So Gut Wie Verloren

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Kapitel vier

„Hey, ganz ruhig. Schön gleichmäßig atmen. Ein, aus, ein, aus.“

Cassie öffnete die Augen und betrachtete die massiven Holzbretter der Veranda.

Sie saß auf dem weichen Kissen des schmiedeeisernen Stuhls, ihr Kopf auf den Knien. Feste Hände hielten sie an den Schultern, um sie zu stützen.

Es war Ryan, ihr neuer Arbeitgeber. Seine Hände, seine Stimme.

Was war passiert? Sie war in Panik geraten und hatte sich lächerlich gemacht. Eilig setzte sie sich auf.

„Vorsichtig, mach langsam.“

Cassie rang nach Luft. Ihr Kopf drehte sich und sie hatte das Gefühl, ihren Körper von oben zu sehen.

„Du hattest einen ernsthaften Schwindel-Anfall, würde ich sagen. Für einen Moment glaubte ich, du könntest über die Brüstung fallen“, sagte Ryan. „Ich habe es geschafft, dich festzuhalten, bevor du ohnmächtig wurdest. Wie fühlst du dich?“

Wie sie sich fühlte?

Eiskalt, schwindelig und beschämt. Sie hatte so dringend einen guten Eindruck machen wollen, um Ryans Lob gerecht zu werden. Stattdessen hatte sie es versaut. Sie musste ihm unbedingt erklären, warum.

Aber wie? Wenn er wüsste, was sie mitgemacht hatte und dass ihr ehemaliger Arbeitgeber in diesem Moment wegen Mordes vor Gericht stand, würde er möglicherweise seine Meinung ändern. Vermutlich würde er dann denken, dass sie zu labil war, um sich um seine Kinder zu kümmern, die gerade jetzt nichts mehr brauchten als Stabilität. Selbst eine einfache Panikattacke war bestimmt bereits Grund zur Sorge.

Es war also besser, seine Vermutungen zu bestätigen: Sie hatte Höhenangst und einen Schwindelanfall erlitten.

„Mir geht’s schon wieder viel besser“, antwortete sie. „Es tut mir so leid. Ich hätte daran denken sollen, dass ich extreme Höhenangst habe, wenn ich eine Weile nichts mit Höhen zu tun hatte. Aber das wird sich bessern und in ein paar Tagen wird der Balkon kein Problem mehr für mich darstellen.“

„Das ist gut zu wissen, aber sei bis dahin bitte vorsichtig. Kannst du aufstehen? Halte dich an meinem Arm fest.“

Cassie stand auf und lehnte sich an Ryan, bis sie sich sicher war, dass ihre Beine sie tragen konnten. Dann führte er sie langsam zurück ins Familienzimmer.

„Ich bin okay, danke.“

„Sicher?“ Er hielt ihren Arm noch immer fest, dann ließ er sie los.

„Pack in aller Ruhe aus und mach es dir gemütlich. Um halb sieben gibt es Abendessen.“

* * *

Cassie nahm sich Zeit zum Auspacken und stellte sicher, dass ihre Sachen ordentlich in der anheimelnden, weißen Kommode verstaut waren. Ihre Medikamente versteckte sie ganz hinten in der Schreibtischschublade. Sie glaubte zwar nicht, dass diese Familie in ihrer Abwesenheit durch ihre Sachen gehen würde, aber sie wollte unter keinen Umständen peinliche Frage über ihre Pillen für Unruhezustände beantworten müssen. Vor allem nicht nach der Panikattacke auf dem Balkon.

Wenigstens hatte sie sich schnell von dem Vorfall erholt, ein Zeichen, dass sie ihre Situation unter Kontrolle hatte. Sie machte sich eine gedankliche Notiz, ihre Nachtdosis bereits vor dem Abendessen einzunehmen – nur für den Fall.

