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KAPITEL FÜNF

Obwohl im Gebäude der Verhaltensanalyseeinheit der übliche Trubel herrschte, fühlte sich der Ort für Riley seltsam leer an. Ihr war deutlich bewusst, dass Jake Crivaro nicht hier war. War es wirklich möglich, dass ihr Mentor nie wieder einen Fuß in dieses Gebäude setzen würde? Und wenn er wirklich weg war, wie konnten dann alle anderen hier einfach ihren Tagesablauf weiterführen, als ob sich nichts geändert hätte?

Natürlich. Ihr fiel ein, dass bisher fast niemand wusste, dass Crivaro gekündigt hatte.

Dann musste Riley zugeben, dass selbst, wenn sie es wüssten, es vielleicht niemanden sonst so sehr interessieren würde wie sie. Obwohl Jake Crivaro dort so etwas wie eine lebende Legende war, wusste jeder, dass alle Legenden irgendwann enden mussten.

Alle außer mir, dachte sie.

Sie blieb ihm Flur stehen, unsicher, wohin sie gehen sollte. Schließlich hatte sie keinen Partner mehr, den sie um Anweisungen bitten konnte. Dann fiel ihr ein, dass Crivaro erwähnt hatte, dass Lehl sie erwartete, möglicherweise, um ihr einen Fall zuzuweisen.

Als sie auf den Aufzug zuging, erinnerte sie sich daran, wie Crivaro zum ersten Mal in ihr Leben getreten war. Damals, als sie noch Studentin an der Lanton University war, war Crivaro aufgetaucht, nachdem zwei ihrer Mitbewohner im Studentenwohnheim ermordet worden waren. Gerade als Riley sich nicht ängstlicher und hilfloser hätte fühlen können, hatte er ihre ungewöhnlichen Instinkte erkannt und sie involviert, um ihm bei der Suche nach dem Mörder zu helfen.

Und den hatten sie gefunden. Der Täter hatte sich als ihr Lieblingsprofessor erwiesen. Und er hätte auch sie getötet, wenn Crivaro ihr nicht das Leben gerettet hätte.

Seither war Rileys Welt auf den Kopf gestellt worden. Nach dem Studium hatte Crivaro ihr einen Platz im Sommerprogramm des FBIs besorgt und daraufhin hatte sie die Academy in Quantico besucht. Bis auf die letzten paar Wochen, in denen es keine aktiven Fälle gegeben hatte, war ihr Leben ein konstanter Rausch der Aufregung und Gefahr gewesen.

Sie betrat den Aufzug und drückte den Knopf für das gewünschte Stockwerk. Der Aufzug war voll und Riley fühlte sich noch einsamer.

Keiner dieser Menschen weiß, was passiert ist, dachte sie erneut. Und ich bin mir nicht sicher, was jetzt mit mir geschehen wird.

Ein Teil von ihr hatte die wilde Idee, ihr Abzeichen und ihre Waffe selbst abzugeben, um gegen Crivaros Weggang zu protestieren.

Natürlich wäre das verrückt, erinnerte sie sich selbst. Sie hatte viel zu viel in ihre Karriere investiert, um das jetzt aufzugeben.

Dennoch erinnerte sie sich daran, was Crivaro ihr gesagt hatte, als sie meinte, dass sie mit Lehl über seine Entscheidung sprechen würde.

„Ich denke, das solltest du tun.“

Was hatte er damit gemeint? Hoffte Crivaro, dass Riley ihn davon abhalten würde, in Rente zu gehen?

Sie erinnerte sich an etwas anderes, das er gesagt hatte.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass du mich Jake nennst.“

Das hatte definitiv nicht nach einem Ende ihrer Beziehung geklungen, weder auf professioneller noch auf irgendeiner anderen Ebene. Und sie war sich sicher, dass diese Entscheidung viel bedeutete. Schließlich nannte ihn sonst kaum einer einfach nur ‚Jake‘.

Er hatte sich von seiner Ex-Frau und seinem Sohn distanziert und hatte keine engen Freunde, von denen Riley wusste.

Soweit sie wusste, war er ein einsamer Mann und der Ruhestand würde das auch nicht besser machen.

Sie stieg aus dem Aufzug und ging direkt auf Lehls Büro zu. Als sie dort ankam, sah sie, dass die Tür offen war. Dennoch zögerte sie vor der Tür.

Dann, fast unheimlich, hörte sie Lehls Stimme von innen.

