LARP: Nur ein Spiel?

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KONZEPTION UND GRUNDIDEE DER STAPELFELDER ROLLENSPIELE

In der Jugendbildung, die schon lange erlebnispädagogische Elemente einsetzt, ist Live-Rollenspiel eine nicht ungewöhnliche Methode. Mir ist allerdings nicht bekannt, dass diese Methode auch anderswo in der Erwachsenenbildung eingesetzt wird. Das ist unvertraut und erscheint vielen unseriös.

Auch als ich Bildungsarbeit mit Märchen begonnen habe oder Bogenschießen in Lernprozesse integriert habe, gab es Misstrauen (Kinderei, Gewaltverherrlichung), freilich immer nur bei denen, die nicht an solchen Bildungsangeboten teilgenommen hatten.

Bislang gab es – neben kürzeren Rollenspiel-Elementen in Seminaren mit Familien und Unternehmen – drei Live-Rollenspiel-Wochenenden in der Katholischen Akademie. In jedem ging es um eine Grundfrage des Lebens, aber – zumindest für mich – auch um eine Perspektive des Evangeliums, freilich in aller Offenheit, als Deutungs-Angebot, nicht als Vereinnahmung.

Die Teilnehmenden waren überwiegend „Ersttäter“, mit denen ich in Kursen über meine Erfahrungen mit Live-Rollenspiel gesprochen hatte. Allerdings kamen die Erwachsenen, die die Mehrheit bildeten, häufig aus Berufen, in denen sie mit Menschen arbeiten. Das Alter war sehr gemischt. Beim letzten Wochenende war die jüngste sehr aktiv Mitspielende 10 Jahre alt, die älteste gut 80 und fast blind, und sie hat diese Blindheit wunderbar in ihre Rolle integriert. Ebenfalls ganz unterschiedlich waren der soziale und weltanschauliche Hintergrund – Handwerker und Therapeutinnen, Computer-Fachleute und Pädagogen, Kirchennahe und Kirchenferne, eher traditionell Lebende und Menschen mit hochmodern-mobilen Lebensweisen.

Die Plot-Idee wurde in einer kleinen Gruppe erfahrener Rollenspieler vorbereitet, wichtig war uns dabei, dass es viele „offene Stellen“ gab, an denen die Mitspieler wirklich entscheiden konnten, in welche Richtung sich das Spiel entwickelt.

Im ersten Rollenspiel-Wochenende Das dunkle Labyrinth ging es um eine relativ schlichte Spielidee: eine Verwünschung lag auf der Spielwelt Cal’Annon (Tor des Lichts). Diese konnte nur im Miteinander völlig gegensätzlicher Charaktere und im Ausgleich widerstrebender Interessen aufgehoben werden, wobei, das war so nicht vorplanbar, gerade die scheinbar Kleinen den entscheidenden Beitrag leisteten.

Beim zweiten Con Sternenstaub ging es um die Doppeldeutigkeit eines vom Himmel gefallenen kostbaren Sternes, und damit um die Doppeldeutigkeit all dessen, was uns zufällt, uns geschenkt wird, mit dem wir begabt sind. Es lag an den Mitspielenden, ob aus dem zu Sternenstaub zerfallenen Stern nur Neid und Zwietracht erwachsen würde oder ob die Gemeinschaft den plötzlichen Reichtum und die Aussicht auf magische Macht aushalten würde. Die Spiel-Gemeinschaft entschied sich im Spiel (auch das war offen) dann dafür, den Stern mittels eines Rituals wieder zurückzuschicken.

In der bislang letzten und nach Meinung aller Mitspielenden besten Con Schattenspiel ging es um Schuld und Sühne. Ein Mord wurde begangen, um einen anderen Tod zu rächen. Die Mörderin wurde enttarnt und zum Tode verurteilt, aber dann zeigte sich, dass auch die Anklagenden nicht unschuldig waren, freilich auch, dass die Mörderin mit ihrer Rachsucht den Falschen getroffen und nur den Teufelskreis von Unrecht und Vergeltung beschleunigt und verstärkt hatte. Es gab Untersuchungen und Gerichtsverfahren, doch am Ende wurde aus Rache und Zorn Trauer, und aus Trauer die Einsicht, dass in raschen Verurteilungen die Gefahr von mehr und neuem Unrecht liegt. Das war keineswegs vom Plot zwingend vorgegeben, auch die Möglichkeit weiterer Hinrichtungen war im Spiel; und die Chance und Notwendigkeit von Versöhnungsbereitschaft und Vergebung wurde nicht gelehrt, nicht einmal ausdrücklich reflektiert, und doch von der übergroßen Zahl der Spielenden erlebt.