Das köstliche Aroma von gedünstetem Knoblauch und angebratenem Fleisch wehte schon weit vor halb sieben durchs Haus. Cassie wartete bis viertel nach sechs, zog sich dann eines ihrer hübschesten Oberteile an, das mit Perlen besetzt war, und trug Lipgloss und ein wenig Mascara auf. Sie wollte sich Ryan von ihrer besten Seite zeigen. Es war ihr wichtig, nach der Panikattacke einen guten Eindruck zu machen. Aber als sie an die Situation auf der Veranda dachte, erinnerte sie sich hauptsächlich an Ryans muskulären Arme, mit denen er sie festgehalten hatte.

Wieder wurde ihr ein bisschen schwindelig, als sie an seine starken und gleichzeitig zärtlichen Berührungen dachte.

Cassie verließ ihr Zimmer und stieß fast mit Madison zusammen, die eilig in Richtung Küche ging.

„Es riecht so gut“, erklärte Madison Cassie.

„Ist es dein Lieblingsessen?“

„Naja, ich liebe Spaghetti Bolognese, wenn Dad kocht, aber nicht in Restaurants. Die machen das einfach nicht auf dieselbe Weise. Also würde ich sagen, es ist mein liebstes Zuhause-Essen. Außerdem liebe ich Brathähnchen und Toad in the hole. Wenn wir essen gehen, bestelle ich meistens Fish and Chips, das bekommt man hier überall. Oh und ich liebe Pizza. Dafür hasse ich Dylans Lieblingsessen – Hamburger. Restaurant-Burger sind einfach nur eklig.“

„Was ist Toad in the hole?“, fragte Cassie neugierig und nahm an, dass es sich um ein traditionell britisches Gericht handeln musste.

„Hast du das noch nie gegessen? Das sind Würstchen in einer Art Kuchenteig aus Eiern, Mehl und Milch. Und dazu braucht man Soße und zwar richtig viel. Und Erbsen und Karotten.“

Ihre Unterhaltung hatte sie bis in die Küche gebracht. Der Holztisch war für vier gedeckt worden, Dylan saß bereits an seinem Platz und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein.

„Burger sind überhaupt nicht eklig. Sie sind die Speise der Götter“, erwiderte er.

„Meine Lehrerin in der Schule sagt, dass Burger hauptsächlich aus Getreide und fein gemahlenen Tierstückchen bestehen, die sonst niemand essen würde.“

„Deine Lehrerin liegt falsch.“

„Unmöglich. Du bist so dumm, das zu sagen.“

Cassie wollte sich gerade einmischen, weil sie das Gefühl hatte, dass Madisons Beleidigung ein bisschen zu persönlich geworden war, aber Dylan konterte zuerst.

„Hey, Maddie.“ Dylan zeigte warnend mit dem Finger auf sie. „Du bist entweder für mich oder gegen mich.“

Cassie verstand nicht, was er damit meinte, aber Madison verdrehte die Augen und streckte ihm die Zunge heraus, bevor sie sich setzte.

„Kann ich dir helfen, Ryan?“

Cassie ging zum Herd, wo Ryan die gekochten Nudeln abschüttete.

Er sah sie an und lächelte.

„Alles unter Kontrolle. Hoffe ich. Essen gibt es in dreißig Sekunden. Kommt Kinder. Holt euch eure Teller und füllt euch auf.

„Ich mag dein Oberteil, Cassie“, sagte Madison.

„Danke. Das habe ich in New York City gekauft.“

„New York City. Wow. Da würde ich nur zu gerne mal hingehen“, sagte Madison mit großen Augen.

„Die Wirtschaftsstudenten der Oberstufe sind im Juni hingeflogen“, sagte Dylan. „Studiere Wirtschaft und dann kannst du vielleicht auch hin.“

„Hat das mit Mathe zu tun?“, fragte Madison.

Dylan nickte.

„Ich hasse Mathe. Es ist langweilig und kompliziert.“

„Naja, dann kannst du nicht nach New York.“

Dylan wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Teller zu und schaufelte sich Spaghetti darauf. Währenddessen spülte Ryan das Kochgeschirr ab.

Als Cassie sah, dass Madison zu rebellieren drohte, wechselte sie schnell das Thema.

