Wenn Sie Sich Verstecken Würde

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Kapitel fünf

Als sie diesmal die Polizeiwache in Deton betraten, war der große Empfangstresen am Eingang zum Großraumbüro von einer Frau besetzt, die aussah, als habe man sie irgendwann einmal dorthin gesetzt und seitdem dort sitzenlassen. Sie war locker um die sechzig Jahre alt und als sie zu Kate, DeMarco und Jeremy Branch aufblickte, setzte sie ein einstudiertes Lächeln auf. Als sie allerdings merkte, worum es ging, verflüchtigte sich das Lächeln und sie versuchte, professioneller zu wirken.

„Sie sind die Agents?“, fragte sie.

„Ja, Ma’am“, sagte DeMarco. „Können wir Mr. Branch hierlassen?“

„Im Vernehmungsraum. Ich benachrichtige den Sheriff und lasse ihn wissen, dass Sie hier sind. Bitte folgen Sie mir.“

Die ältere Frau führte sie am Großraumbüro vorbei und denselben Flur hinunter, den sie schon mit Barnes entlang gegangen waren. Sie öffnete die Tür zum zweiten Raum rechts. Er sah genauso aus wie der, in dem sie früher am Tag die Besprechung mit Officer Foster gehabt hatten. Darin befand sich ein einzelner, alter Schreibtisch mit jeweils einem Stuhl auf jeder Seite.

„Setzen Sie sich“, sagte DeMarco und gab Jeremy einen leichten Schubs in Richtung des Tischs.

Jeremy widersetzte sich nicht, sondern leistete der Anweisung Folge. Als er saß, verschränkte er seine in Handschellen steckenden Hände vor sich und starrte sie an.

„Was hatten Sie für eine Beziehung zu Mercy Fuller?“, fragte Kate.

„Ich kannte sie kaum.“

„Ich habe ein Foto auf Ihrem Nachttisch gesehen, das einen anderen Eindruck erweckt.“

„Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, dass sie solch eine … freundschaftliche Beziehung zu den meisten anderen Jungs hatte?“

„Ich würde erwidern, dass Sie damit eine ziemlich gewagte Behauptung aufstellen. Vor allem in einer Kleinstadt wie dieser, über ein Mädchen, das gerade beide Eltern verloren hat.“

Jeremy seufzte und zuckte mit den Schultern. Seine Unbekümmertheit ging Kate stark auf die Nerven, aber sie gab sich Mühe, professionell zu bleiben.

„Ich sagte Ihnen schon … ich weiß überhaupt nichts über die Familie.“

„Sie lügen“, sagte Kate. „Die Sache ist folgende … Sie können weiterlügen, aber dies ist eine kleine Stadt, Kumpel. Ich kann Ihre Lügen im Handumdrehen entlarven. Und wenn ich herausfinde, dass Sie mich belügen, dann werde ich mich mit Ihren Drogen befassen. Vielleicht werde ich einige der Leute ausfindig machen, die ihr wenig schlauer Bruder in seinem Notizbuch unter seinem Bett aufgelistet hat. Vielleicht erzähle ich denen, dass Sie mir gesagt haben, wo ich das Büchlein finde.“

Bei dem Gedanken weiteten sich seine Augen, und Jeremy rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Kate fragte sich, ob sie seinen Bruder benutzen konnte, um noch mehr herauszufinden, und wer von den beiden wohl unter Druck am ehesten nachgab.

Aber scheinbar musste sie nicht diese Richtung einschlagen. Sie konnte es buchstäblich sehen, als Jeremy entschied, dass ihm seine eigene Selbsterhaltung am wichtigsten war.

„In Ordnung. Ich kenne sie. Aber wir waren kein Paar oder so. Wir haben uns nur hin und wieder getroffen.“

„Dann war es eine sexuelle Beziehung?“

„Ja. Und mehr auch nicht.“

„Hat es Sie nicht gestört, dass sie erst fünfzehn ist?“

„Irgendwie schon. Ich hatte vor, Schluss zu machen, wenn ich achtzehn werde. Damit ich mir keinen Ärger einhandle, wissen Sie?“

„Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?“, fragte DeMarco.