„Kommen Sie rein, Agent Sweeney.“

Sie ging hinein und fand den schlaksigen Spezialagenten hinter seinem Schreibtisch. Wie üblich wirkte er fast zu überdimensioniert für sein Büro, ganz zu schweigen von seinem Schreibtisch.

Sie konnte nicht umhin, zu lächeln, als sie sich daran erinnerte, was Crivaro gesagt hatte, als sie festgestellt hatte, dass Lehl aussah, als stünde er immer auf Stelzen.

„Nein, er sieht aus, als wäre er aus Stelzen gemacht.“

„Nehmen Sie Platz, Agent Sweeney“, sagte Lehl in seinem beängstigenden Bariton.

Riley setzte sich hin und Lehl tat es ihr nach. Er nahm den Hörer ab und bat jemanden, sofort in sein Büro zu kommen. Dann drückte er seine Finger zusammen, schaute Riley an und sagte: „Vielleicht gibt es etwas, das Sie besprechen möchten“.

Riley schluckte schwer.

Jetzt oder nie.

Aber würde sie es wagen, den Abschied ihres Partners infrage zu stellen?

Schließlich war Erik Lehl vermutlich der einzige Mann auf der Welt, der Jake Crivaro tatsächlich einschüchtern konnte.

Dennoch zwang sie sich, den Mund aufzumachen.

„Sir, ich habe gerade mit Agent Crivaro gesprochen.“

Lehl nickte schweigend.

Riley schluckte erneut.

„Ich denke nicht, dass er in den Ruhestand gehen sollte, Sir“, sagte sie.

Lehl nickte erneut.

„Er meinte, dass Sie das sagen würden“, antwortete Lehl.

Riley war überrascht. Das war in etwa das letzte, womit sie gerechnet hatte. Scheinbar hatten Jake und Lehl bereits darüber gesprochen, wie sie auf die Situation reagieren würde.

„Möchten Sie mir erklären, warum Sie das denken?“, fragte Lehl.

Riley geriet in Panik und würde am liebsten den Raum verlassen.

Wie sollte sie das beantworten?

Sie sagte: „Er denkt, dass seine Fähigkeiten nachlassen, Sir.“

„Und Sie sind anderer Meinung?“, fragte Lehl.

„Das bin ich, Sir“, sagte Riley.

„Sind Sie sich sicher, dass Sie wissen, was das Beste für ihn ist?“, fragte Lehl.

Riley hatte plötzlich keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Schließlich war es eine gute Frage. War sie wirklich sicher, dass Jake als Agent so gut war wie eh und je? Sie erinnerte sich an seine Worte.

„Kannst du aufrichtig behaupten, dass ich in letzter Zeit in Bestform war?“

Sie hatte ihm nicht widersprochen. Wäre es die Wahrheit, zu sagen, dass sie seither ihre Meinung geändert hatte?

Lehl kniff die Augen zusammen, als er sie auf gründliche und fast schon analytische Weise betrachtete.

Er sagte: „Ich schätze, was ich frage, ist … in wessen Interesse erzählen Sie mir das? In Ihrem oder in Agent Crivaros?“

Riley sackte auf ihrem Stuhl ein wenig zusammen.

„Ich bin mir nicht sicher“, gab sie zu.

Lehl beugte sich über seinen Schreibtisch.

„Agent Sweeney, Sie und ich haben einige Differenzen gehabt, seit wir uns kennen.“

„Ich weiß“, sagte Riley.

Und das war tatsächlich milde ausgedrückt. Letzten Herbst, als sie noch die Academy besuchte, hatte Crivaro sie von ihrem Studium weggezerrt, damit sie ihm bei einem Fall helfen konnte. Ohne die Zustimmung von irgendjemandem hatte sie sich als Reporterin ausgegeben und einem US-Senator Fragen gestellt, die zur Aufdeckung seines früheren sexuellen Fehlverhaltens geführt hatten. Wie üblich war sie einer Ahnung gefolgt. Aber die Enthüllungen hatte sich erwiesen, nichts mit dem Fall zu tun zu haben, an dem sie gearbeitet hatten.

Ohne es wirklich zu wollen, hatte sie die politische Karriere des Senators beendet. Noch schlimmer – der Vorfall hatte die Verhaltensanalyseeinheit ernsthaft gefährdet. Der Senator war ein hochrangiges Mitglied renommierter Ausschüsse gewesen und hatte viel Sagen über das Taschengeld der Einheit gehabt.

Lehl war mehr als wütend gewesen. Er hatte sich persönlich darum gekümmert, dass Riley von der Academy ausgeschlossen wurde und gab erst nach, nachdem sie mit Jake brillante Arbeit geleistet hatte. Aber seit ihrem Abschluss an der Academy und ihrem offiziellen Beitritt der Einheit war er ihr gegenüber misstrauisch gewesen.