„Dein Dad hat mir erzählt, wie gerne du Sport treibst. Was machst du denn am liebsten?“

„Rennen und Turnen. Tennis mag ich auch gerne, das haben wir diesen Sommer angefangen.“

„Und du fährst Rad?“, fragte Cassie Dylan.

Er nickte und bedeckte seine Nudeln mit geriebenem Käse.

„Dylan will Profi werden und eines Tages die Tour de France gewinnen“, sagte Madison.

Ryan gesellte sich zu ihnen an den Tisch.

„Ich denke, du wirst eine seltsame mathematische Formel entdecken und ein volles Stipendium für Cambridge bekommen“, sagte er und betrachtete seinen Sohn stolz.

Dylan schüttelte den Kopf.

„Dad, es wird die Tour de France werden“, meinte er beharrlich.

„Erst auf die Uni“, konterte Ryan mit strenger Stimme und Dylan blickte ihn finster an. Madison unterbrach und fragte nach mehr Saft, den Cassie ihr einschenkte, während der kurze Moment der Uneinigkeit verging.

Cassie aß ihre Nudeln, während die Unterhaltung weiterging. Es war köstlich. Sie war sich sicher, noch nie einen Mann wie Ryan getroffen zu haben. Er war so tüchtig und fürsorglich und sie fragte sich, ob die Kinder wussten, wie viel Glück sie hatten, einen Vater zu haben, der für seine Familie kochte.

Nach dem Abendessen bot sie sich an, das Abspülen zu übernehmen und belud den großen, hochmodernen Geschirrspüler. Ryan erklärte, dass die Kinder nach dem Essen eine Stunde fernsehen durften, wenn ihre Hausaufgaben fertig waren. Zur Schlafenszeit würde er dann das WLAN abschalten.

„Es ist nicht gut, wenn diese Bildschirm-Teenager die ganze Nacht an ihren Handys sind“, sagte er. „Und das tun sie, wenn sie die Gelegenheit dazu haben. Wenn Schlafenszeit ist, wird geschlafen.“

Um halb neun begaben sich die zwei Kinder folgsam zu Bett.

Dylan wünschte ihr kurz eine gute Nacht und informierte sie, dass er am nächsten Tag früh aufstehen würde, um mit seinen Freunden Rad zu fahren.

„Willst du, dass ich dich wecke?“, fragte Cassie.

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, das ist in Ordnung“, sagte er, bevor er seine Schlafzimmertür hinter sich schloss.

Madison war gesprächiger und Cassie verbrachte einige Zeit an ihrem Bett und lauschte ihren Ideen, was sie am nächsten Tag tun könnten und wie das Wetter wohl sein würde.

„Es gibt einen Süßigkeiten-Laden im Dorf, wo es die niedlichsten, gestreiften Süßwaren gibt. Sie sehen aus wie kleine Spazierstöcke und schmecken nach Pfefferminz. Dad lässt uns nicht oft hin, aber vielleicht macht er ja morgen eine Ausnahme.“

„Ich werde ihn fragen“, versprach Cassie. Dann brachte sie dem Mädchen noch ein Glas Wasser ans Bett und schaltete ihr Licht aus.

Als sie vorsichtig Madisons Tür hinter sich zumachte, erinnerte sie sich an ihre erste Nacht auf dem französischen Schloss. Wie sie erschöpft eingeschlafen und nicht sofort zur Stelle gewesen war, als das jüngste Kind von Albträumen geplagt laut geschrien hatte. Sie konnte noch immer den Schmerz und den Schrecken der brennenden Ohrfeige spüren. Das hätte sie dazu veranlassen sollen, sofort zu gehen, aber sie war ihren Instinkten nicht gefolgt.

 

Cassie war sich sicher, dass Ryan so etwas nie tun würde. Sie konnte sich bei ihm nicht einmal eine verbale Ermahnung vorstellen.

Beim Gedanken an Ryan erinnerte sie sich auch an das Glas Wein auf dem Balkon, das Ryan ihr angeboten hatte und sie zögerte. Sie war versucht, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, war sich aber nicht sicher, ob das eine gute Idee war.