Spieltechnisch empfanden viele Anfänger es als Hilfe, dass die Spielleitung auch Rollen vorschlug bzw. die gewählten Rollen mit Hintergrund anreicherte.

Rollenspiel ist und bleibt eine Ausnahme im Bildungsangebot unserer Akademie, wie der Erwachsenbildung insgesamt. Andere phantastische (z.B. Märchen) oder erlebnispädagogische (Bogenschießen, Schwertkampf) Elemente sind und bleiben in meiner Arbeit wichtiger und häufiger. Aber die Methode Live-Rollenspiel ist eine originelle Chance, mit Menschen Erfahrungen zu machen, die nicht zwingend, aber einladend offen auch zum Nachdenken über Menschlichkeit und Mut und das Geheimnis des Lebens führen können.

DR. HEINRICH DICKERHOFF hat katholische Theologie und Geschichte studiert und ist Leiter der Katholischen Akademie Stapelfeld bei Cloppenburg. Zudem ist er Autor und Märchenerzähler und war von 2001 bis Mitte 2012 Präsident der Europäischen Märchengesellschaft e.V.

Daniel Steinbach

DIE MAUER MUSS WEG
LIVE-ROLLENSPIELE UND ALTERNATE REALITY GAMES VOR DEM HINTERGRUND DER DEUTSCH-DEUTSCHEN TEILUNG

Trotz der Einführung zahlreicher neuer Genres in die deutsche Live-Rollenspiel-Szene finden immer noch ein Großteil aller Spiele in Fantasy- oder Vampire-Settings statt. Dass Live-Rollenspiel sich jedoch auch wunderbar für andere Genres eignet und nicht zuletzt auch historische Themen bedienen kann, wurde bereits durch Aktionen wie LARP am Limes (Live-Rollenspiele vor römisch-germanischem Hintergrund), Genres wie Gaslight (Live-Rollenspiele im spätviktorianischen England) oder historisierende Gruppenkonzepte auf Großcons deutlich.

Brisantere geschichtliche Ereignisse – was für uns in Deutschland meist die Vergangenheit des letzten Jahrhunderts betrifft – werden jedoch überwiegend ausgespart. So ist in Deutschland bisher noch kein historisches Live-Rollenspiel bekannt, das sich um die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs oder allgemein der Naziherrschaft dreht. Dieser Umstand ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass viele Angst vor dem live-rollenspielerischen Umgang mit Themen des Dritten Reichs haben und zum anderen den Opfern des Nazi-Regimes Respekt entgegenbringen wollen. In anderen Kunstformen – wenn man Live-Rollenspiel auch als Kunstform verstehen will1 – hat die Aufarbeitung der Zeit der Nationalsozialisten dagegen bereits während des Zweiten Weltkriegs begonnen und ist bisher nicht abgerissen. Theaterstücke reichen hierbei von Bertolt Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches (1935–43) bis hin zu Raphael Dwingers Netzbeschmutzung (2011). Das Gleiche zeichnet sich in der Film- und Literaturwelt ab. Allen diesen deutschen Verarbeitungen der eigenen Geschichte liegt zu Grunde, dass sie überwiegend ernsthaft sind und nur selten und meist erst in neuer Zeit Komik zulassen. Meist beschränkt sich die Komik hierbei auf die Auseinandersetzung mit Adolf Hitler.2 Ein viel aktuellerer Aspekt deutscher Vergangenheit, dessen zahlreiche Opfer und/oder deren Angehörige heute zum Großteil noch leben, ist die Zeit der deutsch-deutschen Teilung. Hier gibt es zwar ebenso Filme, Bücher und Theaterstücke, allerdings war eine humorvolle Thematisierung schon wenige Jahre nach der Wende gesellschaftlich akzeptiert. Filme, die sich komödiantisch der ehemaligen deutschen Teilung nähern, wie Peter Timms Liebe Mauer (2009), Wolfgang Beckers Good Bye, Lenin! (2003) oder Leander Haussmanns Sonnenallee (1999) gehören zu bekannten Kassenschlagern und sind keine einzelnen Randerscheinungen.