Nun fragte Lehl weiter. „Wo stehen wir nun? Sie und die Agency, meine ich?“

„Ich bin mir nicht sicher, was Sie meinen“, sagte Riley.

Aber sie fürchtete, es genau zu wissen. Sie wusste, dass ihr Status in der Verhaltensanalyseeinheit mehr oder weniger auf Probe war. Vielleicht betrachtete Lehl dies als guten Zeitpunkt, auch sie loszuwerden.

Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ nichts Gutes ahnen.

„Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Agent Sweeney", sagte Lehl. "Ihre Partnerschaft mit Crivaro war immer produktiv, manchmal bemerkenswert. Nichtsdestotrotz hatte ich immer das Gefühl, dass Sie beide eine Tendenz dazu hatten … wie soll ich es ausdrücken? Sich gegenseitig schlecht zu beeinflussen. Ich habe jahrelang mit Crivaro zusammengearbeitet und trotz all seiner Genialität war er immer so etwas wie ein Außenseiter. Er hat mir und der Agentur eine Menge Ärger gemacht. Er hat Regeln zu seinen Gunsten zurechtgebogen und sie manchmal sogar ganz gebrochen. Können Sie leugnen, dass Sie die gleichen Tendenzen haben?“

Riley wagte es nicht, diesbezüglich zu lügen.

„Nein“, sagte sie.

Lehl trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch. „Ich möchte, dass Sie meine nächste Frage so ehrlich beantworten, wie Sie können. Ihre rebellische Ader – haben Sie das von Crivaro aufgeschnappt? Und nun, da er weg ist, kann ich von Ihnen erwarten, dass Sie Ihr Verhalten ändern? Oder …?“

Er ließ den Gedanken unvollendet.

Aber Riley wusste nur zu gut, was er wissen wollte.

War sie von Natur aus eine rebellische Querdenkerin?

Würde sich ihr Verhalten nie ändern? Unabhängig von Crivaros ‚schlechtem Einfluss‘?

Er möchte eine ehrliche Antwort, erinnerte sich Riley.

Und sie wusste, dass eine ehrliche Antwort ihre Karriere genau in dieser Einheit hier und jetzt beenden könnte.

Sie atmete lange und langsam durch.

„Agent Lehl, ich … kann nicht ändern, wer ich bin“, sagte sie.

 

„Ich verstehe“, sagte Lehl und runzelte die Stirn.

„Ich kann nur versprechen, mein Bestes zu geben – falls Sie mich behalten, natürlich. Ich gebe mir keine Mühe, schwierig zu sein, sondern versuche wirklich, mich an die Regeln zu halten. Aber manchmal überkommt mich mein Instinkt.“

Sie hielt kurz inne und fügte dann hinzu: „Aber mir wurde gesagt, dass meine Instinkte ziemlich gut sind. Sogar außergewöhnlich. Und vielleicht … nun, vielleicht ist das der Preis, den man für gute Instinkte zahlen muss. Vielleicht gehört da eben auch ein bisschen Aufmüpfigkeit dazu. Und …“

Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. Aber die Wahrheit war, dass es keinen taktvollen Weg gab, es auszudrücken.

„Und vielleicht müssen Sie einfach entscheiden, ob Sie denken, dass ich die Mühe wert bin. Es liegt wirklich an Ihnen.“

Lehls Gesichtsausdruck änderte sich ein wenig, aber Riley fand ihn schwer zu lesen. War das ein Lächeln auf seine Lippen? Und war das Grunzen, das er von sich gab, nur die Andeutung eins Glucksens?

Er sagte: „Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der Agent Crivaro genau dort saß, wo Sie sind und fast dasselbe zu mir sagte. Ich fand, dass das damals eine ziemlich gute Antwort war und ich schätze, dass es auch heute noch eine ziemlich gute Antwort ist.“

Dann wedelte er mit einem Finger und fügte streng hinzu: „Aber stellen Sie keine Vermutungen über die Grenzen meiner Toleranz an. Ich führe ein strenges Regiment. Und jede Regelverletzung wird Konsequenzen nach sich ziehen. Ich habe die feste Absicht, Ihre Leine so kurz wie möglich zu halten.“

Riley atmete etwas gelöster.

„Ja, Sir“, sagte sie. „Danke, Sir.“

Lehl legte die Stirn in Falten.

„Wofür danken Sie mir?“, fragte er.