Hatte er es tatsächlich ernst gemeint, als er sie eingeladen hatte, sich zu ihm zu gesellen? Oder war es ein Höflichkeitsangebot gewesen?

Noch immer unsicher ertappte sie sich dabei, ihre dickste Jacke herauszusuchen. Sie würde das Terrain sondieren und herausfinden, wie er darauf reagierte. Wenn er so wirkte, als wolle er keine Gesellschaft, würde sie kurz etwas trinken und dann zu Bett gehen.

Als sie den Gang entlang ging, kämpfte sie noch immer mit ihrer Entscheidung. Als Angestellte war es nicht richtig, nach Feierabend ein Glas Wein mit ihrem Arbeitgeber zu trinken – oder doch? Um absolut professionell zu bleiben, müsste sie jetzt zu Bett gehen. Doch da Ryan so zuvorkommend gewesen war, ihr Visum ignoriert und versprochen hatte, in bar zu bezahlen, waren die Grenzen der Professionalität bereits verschwommen.

Sie war ein Freund der Familie, das hatte Ryan gesagt. Und nach dem Essen ein Glas Wein zusammen zu trinken, war genau das, was ein Freund tun würde.

Ryan schien erfreut, sie zu sehen und in ihr machten sich Erleichterung und Aufregung breit, als sie sein warmes, ehrliches Lächeln sah.

Er stand auf, nahm ihren Arm und geleitete sie fürsorglich über die Veranda zu einem Stuhl.

Sie sah erfreut, dass er ein zweites Weinglas auf dem Tablett bereitgestellt hatte.

„Magst du Chardonnay?“

Cassie nickte. „Sehr gerne sogar.“

„Um die Wahrheit zu sagen, habe ich keine ausgeprägten Geschmacksnerven für Wein. Am liebsten trinken ich einen ganz normalen Rotwein. Aber dieses fantastische Exemplar wurde mir von einem dankbaren Kunden nach einem erfolgreichen Angelausflug geschenkt. Und ich genieße es sehr, mich durchzutrinken. Prost.“

Er beugte sich nach vorne und stieß mit ihr an.

„Erzähl mir mehr über dein Unternehmen“, sagte Cassie.

„Ich habe South Winds Sailing vor zwölf Jahren gegründet, das war kurz nach Dylans Geburt. Er hat mich dazu gebracht, mein Leben zu überdenken und herauszufinden, was ich meinen Kindern bieten konnte. Ich habe nach der Schule drei Jahre bei der Royal Navy verbracht, wo ich schließlich zum Deckoffizier der Handelsmarine befördert wurde. Ich habe das Meer in meinem Blut und könnte mir niemals vorstellen, im Inland zu leben oder zu arbeiten.“

Cassie nickte, als er fortfuhr.

„Als Dylan geboren wurde, begann der Tourismus hier in der Gegend zu wachsen. Also habe ich gekündigt – zu dem Zeitpunkt war ich Leiter des Hafens in Cornwall – und mein erstes Boot gekauft. Das zweite folgte kurz darauf und heute gehört mir eine Flotte, die aus sechzehn Booten jeglicher Form und Größe besteht. Motorboote, Segelboote, Paddelboote. Aber mein Prachtstück ist eine neue Charter-Jacht, die vor allem bei Firmenkunden sehr beliebt ist.“

„Das ist fantastisch“, sagte Cassie.

„Es ist wirklich eine sehr spannende Reise und das Unternehmen hat mir viel gegeben. Ein angenehmes Einkommen, ein wundervolles Leben und ein tolles Zuhause, das ich nach meinem Traumhaus designt habe. Glücklicherweise hat der Architekt die wilderen Elemente ein bisschen abgemildert, sonst wäre das Haus mittlerweile vermutlich ins Meer gefallen.“

Cassie lachte.

„Dein Unternehmen verlangt bestimmt viel Einsatz von dir“, bemerkte sie.