„Vor ungefähr einer Woche.“

„Ist sie zu Ihnen gekommen?“

„Ja, wir hatten diese Routine. Wenn sie zu mir kommen wollte, hat sie mir getextet und ich habe sie drüben an der Waterlick Road abgeholt. Ihren Eltern hat sie dann erzählt, dass sie bei einer Freundin ist. Ich habe sie also abgeholt und wir sind zu mir gefahren.“

„Wie lange ging das schon so?“, fragte Kate.

„Vier oder fünf Monate. Hören Sie, ich weiß, es hört sich mies an, aber ich kannte sie wirklich nicht so gut. Es ging nur um Sex. Mehr nicht. Ich war ihr Erster … und sie war neugierig, wissen Sie? Sie war nicht verrückt nach Sex, aber wir haben uns schon oft getroffen.“

„Ich dachte, Sie sagten, sie sei zu den meisten Jungs so freundlich gewesen“, sagte DeMarco.

Die einzige Reaktion auf seine Lüge, die er hervorgebracht hatte, war, mit den Schultern zu zucken.

„Wie sieht es mit den Eltern aus“, bohrte Kate weiter. „Was können Sie uns über sie erzählen?“

„Nichts. Ich kannte ihren Vater. Ich meine, es ist eine Kleinstadt, da kennt man sozusagen jeden. Außerdem scherzte sie immer, wenn ihr Vater herausbekam, dass wir fi— Sex haben“, sagte er, da er es scheinbar unpassend fand, das f-Wort in Gegenwart zweier Frauen auszusprechen, „bringt er mich um.“

„Und Sie haben ihr geglaubt?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht. Ein Kerl denkt nie gern an den Vater eines Mädchens, mit der er ins Bett geht. Ich wusste nie, was ich von den Eltern halten sollte. Ich meine, sie hasste sie. Verachtete sie geradezu, wissen Sie?“

„Tatsächlich?“

„Angesichts dessen, wie sie von ihnen sprach, ja, ich glaube schon. Wenn ich nur…“

Hier hielt er inne und schien sich an etwas zu erinnern. Dann blickte er Kate und DeMarco an, als versuche er, herauszufinden, wie weit er gehen konnte.

„Was?“, fragte Kate.

„Also. Es war wahrscheinlich nicht in Ordnung, dass wir zwanzig Mal oder so miteinander geschlafen haben, obwohl ich sie gar nicht so gut kannte. Aber ich fand es immer merkwürdig, wie sie über ihre Eltern sprach.“

„Wie denn?“

Bevor er antworten konnte, klopfte es an der Tür. Sheriff Barnes steckte den Kopf herein und ein schneller Blick wechselte zwischen ihm und Jeremy. Kate meinte, dass dies wohl nicht das erste Mal war, dass Jeremy sich in diesem Raum befand.

„Jeremy Branch?“, fragte er. „Was zum Teufel macht er hier?“

„Wollen Sie es ihm selbst sagen, oder soll ich?“, fragte DeMarco. Sie gab Jeremy einige Sekunden Zeit, und als er nicht anfing zu sprechen, legte sie Barnes die Fakten dar. „Er hatte eine sexuelle Beziehung mit Mercy Fuller … noch bis vor einer Woche. Er hat uns gerade erzählt, dass er es seltsam fand, dass Mercy so schlecht über ihre Eltern gesprochen hat. Dass sie sie gehasst hat.“

„Du hast mit ihr geschlafen?“, fragte Barnes. „Verdammt, Sohn … wie alt bist du?“

„Siebzehn. Ich werde erst in einem Monat achtzehn.“

„Fahren Sie fort“, sagte Kate und brachte ihn wieder auf den Punkt zurück. „Erzählen Sie uns noch einmal, was Mercy so alles über ihre Eltern gesagt hat.“

„Einfach, dass sie nie irgendetwas durfte. Dass sie ihr nicht vertraut haben. Ich glaube, mit ihrer Mutter hatte sie einen Riesenstress, weil mindestens zweimal gesagt hat ‚Ich will die Schlampe einfach nur umbringen‘. Sie hat ihre Mutter gehasst.“

„Hat sie je von dem Verhältnis ihrer Eltern zueinander gesprochen?“, fragte Kate.