Riley stotterte. „Nun, ähm … dafür, dass Sie mich nicht feuern, nehme ich an.“

Lehl zuckte mit den Achseln. Jetzt lächelte er definitiv nicht.

„Oh das“, sagte er. „Betrachten Sie es nicht als gegeben – und machen Sie es sich nicht zu bequem. Ich könnte meine Meinung jederzeit ändern.“

„Ich verstehe, Sir“, sagte Riley.

Lehl nahm eine Akte von seinem Schreibtisch und begann, sie durchzublättern.

„Als Agent Crivaro heute Morgen hier reinkam, hatte ich vor, ihm einen Fall in Utah zu geben. Ich erwartete, dass er den Fall annehmen und Sie als Partner anfordern würde, aber …“

Riley spürte, wie ihr Herz bei dem Gedanken sank, jetzt einen neuen Fall zu übernehmen. Ohne ihren Partner, ihren Mentor, konnte sie nicht arbeiten.

Dann war es, als könne sie Jakes düstere Stimme wieder hören.

„Niemand ist bereit, wenn er zum ersten Mal alleine unterwegs ist. Man muss sich nur selbst bereit machen.“

Ohne weiter darüber nachzudenken, platzte Riley heraus: „Ich will den Fall übernehmen, Sir.“

Mit leisem Knurren antwortete Lehl: „Das ist gut. Aber ich hoffe, Sie denken nicht, dass ich Sie allein da rausschicke. Sie brauchen die Aufsicht eines Erwachsenen.“

Riley konnte nicht anders, als bei diesen Worten zusammenzucken.

In diesem Moment betrat ein junger Mann mit Bürstenschnitt und glattem Teint das Büro. Riley erinnerte sich, dass Lehl nach jemandem gerufen hatte, der sich zu ihnen gesellen sollte, als sie sein Büro betreten hatte.

„Danke, dass Sie gekommen sind, Agent Johnson“, sagte Lehl und erhob sich. „Ich möchte Ihnen Special Agent Riley Sweeney vorstellen.“

Dann sagte er zu Riley: „Das ist Special Agent Cliff Johnson. Obwohl er neu hier in Quantico ist, haben Sie vielleicht schon von ihm gehört. Er hat in der Außenstelle in Boston hervorragende Arbeit geleistet und er bat darum, hierher versetzt zu werden.“

Tatsächlich hatte Riley von Cliff Johnson gehört. Er war mit einem beeindruckenden Ruf hierhergekommen.

Lehl fügte hinzu: „Er wird als Ihr Seniorpartner arbeiten.“

Seniorpartner, dachte Riley.

Das bedeutete, dass dieser junge Mann ihr Befehle geben würde. Obwohl sie wusste, dass er hoch angesehen war, hatte er gerade erst hier in Quantico angefangen und er sah nicht viel älter aus als Riley. Aber sie wusste, dass sie definitiv nicht in der Lage war, Einwände gegen die Situation zu erheben.

Lehl richtete sich an Riley und Johnson. „Ein County-Sheriff in Utah hat die Einheit um Hilfe gebeten. Es hat dort einige Tote durch Elektroschocks gegeben – wahrscheinlich Morde.“

Er übergab die Mappe an Johnson und sagte: „Er hat mir diese Informationen gefaxt. Es ist nicht viel, um weiterzumachen, aber ich bin sicher, er wird viel detaillierter darauf eingehen, wenn Sie dort ankommen.“

Lehl blickte zwischen Riley und Johnson hin und her und sagte dann: „Auf dem Rollfeld wartet gerade ein Flugzeug, das Sie beide nach Utah fliegen soll. Holen Sie Ihre Go-Bags und machen Sie sich sofort auf den Weg.“

Als Riley das Büro verließ, um gemeinsam mit Johnson eilig ihre Go-Bags zu holen, hallte etwas, das Lehl gesagt hatte, immer wieder in ihrem Kopf wider.

"Sie brauchen die Aufsicht eines Erwachsenen."

Der Einsatz begann, sie zu irritieren.

Und sie wünschte sich verzweifelt, noch immer mit Jake Crivaro zusammen zu arbeiten.

KAPITEL SECHS

Als das Flugzeug vom Rollfeld abhob, betrachtete Riley vorsichtig ihren neuen Seniorpartner. Special Agent Cliff Johnson saß ihr gegenüber an einem Klapptisch und starrte aus dem Fenster.