„Oh, ja.“ Ryan stellte sein Glas ab und richtete seinen Blick gen Meer. „Als Geschäftsinhaber muss man ständig Opfer bringen und Überstunden machen. Nur selten habe ich mal ein Wochenende frei. Heute habe ich meinen Manager gebeten, für mich zu übernehmen, damit ich dich treffen konnte. Ich denke, das ist auch der Grund …“

Er drehte sich zu ihr und fing ihren Blick auf. Seine Augen wurden ernst.

„Ich denke, dass deshalb meine Ehe gescheitert ist.“

Cassie freute sich, dass er sich ihr gegenüber öffnete. Sie nickte mitfühlend und hoffte, dass er weiterreden würde. Nach einer Weile fuhr er fort.

„Als die Kinder noch kleiner waren, war es einfacher für Trish, meine Frau, zu verstehen, dass die Arbeit für mich an erster Stelle stand. Aber als sie älter und unabhängiger wurden, wollte sie, nun ja, dass ich deren Rolle in ihrem Leben übernahm. Sie forderte emotionale Unterstützung, Zeit und Aufmerksamkeit von mir, und das schon fast exzessive. Für mich war das sehr zehrend und dadurch entstanden dann Konflikte. Sie war eine starke Frau, das hat mich ursprünglich auch angezogen. Aber Menschen verändern sich und ich glaube, das war auch bei ihr der Fall.“

„Das klingt sehr traurig“, sagte Cassie.

Ihr Glas war fast leer und Ryan schenkte erst ihr und dann sich nach.

„Es war sehr niederschmetternd. Ich kann nicht einmal erklären, wie stürmisch die letzte Zeit gewesen ist. Wenn du jemanden liebst, kannst du ihn nicht einfach so gehen lassen. Und wenn die Liebe verschwindet, sucht man ununterbrochen danach. Hoffend und betend, dass man zurückgewinnen kann, was man einst so sehr geschätzt hat. Ich habe es versucht, Cassie. Mit allem, was ich habe. Und als klar wurde, dass es nicht funktionierte, fühlte es sich wie eine Niederlage an.“

Cassie ertappte sich dabei, sich weiter zu ihm zu beugen.

„Wie erschreckend, dass so etwas passieren kann.“

„Das ist das richtige Wort. Es ist sehr beängstigend. Ich fühlte mich unzureichend und haltlos. Ich nehme Verpflichtungen sehr ernst, eine Ehe bedeutet für mich für immer. Als Trish mich verließ, musste ich die Definition meiner Selbst überarbeiten.“

Cassie blinzelte. Sie konnte den Schmerz in seiner Stimme hören, er klang frisch und pur. Es musste ihn unglaublich viel Energie kosten, sein Leid hinter einem witzelnden und unbeschwerten Verhalten zu verstecken.

Sie wollte Ryan gerade sagen, wie sehr sie ihn für seine Stärke bewunderte, die er ausstrahlte, hielt sich aber noch rechtzeitig auf, als sie realisierte, wie aufdringlich der Kommentar doch klingen würde. Sie kannte Ryan kaum und hatte kein Recht, nach einigen Stunden in seiner Gesellschaft eine so persönliche Beobachtung anzustellen.

Was dachte sie sich dabei? Und dachte sie überhaupt?

Sie entschied, dass der Wein ihr zu Kopf gestiegen war und sie ihre Worte vorsichtig wählen musste. Nur weil Ryan ein so gutaussehender, intelligenter und netter Arbeitgeber war, hatte sie kein Recht, sich in seiner Anwesenheit wie ein faszinierter Teenager zu benehmen. Sie musste damit aufhören, bevor sie sich furchtbar blamierte.

„Ich sollte dich zu Bett gehen lassen“, sagte Ryan und stellte sein leeres Glas ab. „Du musst von der Fahrt und dem Kennenlernen meiner zwei Rabauken völlig erschöpft sein. Danke, dass du dich zu mir gesellt hast. Es bedeutet mir viel, so mit dir sprechen zu können.“

„Es war ein sehr angenehmes Ende meines Tages und eine wirklich wundervolle Möglichkeit, zu entspannen“, stimmte Cassie ihm zu.