„Nein, darüber hat sie nicht oft gesprochen. Sie kotzte sich eine Weile aus, wurde richtig wütend, und dann hatten wir meistens Sex. Ich … ich weiß auch nicht. Ich hätte nie gedacht, dass sie es wirklich tut.“

„Was tut?“, fragte Barnes.

Jeremy blickte sie an, als hätte sie rein gar nichts begriffen. „Im Ernst? Sehen Sie … wie ich schon sagte, sie wirkt unschuldig, abgesehen davon, dass sie ziemlich nymphomanisch ist, aber wenn Sie den Killer ihrer Eltern suchen … dann finden Sie sie. Ich garantiere Ihnen, Mercy hat ihre Eltern umgebracht und dann die Stadt verlassen.“

Kapitel sechs

Bisher hatte noch niemand gegenüber dem Schreibtisch Platz genommen; Kate, DeMarco und Barnes standen noch immer. Doch als Jeremy diese forsche Aussage machte, ging Sheriff Barnes langsam zu dem Stuhl herüber und setzte sich direkt dem Teenager gegenüber. Mit einer Mischung aus Traurigkeit und Wut in den Augen fuchtelte er mit dem Finger vor Jeremys Gesicht herum.

„Ich bin seit sechzehn Jahren Sheriff in dieser Stadt, und ich kannte Wendy und Alvin Fuller ziemlich gut. Und soweit ich weiß, ist Mercy Fuller eine anständige junge Frau. Definitiv nicht ein Stück Dreck wie du, das sich immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Und da du also hier sitzt und solche Anschuldigungen hervorbringst, möchte ich für dich hoffen, dass du eine verdammt gute Geschichte auf Lager hast, anhand derer du sie belegen kannst.“

Jeremy nickte; er hatte es zweifellos mit der Angst zu tun bekommen. „Die habe ich.“

Barnes verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und blickte Jeremy höhnisch an. Als Jeremy anfing zu reden, blickte er die ganze Zeit auf Sheriff Barnes an. Hätte Kate raten sollen, dann hatte es wohl mit Jeremys Angst zu tun, dass Barnes sich vielleicht jeden Moment über den Tisch herüber auf ihn werfen könnte, um ihn zu erwürgen.

„Wir hatten seit ungefähr drei oder vier Wochen miteinander rumgemacht, als sie zum ersten Mal erwähnte, von zuhause weglaufen zu wollen. Sie fragte mich, ob ich mitkomme. Sie sagte, sie wollte nach North Carolina oder so. Ich habe sie damit aufgezogen, weil ich keinen Sinn darin sehe, nur einen Staat weiter zu ziehen. So hat sie mir auch nicht gefallen. Mein Bruder machte immer Witze darüber, dass ein Mädchen besessen wird von dem ersten Typen, mit dem sie schläft. Bei ihr war das wohl auch so. Jedenfalls, keine Chance, dass ich mit ihr weglaufe. Aber so, wie sie darüber redete, war klar, dass sie darüber wirklich nachdachte.“

„Glauben Sie, sie wollte weglaufen, weil sie ihre Eltern nicht leiden konnte?“, fragte Kate.

„Ich glaube schon. Ich meine, das ist der einzige Grund, der mir einfällt, warum jemand von zuhause weglaufen will. Ich meine … meine Eltern sind auch Arschlöcher, aber ich bin nie weggelaufen.“

„Nein“, sagte Barnes, „du bist einfach zwei Meilen weiter in den Wohnwagen deines Bruders gezogen. Vielleicht hatte Mercy diese Option nicht.“

 

„Trotzdem“, sagte Kate, um sicherzustellen, dass Barnes sie nicht vom Thema ableitete, „glauben Sie, sie meinte es wirklich ernst, wenn sie über das Weglaufen sprach? Anstatt nur Ihren Kopf mit Fantasien zu füllen, damit Sie bei ihr bleiben?“

„Nein. Aber sie hat immer wieder davon gesprochen, dass ihre Mutter durchdrehen würde auf der Suche nach ihr – nicht weil sie Mercy wirklich finden wollte, sondern weil sie dachte, dass Mercy ihr einen Schritt voraus war.“

„Wissen Sie von irgendeiner Form von Missbrauch bei ihr zuhause?“, fragte DeMarco.