Von dem, was sie über ihn gehört hatte, wusste sie, dass sie für die Chance, mit ihm zu arbeiten, dankbar sein sollte. Obwohl Johnson nur zwei oder drei Jahre älter zu sein, hatte er anscheinend jeden in der Außenstelle in Boston beeindruckt. Tatsächlich hatte er so ziemlich im Alleingang den Fall eines Kindermörder- und Vergewaltigers gelöst.

Riley kannte die Details dieser Ermittlungen nicht, aber sie wusste, dass Johnson quasi als Wunderkind gehandelt wurde – ein bisschen wie sie selbst, als sie damals zur Verhaltensanalyseeinheit gekommen war. Aber während Riley in Quantico mit einem Ruf für Bauchgefühl angekommen war, war Johnson für seine scharfen analytischen Fähigkeiten bekannt.

Vielleicht werden wir uns ergänzen, dachte sie.

Warum hatte sie also solche Zweifel?

Als sie darüber nachdachte, erkannte Riley, dass ihre Bedenken aus dem Verdacht herrührten, dass der neue Agent vielleicht gar nicht so beeindruckend war. Sie wusste, dass analytische Fähigkeiten für Verhaltensanalyse-Mitarbeiter leichter zu verstehen und zu würdigen waren als die eher nebulösen Bauchgefühle, die Jake Crivaro zu einem so erfolgreichen Agenten gemacht hatten. Schließlich hatte Johnson, seitdem er in Quantico angekommen war, noch an keinem einzigen Fall gearbeitet. Tatsächlich war es möglich, dass er noch nie größere Fälle bearbeitet hatte, wie es Riley mit Jake getan hatte.

Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr ärgerte sie sich über die Vorstellung, dass er ihr Befehle geben würde.

Als das Flugzeug Reiseflughöhe erreichte, öffnete Johnson die Akte, die Lehl ihm ausgehändigt hatte und teilte ihren Inhalt mit Riley.

„Okay“, sagte er. „Dann schauen wir uns das mal an und sehen wir, womit wir es zu tun haben.“

Riley unterdrückte ein Kichern. Regionale Ausdrucksweisen amüsierten sie normalerweise nicht, aber Johnsons Boston-Akzent war so intensiv, dass es fast wie eine Parodie klang. Zusammen mit seiner gepflegten Erscheinung und seinem militärischen Auftreten deutete dieser übertriebene Ton von Autorität darauf hin, dass er an Privilegien gewöhnt war – und wahrscheinlich einen Elite-Uni-Stammbaum hatte.

Seine Stimme erschreckte sie jedes Mal, wenn er sprach und sie entschied, sich besser schnell daran zu gewöhnen.

Johnson deutete auf den kurzgefassten Bericht, der zwischen ihnen lag: „Wir haben zwei Todesfälle durch Elektroschocks. Ein Mann namens Andy Gish wurde erst vor einer Woche in Prinneville, Utah, durch einen Stromschlag getötet. Bei dem zweiten Opfer handelt es sich um einen Psychiater, Julian Banfield, der letzte Nacht in Beardsley starb. Sowohl Beardsley als auch Prinneville liegen in Hannaford County. Der Sheriff des Bezirks, Collin Dawes, bat die Verhaltensanalyseeinheit um Hilfe.“

„Und Dawes denkt, dass es sich bei beiden Todesfällen um Tötungsdelikte handelt?“, fragte Riley.

Johnson zuckte mit den Schultern. „Naja, dafür fehlen die Details. Wir wissen nur, dass beide Opfer vor ihrem Tod an Stühle gefesselt wurden.“

Riley legte neugierig die Stirn in Falten.

„Ich kann mich nicht erinnern, an der Academy irgendwelche Fälle behandelt zu haben, in denen es um Mord durch Stromschlag ging“, sagte sie. „Ich frage mich, wie häufig das passiert.“

Johnson lehnte sich zurück und tätschelte sein Kinn.

„Nicht häufig, aber niemand kann genau sagen, wie häufig“, meinte er. „Ich nehme an, Sie kennen die Methode, die am häufigsten für Mord durch Elektroschock zum Einsatz kommt.“

Seine professorale Art – als würde er einen Studenten befragen – überraschte und ärgerte Riley. Trotzdem kam ihr etwas in den Sinn, was vor allem in Filmen öfters gezeigt wurde.

