespenster tanzen ließ, vor Augen noch das Bild der Mutter, nackt auf dem Holzbalkon, rote Blüten auf den Lidern, vor Augen auch das blonde Mädchen aus Moorfleet mit heruntergezogener Hose, wie es sich zappelnd der Bestrafung beugt, die Bilder der Magd, die den Rock hebt und den Mann gewähren lässt, seine Stöße empfängt, oder die Köpfung eines Huhns vor dem Hofabort. Und so entstanden Nachempfindungen in Form von Installationen unter dem Schuppendach, schauderhaft wie das Gerippe in der echten Geisterbahn, wenn es jäh erscheint, ein Bilderparcours, um damit den eigenen Schauder zu vertreiben. Da gab es Puppenbeine an Drähten und einen Stoffbären ohne Augen; es gab eine entkleidete Puppe, aufgespießt auf einer Gabel, aber auch einen nassen Lumpen, der von einer der Latten herunterhing. Und als Höhepunkt gab es ein Hinterteil wie das des bestraften Mädchens, geformt aus Knetgummi, allen vier Stangen einer Packung, der roten, der grünen, der blauen und der weißlichen (noch ein Kindheitsgeruch: Knete an den Fingern), einen Po mit brennender Kerze darin. Ihr Licht war das einzige auf dem Dachboden, durch den man nur kriechen konnte, und es grenzte an ein Wunder, dass der ganze Schuppen bei diesem so ernsten Spiel – mit der unerschrockenen kleinen Schwester als erster Besucherin der Geisterbahn – dabei nicht abgebrannt ist.

Alles, was mit Feuer zu tun hatte, jede Flamme unter meiner Kontrolle, schlug mich in ihren Bann – einen Jungen, der nun schon fast wie die anderen in der Klasse sprach, aber nicht wie die anderen war, etwa das Foto von sich und dem größten Boxer bei sich trug. Ich stand mit Freund Bertram und dessen Brüdern im Herbst vor einem der Kartoffelfeuer auf den nahen Feldern, fachte es mit an, dass die Funken sprühten, und das Beweisfoto steckte in meinem Anorak; ich spielte mit Doris, der Arzttochter, zündelte auf den Stufen zu ihrem Elternhaus und suchte nach einer Gelegenheit, meine Berührung mit der Filmwelt zu erwähnen. Bisher hatte ich das Foto nur Freund Bertram gezeigt, ihm als Geheimnis anvertraut; ich hielt es zurück wie einen Trumpf, den auszuspielen jederzeit rettend sein könnte, besonders auf dem jetzt zwar kurzen, aber dafür gefahrvollen Schulweg, gefahrvoll, weil dort auch ältere Jungs liefen, solche, die in der Schule wegen Frechheit Stockhiebe bekamen, bis sie brüllten, und die ihre Prügel nach der Schule gern weitergaben. Dieser Weg über eine noch ungeteerte Dorfstraße führte vorbei an einem Haus mit gelegentlich eigener Schlachtung, mal schrie dort ein herbeigezerrtes Schwein, mal stürzte das Gedärm aus einem aufgeschlitzten Leib; außerdem war da noch eine Blechnerei, vor der immer Lehrlinge standen und rauchten. Und eines Tages packten sie den Bruno, der ich war, den Imitator des Alemannischen, und stießen ihn vor sich her in den Werkraum, dort sollte er in ein gerade gefertigtes Rohr Sätze nachsprechen, und er glaubte, sich aus der Affäre ziehen zu können, indem er seinen Trumpf auswarf und Ich! sagte, mit der ganzen Impertinenz dieses persönlichsten Fürworts – Ich und Max Schmeling. Die Lehrlinge aber beugten sich über das Foto und befanden es für unecht, für Aufschneiderei, erst das Autogramm auf der Rückseite tat seine Wirkung: Der Kräftigste versetzte dem Filmkind einen Hieb, dass es umfiel. Er wollte es prüfen, prüfen, ob der Boxer ihm etwas beigebracht habe, aber es gab keine Gegenwehr, nur ein leicht entrüstetes Heiland, wie ich es bei anderen, wenn sie etwa im Schwitzkasten waren, gehört hatte. Und da drückte der Schlägerlehrling den Aufschneider mit dem Mund an die Rohröffnung und sprach ihm Wörter vor, die er laut rufen sollte, Brutsäckel, Arschlecker, Futt, und er rief sie ins Rohr, nur genügte das noch nicht. Er sollte auch eine Gotteslästerung rufen, etwas vom Vaterunser, fast die Worte, für die ihn seine Mutter mit dem Holzbügel geschlagen hatte, Vaterunser, der du bist im Arsch, sags, Kerle! Er drohte, das Foto zu zerreißen, also rief ich die Worte ins Rohr, einmal, zweimal, dreimal, dann durfte ich gehen, samt Max Schmeling: der mir nicht hatte beistehen können und von da an zu Hause blieb, verwahrt in meiner Geisterbahn auf dem Dachboden des Schuppens.