Trotzdem sollte im Live-Rollenspiel aus meiner Sicht eine vorsichtigere Herangehensweise gewählt werden. Sicherlich lässt sich die unmenschliche Brutalität der Nationalsozialisten nicht mit den Schrecken von Stasi und Politbüro der DDR vergleichen. Dennoch hat es auch unter dem DDR-Regime viele Opfer gegeben, die entweder an den direkten Folgen gestorben sind oder zum Teil auch immer noch darunter leiden. Beim Umgang mit der deutsch-deutschen Teilung – im Übrigen auch einer direkten Folge des Zweiten Weltkriegs – sollte man auch diesen Opfern den gebührenden Respekt entgegenbringen. Die Organisation und Durchführung eines Live-Rollenspiels vor brisantem historischem Kontext sollte also respektvoll und mit Bedacht angegangen werden, da man nie weiß, ob man die Gefühle eins Mitmenschen mit einer zu lapidaren oder komödiantischen Herangehensweise verletzt.

Der historische Kontext der deutsch-deutschen Wiedervereinigung ist mittlerweile ein Standard-Thema im Schulunterricht.3 Für viele Menschen, die vor oder kurz nach der Wende geboren sind, galt dies jedoch noch nicht. Der Geschichts- und Politikunterricht der 1980er und 1990er Jahre bestand schwerpunktmäßig aus dem Themengebiet rund um den Zweiten Weltkrieg. Auch in Abiturprüfungen nach der Jahrtausendwende gehörte ein Themenkomplex zum Dritten Reich standardmäßig zum Repertoire.4 Zur ehemaligen deutschen Teilung wurde kaum etwas gelehrt, ein Umstand, der sich nun jedoch nach und nach ändert.5

Viele Deutsche wissen nur wenig über die Hintergründe und Lebensverhältnisse auf der anderen Seite der Grenze in der unmittelbaren Zeit vor und während der Wende. BürgerInnen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik kennen das Leben vor 1990 in der Bundesrepublik kaum, andersherum gilt das genauso.6 Das merkt man bis heute zum Beispiel daran, dass viele Bewohner des westlichen Teils Deutschlands bei der Aufzählung der neuen Bundesländern mit ihren Hauptstädten ins Stocken geraten oder wenn man sie fragt, wie die Staatsoberhäupter der DDR hießen (hier fallen den meisten immer nur Erich Honecker und Egon Krenz ein).7

Vor diesem Hintergrund sind im Rahmen der politischen Bildungsarbeit des basa e.V. und des Waldritter e.V. das Alternate Reality Game für Familien ??? und die Wende sowie das Bildungs-Live-Rollenspiel für Erwachsene Die Mauer entstanden. Der Bildungsauftrag, mehr über die Zeit rund um die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu erfahren, steht bei diesen Spielen im Vordergrund.

 

??? UND DIE WENDE

Zu Beginn stand die Idee, ein Alternate-Reality-Game für die ganze Familie zum Thema Wiedervereinigung, mit politischem Bildungshintergrund durchzuführen. Ziel war es besonders die Situation der Kinder zur Zeit der Wiedervereinigung zu beleuchten. Das Spiel sollte im Rahmen eines Seminars, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, von den Kooperationspartnern basa e.V. (Bildungsstätte Alte Schule Anspach), Waldritter e.V. und Bildungswerk Blitz e.V., stattfinden. Um das Spiel für die ganze Familie gleichermaßen interessant zu gestalten, sollten sich die Rätsel im Schwierigkeitsgrad abwechseln und jeweils einzelne Spielinformationen für einzelne Altersklassen aufbereitet werden. Das Spiel selbst sollte eine Wanderung mit Stationen beinhalten, die mit einer Art Multi-Geocache kombiniert wurden.