„Ähm, vermutlich durch das Fallenlassens eines elektronischen Geräts in die Badewanne, während das Opfer ein Bad nimmt.“

Johnson nickte. „Genau. Allerdings gibt es keine verlässlichen Aufzeichnungen, wie oft diese Methode tatsächlich angewendet wird. Diese Art des Stromschlags hinterlässt keine Verletzungen – nicht einmal Verbrennungen. Wenn der Täter sich auch nur die Mühe macht, das Gerät im Anschluss zu beseitigen, kann das Opfer so wirken, als wäre es an einem natürlichen Tod gestorben, zum Beispiel einem Herzinfarkt. Also, wer weiß, wie oft diese Art von Mord tatsächlich vorkommt?“

Er lächelte verschmitzt und fügte hinzu: „Man müsste schon ein ziemlich dummer Killer sein, um dabei erwischt zu werden. Aber manche tun es. Es gab einen Fall, in dem ein Mann seine Frau tötete, indem er einen Heizlüfter mit ihr in die Badewanne warf. Vielleicht wäre er damit davongekommen – aber am Tag zuvor hatte er ein Buch aus der Bibliothek ausgeliehen – ‚Der Heimwerker-Elektriker‘. Das hat die Bullen gewissermaßen auf die Spur gebracht.“

Nachdenklich aus dem Fenster blickend fuhr Johnson fort: „Ansonsten ist Elektrizität ziemlich schwer für Mord zu gebrauchen. Mir kommen nur ein paar Fälle in den Sinn. Einmal hat ein Mann seiner Frau ein blankes Stromkabel um den Hals gewickelt. Es war ein Dreißig-Ampere-Kabel ohne Isolierung.“

Er legte den Kopf schief. „Aber auch diese Art von Verbrechen ist selten. Nicht viele Menschen sind gewillt, sich elektrische Kabel um den Hals oder andere nackte Gliedmaßen wickeln zu lassen. Es gibt viele einfachere Wege, Menschen zu töten.“

Rileys Mund fiel bei diesem kleinen Vortrag ein wenig herunter.

Woher weiß er dieses Zeug, fragte sie sich.

Sie sagte: „Ist der jüngste Mord nicht erst letzte Nacht geschehen?“

„Ja.“

„Und wurden wir beide nicht gerade erst mit diesem Fall betraut?“

„Ja, warum?“

Riley sagte: „Nun, es klingt, als hätten Sie schon einschlägige Fallgeschichten studiert.“

Johnson schaute ein bisschen überrascht.

„Das ist nur Zeug, das ich beim Lesen aufgeschnappt habe“, sagte er. „Haben Sie noch nie Simpsons Forensische Medizin gelesen?“

Riley machte eine vage, unverbindliche Geste. Sie kannte das Lehrbuch aus dem forensischen Unterricht an der Academy und sie hatte alle vorgegebenen Passagen gelesen. Aber sie hatte nie angenommen, dass jemand, der nicht wirklich mit Forensik zu tun hatte, es von vorne bis hinten lesen würde.

Dieser Typ scheint es auswendig zu kennen, dachte sie.

Scheinbar unbeeindruckt von Rileys Reaktion, sprach Johnson weiter.

„Manchmal wird der Stromschlag postmortal eingesetzt, um eine andere Methode des Mordes zu verschleiern. Mir fällt zum Beispiel ein Fall ein, in dem der Mörder sein Opfer erstickt und dann die Leiche durch Stromschlag getötet hat, damit es wie ein Unfall mit einem Haushaltsgerät aussah. Natürlich klingt das nicht nach dem, womit wir es hier zu tun haben. Ich bin neugierig, was es mit diesem Fall auf sich hat.“

Sie hatte gehört, dass Cliff Johnson sowohl ein Besserwisser als auch ein scharfer Analytiker war. Aber sie hatte nicht mit einem wandelnden Lexikon gerechnet.

Für wen hält sich dieser Typ? Sherlock Holmes?

Wenn ja, freute sie sich nicht darauf, die Nebenrolle des Dr. Watson zu spielen.

Als sie selbst auf das Papier schaute, sagte Riley: „Die Männer so festzuschnallen würde auf jemanden von beträchtlicher Stärke hindeuten, wahrscheinlich also einen Mann.“

Sie dachte einen Moment lang nach und fügte dann hinzu: „Die große Frage ist – warum?

„Hm?“, sagte Johnson und kniff die Augen zusammen.