„Ich glaube nicht, dass es da etwas gab. Jedenfalls nicht in letzter Zeit. Einmal hat sie erzählt, wie ihre Mutter ausgeflippt ist und ihr voll ins Gesicht geschlagen hat. Da war sie elf oder zwölf gewesen.“

„Und Sie sagen, dass sie nie direkt gesagt hat, dass sie sie umbringen wird?“, hakte Kate nach.

„Doch, ein paar Male. Sie sagte „Ich kann’s kaum erwarten, sie umzubringen“. Und dann hat sie davon gesprochen, ob sie es mit einem Messer macht oder mit einer Pistole. Sie redete gern darüber. Aber ich habe ihr gesagt, sie soll die Klappe halten. Wenn Mercy und ich zusammen waren, ging es nur um Sex. Ich wollte mir das nicht anhören, wie sie davon fantasierte, ihre Eltern zu töten, jedenfalls nicht, bevor wir zur Sache gekommen waren, wissen Sie?“

Als Jeremy aufhörte zu sprechen und alle drei anblickte, dachte Kate über das Gesagte nach. Er hatte hinsichtlich Mercys Promiskuität gelogen. Sie fragte sich, ob alles andere, was er gesagt hatte, auch gelogen war.

Sie lehnte sich zu Sheriff Barnes herüber und flüsterte, „Können wir uns einen Moment draußen unterhalten?“

Er nickte, erhob sich und musste dabei praktisch seine Augen von Jeremy losreißen. Er verließ den Raum nicht ruhig, sondern er stürmte hinaus. Er ging er schnurstracks in sein Büro, bevor er auch nur ein Wort zu Kate oder DeMarco, die ihm folgten, sagte. Er hielt die Tür für sie offen.

„Scheiße“, stieß er hervor.

„Glauben Sie, er sagt die Wahrheit?“, fragte Kate.

„Ich glaube, es sind genug Fetzen an Wahrheit dabei, um die Geschichte glaubhaft zu machen. Diese Sache, dass Wendy Fuller Mercy geschlagen hat … das ist wirklich passiert. Mercy hat damals die Polizei verständigt. Sie schien dabei nicht gerade traurig. Das ist etwa fünf Jahre her, aber ich kann mich gut daran erinnern. Sie war rachsüchtig. Sie wollte, dass ihre Mutter einen Haufen Ärger am Hals hatte. Am Ende lief es aber darauf hinaus, dass wir uns mit der Familie zusammengesetzt haben, und damit war die Sache erledigt. Damals hatte Wendy ein Alkoholproblem. Soweit ich weiß, ist sie seit zwei Jahren trocken. Aber was diesen Mist angeht, dass Mercy ihre Eltern hasst … ich bin mir da einfach nicht sicher.“

„Alles, was er uns erzählt hat, ist das genaue Gegenteil von dem, was Anne Pettus gesagt hat. Sie sagte, Mercy liebt ihre Eltern … und dass sie sich richtig gut verstehen.“

„Was mich beschäftigt“, begann Barnes, „ist, dass Jeremy Branch und sein älterer Bruder nichts als Unruhestifter sind. Seinen Bruder habe ich zweimal mit Drogen aufgegriffen und einmal wegen unsittlichen Verhaltens auf dem Rücksitz seines Wagens auf einem der Nebenstraßen. Jeremy hatte ich bisher nur einmal auf der Wache – wegen Diebstahls. Aber ich war mir immer sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er auch ein ‚Stammkunde‘ wird.“

„Hätte er irgendeinen Grund zu lügen, als er sagte, er halte Mercy für den Killer?“; fragte DeMarco.

„Ich weiß es einfach nicht. Aber es macht schon Sinn, oder? Das Mädchen hat die Nase voll von ihren Eltern, bringt sie um, läuft weg.“

Kate nickte. Vor ihrem inneren Auge sah wie das Szenario vor sich, wie Mercy sich ihren nichtsahnenden Eltern näherte und beide umbrachte, noch bevor einer von ihnen die Chance hatte zu begreifen, was gerade passierte.

„Seit wann lebt Jeremy bei seinem Bruder?“, fragte Kate.