Sie fühlte sich überhaupt nicht entspannt. Die Intimität der Unterhaltung hatte sie nervös gemacht. Als sie aufstand und nach drinnen ging, konnte sie nicht aufhören, darüber nachzudenken, was er ihr erzählt hatte.

In ihrem Zimmer warf sie einen kurzen Blick auf ihre SMS und war dankbar, dass dieses Haus mit dem Internet verbunden war. An ihrem letzten Arbeitsplatz hatte es kein Handysignal gegeben und sie sich vollkommen isoliert gefühlt. Bis dahin war ihr nicht bewusst gewesen, wie furchteinflößend es sein konnte, nicht in der Lage zu sein, mit der Außenwelt zu kommunizieren.

Cassie klickte sich durch die kurzen Nachrichten und Memes von Freunden in den Staaten.

Dann sah sie eine weitere Nachricht, die sie am frühen Abend empfangen hatte. Bei dem Absender handelte es sich um eine unbekannte Nummer aus England und ihre Alarmglocken läuteten. Sie öffnete die SMS und ihr wurde schlecht vor Angst.

„Sei vorsichtig“, stand auf ihrem Bildschirm.

Kapitel fünf

Cassie hatte erwartet, in dem gemütlichen Zimmer mit dem Wellenrauschen im Ohr gut zu schlafen. Sie war davon überzeugt, dass dem auch so gewesen wäre, hätte sie nicht die besorgniserregende Nachricht von der unbekannten Rufnummer erhalten, während sie mit Ryan auf der Veranda gesessen hatte.

Ihr erster panischer Gedanke galt der Gerichtsverhandlung ihres ehemaligen Arbeitsgebers. Vielleicht war sie belastet worden und es lief eine Fahndung nach ihr. Sie versuchte, die aktuellen Nachrichten abzurufen, stellte aber frustriert fest, dass Ryan das WLAN bereits abgestellt hatte.

Sie wälzte sich im Bett hin und her und machte sich Sorgen. Was bedeutete die Nachricht? Wer hatte sie geschickt? Sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass die Nachricht vermutlich nicht für sie bestimmt gewesen war.

* * *

Nach einer rastlosen Nacht fiel sie schließlich in einen unruhigen Schlaf und wurde von dem Klingeln ihres Weckers geweckt. Erleichtert stellte sie fest, dass das WLAN wieder aktiviert worden war.

Noch bevor sie das Bett verließ, suchte sich online nach Neuigkeiten bezüglich der Gerichtsverhandlung.

Cassie erfuhr, dass die Verhandlungen vertagt worden waren und erst in zwei Wochen wieder aufgenommen werden sollten. Eine gründlichere Recherche ergab, dass die Verteidigung mehr Zeit brauchte, um zusätzliche Zeugen zu kontaktieren.

Ihr wurde schlecht vor Angst.

Erneut öffnete sie die seltsame Nachricht. „Sei vorsichtig.“ Sie fragte sich, ob sie darauf antworten sollte, um herauszufinden, was sie bedeutete. Aber der Absender schien sie blockiert zu haben, denn sie konnte der Nummer keine Nachricht schicken.

Verzweifelt versuchte sie, die Nummer zurückzurufen.

Doch der Anruf wurde sofort unterbrochen. Offensichtlich war auch diese Form der Kontaktaufnahme unterbunden worden.

Cassie seufzte frustriert. Aufgrund der fehlenden Kommunikation fühlte sich die Nachricht immer mehr wie eine Belästigung an – nicht wie eine ehrliche Warnung. Am einfachsten war es also tatsächlich, daran zu glauben, dass es sich um ein Versehen gehandelt hatte: Der Absender hatte den Fehler zu spät bemerkt und daraufhin ihre Nummer gesperrt.

Nur unwesentlich beruhigt stand sie auf, um die Kinder zu wecken.