 

„Nun, zuerst haben wir die Frage des Motivs. Die Polizei scheint keine Verbindung zwischen den beiden Opfern gefunden zu haben. Bedeutet das, dass es keine weiteren Morde mehr geben wird? Oder dass er erst ins Rollen kommt?“

Riley beugte sich auf ihrem Sitz vor. „Aber noch wichtiger – warum würde sich jemand die Mühe machen, jemandem auf diese Weise zu töten? Sie sagten selbst, Mord durch Elektroschock ist ziemlich aufwändig und nicht gerade praktisch. Es gibt wesentlich einfachere Wege, jemanden zu töten.“

Sie sah Johnson in die Augen. „Ich will damit sagen: Was ist das Verlangen dieses Täters? Was treibt ihn an? Und warum hat ein Faible für Elektrizität?“

Johnson wirkte eher verwirrt. Schließlich antwortete er: „Nun, offensichtlich haben wir dafür noch nicht genügend Daten.“ Dann steckte er die Hände hinter seinen Kopf, lehnte sich zurück und starrte aus dem Fenster.

Riley gab sich alle Mühe, ihren neuen Partner nicht ungläubig anzustarren.

Daten, fragte sie sich.

Glaubte Johnson wirklich, dass sie die Gedanken eines Mörders mit Hilfe von Daten nachvollziehen konnten?

Riley selbst hatte schon die Köpfe vieler Mörder durchschaut, aber das immer mit ihrem Bauchgefühl getan. War ihr Talent bereits überholt? Hatte Johnson recht, wenn er glaubte, dass Zahlen und Statistiken die Persönlichkeit eines Killers entblößen konnten?

Vielleicht ist er sogar noch schlauer, als es scheint, dachte sie.

Es war ein fast vierstündiger Flug von Quantico zum Flughafen in Provo, Utah. Nachdem sie die Appalachen überquert hatten, langweilte sich Riley in der Eintönigkeit der Landschaft des Mittleren Westens und döste immer wieder ein.

*

Riley wurde von einem seltsamen, eisigen Déjà-vu-Gefühl ergriffen, als sie die Handschellen hinter dem Rücken des Mörders befestigte.

Das ist schon einmal passiert, dachte sie.

Ich habe genau dasselbe schon einmal getan.

Dann drehte der Mann, den sie festnahm, sein kindliches Gesicht zu ihr und lächelte sie mit purer Boshaftigkeit an.

„Viel Glück", murmelte er.

Mit einem heftigen Schaudern erinnerte sich Riley.

Larry Mullins!

Sie hatte dieses abscheuliche, kindermordende Monster nicht nur erneut verhaftet, nein, er verspottete sie auch noch genauso wie zuvor.

Und wieder griff sie nach ihrer Glock.

Sie erwartete, dass Crivaro sie warnend an der Schulter berühren würde, so wie er es beim letzten Mal getan hatte.

Stattdessen hörte sie ihn sagen: „Mach weiter. Wir haben beim letzten Mal einen Fehler gemacht. Mach weiter und töte ihn. Es ist der einzige Weg, den Mistkerl loszuwerden. Wenn du es nicht tust, werde ich es tun.“

Riley packte den gefesselten Mann an der Schulter und drehte ihn herum, um ihm ins Gesicht zu sehen. Dann zog sie ihre Pistole und feuerte aus nächster Nähe einen einzigen Schuss in die Mitte seiner Brust ab. Sie fühlte eine Welle der Befriedigung, als er zu Boden fiel. Aber als sie auf ihn hinunterblickte, machten sein Körper und sein Gesicht eine widerliche Verwandlung durch.

Die Person, die zu ihren Füßen lag, war nicht länger das pummelige Monster mit dem Babygesicht, sondern ein unschuldig aussehendes, junges Mädchen. Ihre Augen waren weit geöffnet und ihr Mund bewegte sich lautlos, während sie ihre letzten Atemzüge machte. Sie blickte Riley mit einem Ausdruck furchtbarer Traurigkeit an und blieb dann bewegungslos liegen.

Heidi Wright, erkannte Riley mit Entsetzen.

Riley hatte Heidi Wright Anfang des Jahres im Staat New York getötet.

Und jetzt tötete sie sie erneut …

Riley erwachte mit einem Keuchen und fand sich in der Flugzeugkabine wieder.

„Alles in Ordnung?“, fragte Agent Johnson, der ihr immer noch direkt gegenüber saß.

„Ja“, sagte Riley.

Aber nichts war in Ordnung. Sie hatte gerade einen Traum über ihre erste und einzige Anwendung tödlicher Gewalt gehabt. Damals im Januar während einer Schießerei hatte eine junge Frau namens Heidi Wright ihre eigene Pistole gehoben, um Riley aus nur wenigen Metern Entfernung zu erschießen.

Riley hatte keine andere Wahl gehabt, als zuerst zu schießen.