Das Alternate Reality Game ??? und die Wende wurde zuerst im September 2010 durchgeführt und nochmals im Mai 2012 mit einer anderen Teilnehmergruppe wiederholt.

UMSETZUNG

Eine seltsame Videobotschaft erreicht die Detektei Aaha. Eine jugendliche Detektivin macht sich auf den Weg zur Jugendbildungsstätte Hütten bei Jena. Einige Familien haben sich hier zu einem Weiterbildungswochenende eingefunden und lassen sich schnell von der Detektivin für die Videobotschaft begeistern. Das Video zeigt das Mädchen Jana, die ein seltsames Videoaufnahmegerät gefunden hat und Nachrichten an die Teilnehmenden sendet. Sie erzählt, dass sie gerade auf einer Ferienfreizeit ist, spricht über ihre Hobbys und ihre Schule, erzählt von ihren Freunden und ihren Eltern. Alles scheint belanglos, bis langsam klar wird, dass die Nachrichten nicht aus der Gegenwart, sondern aus der Vergangenheit und zwar aus der Zeit vor der Wende stammen.

Am ersten Abend tauchen mehrere zwielichtige Leute auf, die mit neuartigen elektronischen Geräten das Haus untersuchen sowie die Teilnehmenden beobachten und verfolgen. Ein weiterer komischer Kauz mit Namen Miro (bzw. bei der zweiten Durchführung Lod) stellt sich der Gruppe vor. Auch hier merken besonders die Kinder, dass etwas mit Miro nicht stimmt. Er kennt die einfachsten Verhaltensweisen nicht, läuft vor geschlossene Türen und wundert sich, dass diese sich nicht von selbst öffnen und vieles mehr. Miro ist in Wahrheit ein Zeitreisender, der aus der Zukunft stammt. Er hat das Aufnahmegerät an Jana geschickt, da er wissen will, ob Menschen auch friedlich eine Revolution herbeiführen können. Derzeit befindet sich das Land, in dem Miro in der Zukunft lebt, in einem ähnlichen Umbruch, wie damals die beiden deutschen Staaten. Seine Erkenntnisse will Miro auf seine Zeit übertragen und daraus lernen.

Am nächsten Tag begleitet er daher die Teilnehmenden quer durch die Wälder auf einen sonderbaren Pfad. Kleine Rätsel an Wegpunkten bringen die Spielerinnen und Spieler zu neuen GPS-Koordinaten oder lassen sie Passwörter für auf einem Laptop versteckte Dateien finden. An einigen Stationen meldet sich auch wieder Jana mit einem Video und erzählt von ihrem Schicksal vor, während und nach der Wende. Authentische Zeitungsartikel liefern besonders den Erwachsenen weiteres historisches Material.

Die einzelnen Rätsel sind so gestaltet, dass sie abwechselnd für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene geeignet sind. Zwischendurch werden zudem Audio-Sequenzen aus Hörspielen sowie Szenen aus Dokumentarfilmen oder zeitgenössischen Videos eingesetzt.

Die eigentliche Enthüllung der Zeitreise passiert in den Videos des Mädchens Jana. Die ersten Einträge sind eher tagebuchähnlich. Hier erzählt Jana von ihrer Zeit im Ferienlager der Jungpioniere und der Freien Deutschen Jugend, von den beginnenden Montagsdemonstrationen, von den Schülerräten und von den Nachwirkungen der Wende, wie zum Beispiel der Arbeitslosigkeit ihres Vaters. Mit Hilfe der Figur Jana wurde besonders den ungefähr gleichaltrigen Kindern sowie den Eltern, die zur Zeit der Wende in einem ähnlichen Alter wie Jana waren, vermittelt, wie sich ein Kind in dieser Umbruchsphase gefühlt haben könnte. Erst ganz zum Schluss erfährt Jana, dass ihre Tagebucheinträge in eine andere Zeit gesendet werden. Daher wünscht sie ihren Zuschauern viel Erfolg auf ihren Wegen und hofft, dass alles besser wird und die Wende auch bei den Menschen ankommt. Die Zuschauer in der Zukunft kennen ja bereits die Antwort.