„Ich weiß nicht. Richtig dort wohnen tut er dort seit etwa einem Jahr. Aber auch vorher hat er immer wieder bei seinem Bruder mitgewohnt. Sein Bruder heißt Randy Branch – ein fünfundzwanzigjähriger permanenter Verlierer. Ihre Eltern haben sich vor etwa zehn Jahre scheiden lassen. Sobald er konnte, suchte sich Randy eine eigene Bleibe, diese miese Bruchbude draußen am Waldrand. Eine Zeitlang pendelte Jeremy zwischen seinem Bruder und seiner Mutter hin und her, aber dann zog sie zu ihrer Familie nach Alabama. Und danach hat sich sein Vater scheinbar überhaupt nicht mehr gekümmert.“

„Aber er lebt hier in der Gegend?“

„Ja, draußen an der Waterlick Road.“

„Wissen Sie, ob Jeremy je bei ihm übernachtet?“

„Aus erster Hand weiß ich das nicht, aber ich habe Gerüchte gehört. Eines davon besagt, dass Randy verruchte Partys schmeißt. Orgien, soweit ich weiß. Und er lässt Jeremy nicht dabei sein. An solchen Wochenenden übernachtet Jeremy bei seinem Vater.“ Er hielt inne und fügte dann fast skeptisch hinzu, „Glauben Sie, dass es Mercy war?“

„Glauben Sie es denn?“

Er zuckte die Schultern. „Ich will es nicht glauben, aber es beginnt, danach auszusehen. Um ehrlich zu sein, ich habe diese Möglichkeit schon in Betracht gezogen, bevor Sie hier ankamen.“

„Wir sollten Jeremy noch etwas länger hier behalten“, sagte Kate. „Können Sie veranlassen, dass uns in der Zwischenzeit jemand die Adresse und Kontaktinformation von Jeremys Vaters besorgt?“

„Ja, ich setze Foster darauf an“, sagte Barnes und griff zum Telefon. „Er wird froh sein, seiner Akte etwas hinzufügen zu können.“

Kate und DeMarco verließen das Büro und gingen zum Großraumbüro zurück. Leise sagte DeMarco: „Glaubst du, Jeremy Branch sagt die Wahrheit?“

„Ich kann es einfach nicht sagen. Seine Geschichte macht auf jeden Fall Sinn und verbindet viele Punkte miteinander. Aber ich weiß auch, angesichts all der Drogen, die ich bei ihm gefunden habe, hat er allen Grund der Welt, seine Spuren zu verwischen und die Aufmerksamkeit auf jemand anderen zu lenken.“

„Ich frage mich, ob er nicht selbst mit dem Morden zu tun hat“, sagte DeMarco. „Ein älterer Junge, der wollte, dass ein junges Mädchen ihm weiterhin hörig ist. Wenn sie ihre Eltern wirklich so sehr hasste, und er verrückt genug wäre, wäre er dann nicht auch verdächtig?“

Dieser Gedankengang klang vielversprechend; auch Kate hatte schon daran gedacht. Sie zog ihn noch immer in Betracht und hoffte, dass ein Besuch bei Jeremys Vater ihnen mehr Informationen lieferte.

„Agents?“

Beide wandten sich um und sahen Barnes aus seinem Büro treten. Er gab Kate einen Zettel und nickte. „Dies ist die Adresse von Floyd Branch. Doch seien Sie gewarnt … er kann ein ziemlicher Bastard sein. Polizeimarken und dergleichen beeindrucken ihn nicht sonderlich.

„Es ist mitten am Tag“, sagte Kate. „Sind Sie sicher, dass er überhaupt zuhause ist?“

„Ja. Er hat eine Garage, in der er an kleinen Motoren und dergleichen arbeitet.“ Barnes überprüfte die Uhrzeit und lächelte. „Es ist gleich 15:30 Uhr. Ich wette, dass er schon angefangen hat zu trinken. Wenn ich Sie wäre, würde ich so bald wie möglich hinfahren … bevor er vollkommen besoffen ist. Möchten Sie Verstärkung? Er ist ein ziemlicher Hillbilly. Ich kann es nicht anders beschreiben. Er wird zwei Frauen sehen und Sie nicht ernst nehmen.“

„Klingt ja herzallerliebst“, meinte Kate. „Aber klar. Kommen Sie mit, Sheriff. Je mehr von uns, desto besser.“

Sie glaubte nicht wirklich daran, dass es so laufen würde, aber sie kannte die Art Mann, die Barnes beschrieb. Gerade im Süden war sie vielen von ihnen begegnet. Dort gab es ländliche Gegenden, in denen die Männer einfach noch nicht auf dem aktuellen Stand der Welt waren. Nicht nur, dass sie keinen Respekt vor Frauen hatten, sondern sie sahen sie nicht einmal als gleichwertig an. Selbst, wenn sie eine Marke und eine Waffe trugen.