Der Schuss war gerechtfertigt gewesen und niemand hatte das in Frage gestellt. Trotzdem wurde Riley noch Wochen danach von Schuldgefühlen heimgesucht. Was sie anging, war die arme Heidi Wright ein Opfer der Umstände gewesen und hatte es nicht verdient gehabt, wegen ein paar dummer, jugendlicher Entscheidungen zu sterben.

Riley hatte gedacht, das Trauma mit ihrem Therapeuten verarbeitet zu haben. Aber scheinbar knabberte die Erfahrung noch immer an ihr, wenn auch auf tieferem Level. Riley vermutete, dass ihre Wut über Larry Mullins‘ Gerichtsverfahren dieses Trauma wieder an die Oberfläche befördert hatte.

Aber sie konnte sich davon nicht ablenken lassen. Nicht jetzt, wo sie einen neuen Fall und einen neuen Partner hatte. Und letzterer würde ihre Gefühle bezüglich Heidi Wrights Tod oder Mullins‘ Verurteilung bestimmt nicht verstehen.

Reiß dich einfach zusammen, redete Riley sich ein.

Riley war nun hellwach, als das Flugzeug die Rocky Mountains in Richtung Utah überquerte. Obwohl es jetzt außer auf den Berggipfeln nur noch wenig Schnee gab, weckte das Gelände Erinnerungen an ihren letzten Besuch in dem Bundesstaat. Das war letzten Dezember gewesen. Sie hatte gemeinsam mit Crivaro an ihrem ersten Fall als vollwertige Verhaltensanalyse-Agentin gearbeitet.

Würde dieser Fall genauso grässlich werden wie der Fall, den sie damals gelöst hatten – der Fall eines Serienmörders, der sich auf Campingplätze geschlichen hatte? Es schien nicht unwahrscheinlich, angesichts der Methode der Verbrechen. Aber vielleicht wären sie dieses Mal in der Lage, den Mörder aufzuhalten, bevor er noch mehr Opfer forderte.

Und vielleicht würde wenigstens das Wetter besser sein, dachte sie.

Als das Flugzeug auf dem Rollfeld zum Stehen kam, bemerkte Riley, dass es eine kleine Angelegenheit gab, die ihr auf die Nerven ging. Sie war es gewohnt, mit einem Mann zu arbeiten, der sie "Riley" nannte, während sie ihn immer "Agent Crivaro" genannt hatte – zumindest bis heute Morgen. Es hatte sich für beide völlig natürlich angefühlt.

Welche Formalitäten sollte sie bei ihrem neuen Partner erwarten?

Als sie und Johnson ihre Sitze verließen und sich zum Ausgang begaben, sagte sie zu ihm: „Ich möchte nur eine Sache zwischen uns klären, bevor wir anfangen, zusammen zu arbeiten.“

„Was ist das?“, sagte Johnson und zog seinen Mantel an.

„Wie sollen wir uns gegenseitig nennen?“

Johnson zuckte die Achseln und sagte: „Nun, ich mag es, die Dinge professionell zu halten. Ich schätze, ich würde es vorziehen, als Agent Johnson angesprochen zu werden. Wie soll ich Sie nennen?“

Riley begrüßte es, dass er ihr die Entscheidung überlassen wollte. Sie bezweifelte, dass sie zu diesem Kerl als eine Art Mentor aufschauen würde, wie es bei Crivaro der Fall gewesen war. Sie wollte sicher nicht, dass er sie ‚Riley‘ nannte.

„Ich möchte, dass Sie mich Agent Sweeney nennen.“

„Also gut. Dann werde ich das tun.“

Als sie das Rollfeld betraten, wartete ein Mann mit hängenden Schultern und Zigarette im Mund auf sie. Riley fand, dass er wie ein altmodischer, hartgesottener Filmdetektiv aussah. Aber dann öffnete er seinen zerknitterten Trenchcoat und zeigte sein Abzeichen.

„Ich bin Sheriff Collin Dawes“, stellte er sich vor.

„Haben Sie die Einheit um Hilfe gebeten?“, fragte Johnson.

Dawes nickte und Johnson stellte sich und Riley vor.

Die beiden Männer drehten sich um und gingen gemeinsam auf das wartende Fahrzeug des Sheriffs zu.

Johnson sagte zu Dawes: „Es klingt, als hätten Sie hier eine ungewöhnliche Situation.“

„So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen“, antwortete Dawes. „Wenn wir keine Fotos hätten, wäre es schwer zu beschreiben.“

Riley, die hinter den beiden Männern hertrottete, fühlte sich auf seltsame Weise ausgeschlossen.

Das könnte normal werden, sagte sie sich selbst.

Vielleicht sollte ich mich besser daran gewöhnen.