FAZIT

Nach dem Spiel fand jeweils eine ausführliche Reflexion mit den Teilnehmenden statt. Hier konnten Kinder und Eltern ihre Gefühle, Eindrücke und Gedanken während des Spiels äußern. Während den Kindern besonders der Charakter Miro und die Interaktion mit ihm gefallen hat, waren die Erwachsenen sehr von der Tiefe der Story und den damit verbundenen Erinnerungen an ihr eigenes Schicksal zur Zeit der Wende angetan. Die Zeitungsartikel, die zwar stets in der Gruppe vorgelesen worden waren, wurden von den Kindern meist nicht richtig aufgenommen, da sie zu sehr mit den spannenden Elementen, dem Suchen nach dem nächsten Hinweis, dem Abschütteln von Verfolgern und den Videobotschaften von Jana beschäftigt waren. Für die Erwachsenen waren sie jedoch eine gute Gelegenheit, weiter in die Story einzutauchen und mehr über die damalige Geschichte zu erfahren.

Die Idee, alle Teilnehmenden über die Situation der Kinder zur Zeit der Wiedervereinigung aufzuklären und zu informieren, ist aus Sicht der Organisatoren sehr gut aufgegangen.

Eine andere Herangehensweise an die deutsch-deutsche Geschichte zeigt die Beschreibung des folgenden Bildungs-Live-Rollenspiels.

DIE MAUER

Im August 1961 begann die Nationale Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik auf Anordnung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) die Grenze von Ostberlin nach Westberlin abzuriegeln. In relativ kurzer Zeit wurde ohne entsprechende Vorwarnungen eine Mauer mitten durch Berlin gezogen. Familien wurden getrennt, Menschen konnten nicht mehr nach Hause, Arbeitsplätze waren unerreichbar und selbst der alltägliche Gang zum Arzt war nicht mehr im gewohnten Rahmen möglich. Zwar gab es einige Ausnahmen, die eine Grenzüberquerung möglich machten, jedoch blieb dies dem Großteil der Ostberliner Bevölkerung verwehrt.

Um ansatzweise selbst nachzuerleben, wie sich die Menschen damals gefühlt haben könnten, sollte diese Grenze im Live-Rollenspiel Die Mauer noch einmal aufgebaut werden. Jugendliche und Erwachsene schlüpften in die Rollen von Flüchtlingen, Grenzsoldaten, Helfenden, Spionen und anderen Grenzgängern.

Das Bildungs-Live-Rollenspiel wurde als zweieinhalbtägiges Wochenendseminar im November 2011 – fünfzig Jahre nach dem Mauerbau – von den Kooperationspartnern basa e.V., Waldritter e.V. und dem Kinder- und Jugendzentrum Laatzen durchgeführt. Finanziell gefördert wurde es ebenfalls von der Bundeszentrale für politische Bildung.

UMSETZUNG

Die Teilnehmenden konnten selbst entscheiden, auf welcher Seite sie bei diesem Bildungs-Live-Rollenspiel stehen wollten. Etwa Zweidrittel der Teilnehmenden verkörperten Zivilisten und Flüchtlinge, deren Wunsch es war, über die Mauer zu gelangen. Die restlichen Spieler agierten als Grenzsoldaten oder Spione in den Reihen der Flüchtlinge und versuchten, ausgestattet mit den (technischen) Hilfsmitteln der 1980er Jahre, Fluchtversuche zu unterbinden.

Jeder Einzelne spielte dabei eine im Vorfeld skizzierte Rolle, die er mit eigenen Ideen weiter ausschmücken konnte. Jeder Rolle war eine zentrale Motivation zugeschrieben. Einige wollten auf diplomatischem Weg die Mauer besiegen, andere wollten ihr altes Leben hinter sich lassen und wieder andere wollten einfach nur die Zeit auf der Wache absitzen. Viele verschiedene individuelle Motivationen ergaben so ein Gefüge aus Spannungen und Abhängigkeiten, die das Spiel ins Rollen brachte. Die Handlung des Spiels beschränkte sich, um die entsprechende Wirkung zu verstärken, auf die illegalen und mehr oder weniger erfolgreichen Grenzübertritte und deren Vorbereitungen.