Gemeinsam verließen sie die Wache und stiegen in den vom FBI geliehenen Wagen, in dem DeMarco aus Washington DC hergefahren war. Wow, und all das war nur heute Vormittag, dachte sie.

Sie musste an Allen denken, und an die Pläne, die er für sie gehabt hatte – in die Berge zu fahren, Wein zu trinken, auszuschlafen, und andere Dinge im Bett, die mit schlafen nichts zu tun hatten.

Und obwohl es sie traurig stimmte, all dies zu verpassen, gab sie doch zu, jetzt genauso aufgeregt zu sein, da der Fall sich langsam vor ihnen ausbreitete. Sie musste noch an der Balance zwischen ihrem Privatleben und ihrer besonderen Stellung beim FBI arbeiten, aber im Moment fühlte sie sich, als liefe alles genau so, wie es sein sollte.

Kapitel sieben

Das Grundstück von Floyd Branch entpuppte sich wie ein zum Leben erwecktes Klischee der Südstaaten. Als DeMarco auf die mit dünnem Schotter befestige Auffahrt fuhr, lag vor ihnen das, was in Dutzenden von Country-Songs besungen wurde: Floyd Branchs Wohnwagen, der Hof, und die herumliegenden Teile.

Das Gras war nur unwesentlich kürzer als das, was sie bei Jeremy Branch gesehen hatten. Immerhin war stellenweise um den Wohnwagen herum gemäht worden, mit totem Gras hier und da. Der fahrbare Rasenmäher mit verrosteter Motorhaube war neben einem Schuppen am hinteren Teil des Hauses geparkt. Zwei Autowracks – von denen bei einem der komplette hintere Teil fehlte – waren daneben aufgebockt. Es gab einen klapprig aussehender Hundezwinger, der vor allem aus Brettern, Maschendraht und einigen Metallstangen bestand. Als DeMarco den Wagen parkte und sie ausstiegen, schlugen in dem Zwinger zwei Pitbulls an; es war eine Mischung aus Bellen und Brüllen.

Sie hatten sich erst einige Schritte vom Wagen entfernt, als ein magerer Mann mittleren Alters aus dem Schuppen kam. Er trug einen Besen, blickte wütend in Richtung des Zwingers und beschimpfte die Hunde. Dann erst sah er, dass er Besucher hatte. Seine Wut verflüchtigte sich und er warf mit verschämter Miene den Besen in den Schuppen zurück.

„Hey, Sheriff.“

„Floyd. Wie geht’s Ihnen heute?“

„Ganz gut, würde ich sagen. Ich arbeite für die Familie Wells an einer alten Geländemaschine. Sie ist älter als die Hölle. Sieht mir nach verschwendeter Zeit aus, aber er hat schon bezahlt, deshalb …“

Er hielt inne, während er die beiden Frauen links und rechts von Barnes musterte. Er war sowohl irritiert als auch aufgeregt – nicht, weil es Frauen waren, sondern weil es ein unerwarteter Bruch seines monotonen Alltags war.

„Floyd, diese beiden Damen sind vom FBI. Sie wollen Ihnen einige Fragen stellen.“

„FBI? Warum, zum Teufel? Ich habe nix getan.“

„Oh, das glaube ich auch nicht“, sagte Barnes. „Sagen Sie mal, Floyd, wann haben Sie das letzte Mal mit Jeremy gesprochen?“

„Ach Scheiße, was hat er jetzt angestellt?“

„Das wissen wir noch nicht“, sagte Kate. „Vielleicht gar nichts. Wir sind hier, um uns Sicherheit zu verschaffen.“

„Er hat was mit Mercy Fuller“, erklärte Barnes. „Die Tochter von Alvin und Wendy Fuller. Wir verhören Jeremy momentan auf der Wache. Ich bin der Meinung, Sie sollten das wissen.“

„Was? Verdammt, Sheriff.“ Floyd zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. „Wen wundert’s. Der Junge erzählt mir nie etwas. Es ist sicherlich drei Wochen her, dass ich ihn gesehen habe. Er war ein paar Nächte hier, während Randy sich um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert hat. Aber ich mir ziemlich sicher, dass er auch vor einigen Tagen abends eine Zeitlang hier gewesen ist, während ich in einer Bar war. Er hat das Licht in seinem Zimmer angelassen. Er kommt manchmal her um Filme zu gucken. Vor allem Pornos, glaube ich. Komischer Kerl.“

„Und Mercy Fuller hat er nie erwähnt?“, fragte Kate.