Dylan war bereits aus dem Haus und Cassie nahm an, dass er mit dem Rad unterwegs war. Sie betrat sein Zimmer mit der Hoffnung, er würde dies nicht als Verletzung seiner Privatsphäre betrachten, schüttelte sein Bett aus und sammelte verstreute Klamotten ein.

Sein Regal war mit einer Vielzahl von unterschiedlichsten Büchern vollgestopft, einige schienen auch vom Radfahren zu handeln. In einem Aquarium auf dem Bücherregal schwammen zwei Goldfische und auf einem großen Tisch in der Nähe des Fensters befand sich ein Hasenstall. Ein grauer Hase aß ein Frühstück aus Salatblättern und Cassie sah ihm fröhlich zu.

Dann verließ sie sein Zimmer, um an Madisons Tür zu klopfen.

„Gib mir zehn Minuten“, hörte sie das Mädchen schläfrig rufen. Also begab sich Cassie in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten.

Dort sah sie, dass Ryan unter dem Salzstreuer Bargeld und eine Notiz hinterlassen hatte. „Bin bei der Arbeit. Macht euch einen schönen Tag! Ich werde abends wieder zurück sein.“

Cassie steckte eine Scheibe Brot in den hübschen Toaster mit Blumenmuster und füllte den Wasserkessel. Während sie Kaffee kochte, betrat auch Madison in einem pinken Bademantel gähnend die Küche.

„Guten Morgen“, begrüßte Cassie sie.

„Morgen. Ich bin froh, dass du hier bist. Alle anderen stehen so früh auf“, beschwerte sie sich.

„Trinkst du Kaffee? Tee? Saft?“

„Tee bitte.“

„Toast?

Madison schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich habe noch keinen Hunger.“

„Worauf hast du heute Lust? Dein Dad hat uns angewiesen, etwas zu unternehmen“, sagte Cassie und schenkte Madison wie gewünscht Tee mit einem Schuss Milch ein.

„Lass uns in die Stadt gehen“, sagte Madison. „Dort ist am Wochenende immer was los.“

„Gute Idee. Weißt du, wann Dylan zurück sein wird?“

„Normalerweise ist er etwa eine Stunde unterwegs.“ Madison legte ihre Hände um die Teetasse und blies auf die dampfende Flüssigkeit.

Cassie war beeindruckt, wie unabhängig die Kinder zu sein schienen. Offensichtlich waren sie es nicht gewohnt, überbehütet zu werden. Das Dorf war vermutlich klein und sicher genug, sodass die Kinder es als Erweiterung ihres eigenen Zuhauses betrachteten.

Kurz darauf kam auch Dylan zurück und um neun Uhr waren alle angezogen und bereit für den Ausflug. Cassie wollte den Wagen zu nehmen, aber Dylan riet ihr davon ab.

 

„Am Wochenende ist es schwer, einen Parkplatz zu finden. Für gewöhnlich laufen wir ins Dorf, das sind nur zweieinhalb Kilometer. Zurück nehmen wir dann den Bus. Er fährt alle zwei Stunden, wir müssen es also richtig timen.“

Der Spaziergang zum Dorf hätte nicht malerischer sein können. Der Blick auf das Meer und die hübschen Häuser begeisterte Cassie und irgendwo in der Ferne konnte sie sogar Kirchenglocken hören. Die Luft war frisch und kühl und sie genoss den Geruch des Meeres.

Madison sprang vor ihr her und zeigte auf die Häuser von Leuten, die sie kannte, was so ziemlich auf jeden zuzutreffen schien.

Einige Autos fuhren vorbei und winkten ihnen zu und eine Frau hielt sogar ihren Range Rover an, um sie mitzunehmen.

„Nein danke, Mrs. O’Donoghue, wir laufen gerne“, rief Madison. „Aber vielleicht kommen wir auf dem Rückweg auf das Angebot zurück!“

„Ich werde nach euch Ausschau halten“, versprach die Frau lächelnd, bevor sie weiterfuhr. Madison erklärte, dass die Frau mit ihrem Mann landeinwärts lebte, wo sie einen kleinen Biohof führten.