Am Freitagnachmittag startete die Veranstaltung mit einem Seminar für die Spieler der Grenzsoldaten. Ihre Aufgabe war es, die Mauer aus Holzpaletten und Zäunen aufzubauen, Wachpläne zu erstellen, ihre Rollen auszugestalten sowie diese mit historischen Details zu versehen. Am Samstagmorgen stießen die übrigen Teilnehmenden hinzu und es gab mehrere Impulsreferate sowie Filmangebote, die den historischen Kontext beleuchteten. Es folgte die individuelle Ausgestaltung der Rollen, bevor das Spiel dann am frühen Samstagabend begann.

Es wurde bewusst eine Örtlichkeit ohne historische Bedeutung für die Geschichte der deutsch-deutschen Teilung – das Gelände des Kinder- und Jugendzentrums Laatzen – ausgewählt, um jegliche unpassende Ostalgie8 von vornherein auszuschließen. In der Anmeldebestätigung wurde auch darum gebeten, der Ernsthaftigkeit der damaligen Umstände dahingehend Rechnung zu tragen, dass jeder auf unfreiwillig albern wirkende Accessoires oder Dialekte verzichten sollte. Es sollte hier also nicht das Bild der DDR vermittelt werden, was man aus den oben erwähnten Filmen Good bye, Lenin!, Sonnenallee und Liebe Mauer kennt.

Zunächst wurden nur zaghaft Fluchtversuche unternommen, da viele zum Teil sehr erfahrene Live-Rollenspieler vor dem Problem standen, dass sie auf sich allein gestellt waren und niemandem trauen konnten. Jeder konnte ein Spitzel sein. Die Möglichkeiten zur Flucht waren dadurch sehr begrenzt. Hinzu kam das resolute Auftreten der Grenzsoldaten, was das Gefühl der Machtlosigkeit verstärkte. Es zeigte sich, dass durch die Präsenz von fünf Grenzsoldaten und zweier offensichtlicher Mitarbeiter der Staatssicherheit, es den übrigen 23 Teilnehmenden nahezu unmöglich war, die Mauer zu überwinden. In den ersten Stunden des Spiels wurden immer wieder Fluchtversuche verhindert, und die Flüchtlinge wurden zu zermürbenden Verhören durch die Stasi festgehalten. Ein gespielter Mitarbeiter der Staatssicherheit hielt sich dabei sehr eng an original von der Stasi verwendete Befragungsmethoden. Besonders hier wurden die Beteiligten emotional ergriffen.

Der Spielmechanismus erforderte aber, dass die Republikflüchtlinge nach einer Stunde wieder freigelassen wurden.

Das Spiel wurde zusätzlich um ein Briefspiel angereichert. Jeder Spieler konnte Briefe an andere Spieler, die Grenzstelle oder eine fiktive Person aus seinem Hintergrund schreiben. Mithilfe einer alten Schreibmaschine verfasste die Spielleitung Antworten, die den historischen Kontext verstärkten. Im Vorfeld wurden Briefmarken aus der Zeit herausgesucht und verwendet. Ebenso kamen als Zahlungsmittel Ost- und Westmark zum Einsatz.

Das Spiel endete schließlich für die Teilnehmenden höchst unterschiedlich und individuell. Es gab verletzte und tote Grenzsoldaten (obwohl die Zivilisten zu Spielbeginn keine Waffen bekommen hatten), viele Flüchtlinge wurden dauerhaft im Gefängnis der Staatssicherheit eingekerkert, mehrere entschieden sich gegen eine Flucht, und nur einige wenige konnten den Grenzübertritt erfolgreich meistern und ihr Ziel – ein Zelt mit einer Flagge der Bundesrepublik Deutschland – erreichen.

Am Sonntag folgte dann eine ausführliche Reflexion der Geschehnisse mit allen Teilnehmenden. Auch ein Kurzfilm über die tatsächlichen Sicherheitsmaßnahmen an den Grenzen der DDR wurde in diesem Rahmen gezeigt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte den Teilnehmenden klar geworden sein, dass ein Grenzübertritt in der Realität nur mit sehr viel Vorbereitung und Glück möglich gewesen ist. In einer symbolischen Abschlusszeremonie bauten am Ende alle Teilnehmenden gemeinsam die Mauer ab.

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