„Nein. Zum Teufel, wir haben ja überhaupt kaum je miteinander gesprochen. Manchmal, über Fußball. Dass die Redskins nur noch Mist bauen. Einmal fragte er nach seiner Mutter, aber diese Unterhaltung wollte ich nicht führen, wissen Sie?“ Hier hielt er inne, als sei ihm gerade etwas aufgegangen. „Verdammt. Die Fullers? Ich habe gehört, was passiert ist. Wurde Mercy auch umgebracht?“

„Nein“, sagte Barnes. „Sie wird vermisst.“

„Wir haben mit Jeremy über seine Beziehung mit ihr gesprochen“, sagte Kate. „Er sagte uns, dass Mercy mit ihren Eltern nicht klar kam und hat durchblicken lassen, dass sie etwas mit den Morden zu tun hat.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, warum er lügen sollte“, sagte Floyd. Er schien unbeeindruckt von dem, was sie gesagt hatten. So als kümmerte es ihn nicht. „Waren sie ein Paar?“

„Jeremy sagt, es war eine rein körperliche Beziehung“, sagte DeMarco. „Aber er sagte auch, dass sie sich ihm anvertraut hat. Sie sagte, sie hasst ihre Eltern. Und wie sie sie umbringen will.“

„Verzeihen Sie, dass ich eine so dumme Frage stelle“, sagte Floyd, „aber warum genau sind Sie hier? Verdammt nochmal, Sheriff Barnes, Sie kennen Jeremy wahrscheinlich besser als ich selbst.“

 

„Hat er ein Zimmer hier?“, fragte Kate.

„Ja, das letzte Zimmer den Flur runter.“

„Könnten wir da mal reingucken?“

Floyd zögerte, unsicher, wie er antworten sollte. Er blickte Barnes an, als hoffe er auf Hilfestellung.

„Hast du etwas in dem Wohnwagen, was mir nicht gefallen wird, Floyd?“, fragte Barnes.

Anstatt auf die Frage zu antworten, sagte Floyd: „Nur Jeremys Zimmer. Richtig?“

„Für den Moment ja“, sagte Barnes skeptisch. „Danke, Floyd.“

Barnes ging mit Kate und DeMarco zum Wohnwagen. Als sie die schiefen Stufen emporstiegen, warfen sie einen Blick zurück auf Floyd Branch. Er ging auf den Schuppen zu, scheinbar unberührt von dem Gespräch.

„Er ist nicht halb so schlimm, wie Sie ihn beschrieben haben“, sagte Kate.

„Scheinbar fängt er heute etwas später mit dem Trinken an.“

Als sie den Wohnwagen betraten, war Kate erstaunt. Sie hatte einen chaotischen Zustand erwartet, unordentlich, reparaturbedürftig. Doch Floyd schien sehr wenig zu besitzen, einschließlich Dingen, die Unordnung schafften. Es war recht sauber, obwohl Kate einen ähnlichen Geruch wie bei seinem Sohn ausmachen konnte: nach schalem Bier und etwas anderem, was Marihuana sein könnte.

Der Flur war schmal. Von ihm zweigten nur drei Räume ab: ein Schlafzimmer, ein Badezimmer, und ein kleineres Schlafzimmer am Ende. Barnes blieb zurück, als Kate und DeMarco es betraten.

„Ich bin hier, falls Sie Hilfe benötigen“, sagte er. „Aber es haben kaum zwei Personen Platz, geschweige denn drei.“

Er hatte recht. Der Raum war sehr klein und bot nur Platz für die große Matratze auf dem Boden und den alten Schreibtisch, auf dem DVDs und CDs gestapelt waren. Neben dem Bett standen ein kleiner Fernseher und ein staubiger DVD-Player auf dem Boden. Ein Handy lag auf dem Fernseher. Das Netzteil, an dem es hing, war mit einem Multi-Adapter verbunden, der auch den Strom für den Fernseher, den DVD-Player und einen kleinen Ventilator auf der Fensterbank lieferte.

Kate nahm das Handy. Es war ein iPhone, etwa drei Modelle vor dem aktuellen. Als sie die Home-Taste drückte, leuchtete das Display auf. Es fragte nicht nach einem Passwort. Auf dem Home-Display befanden sich nur einige Apps: einige Spiele, Einstellungen, Fotos und die Uhr. Kate glaubte, dass es sich um ein altes Handy handelte, ohne Guthaben, das nur noch für Spiele genutzt wurde. Sie hatte Freunde, die ihre Kinder auf diese Weise an Smartphones herangeführt hatten. Bevor sie ihnen voll funktionale Handys kauften, durften die Kinder ihre alten Handys benutzten, deren Funktionen stark beschränkt waren und mit denen man nur einigen wenigen texten und Spiele spielen konnte, für die man kein WLAN benötigte.

Hinter ihr sah DeMarco die Filme durch.

„Floyd hat keine Witze gemacht, als er sagte, dass sein Sohn Pornos guckt. Die Hälfte der Filme sind Amateur Pornofilme. Der Rest sind Cinemax-Sexfilme.“

Kate untersuchte das Handy und sah, dass die Fotogalerie voller Bilder war. Einige zeigten feiernde Mädchen. Einige waren oben ohne. Einige küssten sich. Ihren Gesichtern konnte man ansehen, dass sie stark betrunken oder high waren. Sie fand einige Videos von diesen Events, alle recht kurz. Sie übersprang diese und ging bis zum letzten Video, das eine Länge von etwa fünf Minuten hatte. Das Vorschaubild zeigte Mercy Fullers Gesicht.

Sie tippte auf Play und brauchte keine drei Sekunden, um zu begreifen, was sie da vor sich hatte. Sie stoppte das Video. Darin war Mercy zu sehen, die auf dem Rücken lag und von oben gefilmt wurde. Der Regisseur war anscheinend Jeremy, der ziemlich rauen Sex mit ihr hatte, allerdings mit ihrem Einverständnis, nach den Lauten zu urteilen, die sie ausstieß.

„Mein Gott“, murmelte Kate, als sie die Fotogalerie schloss.

„Was war das denn?“, fragte DeMarco.

„Der Beweis, dass Jeremy zumindest in einem Punkt nicht gelogen hat: sie hatten definitiv Sex.“

Das Handy gab keinen Zugriff auf die Kontakte, was auch nicht notwendig war, da man damit nicht telefonieren konnte. Allerdings sah Kate verschiedene Nachrichten von drei Konversationen. Die eine war mit einem Kontakt mit dem Namen BRO, wie Brother, und die Nachrichten zeigten, dass es sich bei dem Kontakt um Jeremys Bruder Randy handelte. Ein anderer Kontakt war ein Kerl namens Chuck und in den Nachrichten ging es ausschließlich darum, mit welchen Berühmtheiten sie gerne Sex hätten, und warum.

Die Nachrichten mit dem dritten Kontakt waren an jemanden namens BOOTY CALL. Das kleine Bild neben dem Kontakt zeigte Mercy Fuller, den Kopf schief gelegt, einen Luftkuss werfend.

„Vielleicht haben wir hier den Jackpot geknackt“, meinte Kate.

DeMarco stellte sich neben sie und beide begannen, die Nachrichten zu lesen. Es waren viele, und die ersten lagen Monate zurück. Die meisten waren von Mercys Seite aus sehr wortreich, und Jeremys Antworten dazwischen, die oft nur aus einem Wort bestanden. Je mehr sie lasen, desto klarer wurde es, dass Jeremy sie angelogen hatte. Er mochte die Wahrheit gesagt haben, was die Natur ihrer Beziehung anging, aber hinsichtlich Mercy und ihres Verhältnisses zu ihren Eltern hatte er gelogen.

Und damit stellte sich eine wichtige Frage.

Wenn er hier gelogen hatte, was verbarg er sonst noch?

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