„Im Dorf gibt es einen Laden, der ihre Produkte verkauft. Manchmal gibt es dort auch selbstgemachtes Karamell“, sagte Madison.

„Dann werden wir auf jeden Fall dort hingehen“, versprach Cassie.

„Ihre Kinder sind richtige Glückspilze. Sie gehen aufs Internat in Cornwall. Ich wünschte, ich könnte auch dorthin“, sagte Madison.

Cassie runzelte die Stirn und fragte sich, warum Madison ihr perfektes Leben verlassen wollte. Vielleicht hatte die Scheidung sie verunsichert und sie wünschte sich eine größere Gemeinschaft?

„Bist du glücklich in deiner jetzigen Schule?“, fragte sie sicherheitshalber.

„Oh ja, es ist toll dort. Naja, außer dem Lernen eben“, sagte Madison.

Cassie war erleichtert, dass es keine versteckten Probleme zu geben schien und Madison nicht etwa gemobbt wurde.

Die Läden im Dorf waren genauso anheimelnd, wie sie es sich erhofft hatte. Einige verkaufen Angelausrüstung, warme Kleidung und Sportequipment. Cassie probierte ein Paar hübscher Handschuhe an, als sie sich an ihre kalten Hände auf der Veranda erinnerte. Aber aufgrund ihrer Finanzen entschied sie sich, dass es besser war, zu warten und sich ein billigeres Paar zu kaufen.

Der Geruch von frischgebackenem Brot lotste sie über die Straße zur Bäckerei. Nach einigem Hin und Her mit den Kindern kaufte sie schließlich ein Sauerteigbrot und Pecan Pie.

Die einzige Enttäuschung des Morgens war der Süßigkeiten-Laden.

Als Madison erwartungsvoll zur Tür marschierte, blieb sie niedergeschlagen stehen.

Der Laden war geschlossen und an der Tür hing ein handgeschriebener Zettel. „Liebe Kunden – wir sind übers Wochenende auf einem Familiengeburtstag! Wir werden am Dienstag wieder zurück sein, um Ihnen Ihre liebsten Köstlichkeiten zu servieren.“

Madison seufzte traurig.

„Normalerweise kümmert sich ihre Tochter um den Laden, wenn sie weg sind. Aber sieht so aus, als wären sie alle zu der dummen Party gegangen.“

„Scheint so. Aber Kopf hoch, wir können nächste Woche zurückkommen.“

„Das ist noch so lange hin.“ Mit gesenktem Kopf drehte sich Madison weg und Cassie biss sich nervös auf die Lippe. Sie wollte unbedingt, dass dieser Ausflug von Erfolg gekrönt war und hatte sich bereits Ryans freudiges Gesicht ausgemalt, wenn seine Kinder ihm von einem tollen Tag erzählten. Sie hatte sich vorgestellt, wie er sie dankbar ansehen oder ihr gar ein Kompliment machen würde.

„Wir kommen nächste Woche zurück“, wiederholte sie, wusste aber, dass dies ein neunjähriges Mädchen, das sich bereits auf Pfefferminz-Zuckerstangen gefreut hatte, nur geringfügig trösten konnte.

„Und vielleicht finden wir in den anderen Läden ja auch etwas Süßes“, fügte sie hinzu.

„Komm schon, Maddie“, sagte Dylan ungeduldig, nahm ihre Hand und zog sie von dem Laden weg. Cassie entdeckte das Geschäft, von dem Madison ihr erzählt hatte und der Frau gehörte, die ihnen eine Mitfahrgelegenheit angeboten hatte.

„Lasst uns noch hier reingehen und danach entscheiden wir uns, wo wir etwas zu Mittag essen“, sagte sie.

Cassie dachte an die gesunden Abendessen und Snacks und entschied sich für ein paar Tüten mit klein geschnittenem Gemüse, Birnen und Trockenfrüchten.

„Können wir Maronen kaufen?“, fragte Madison. „Die schmecken super, wenn sie über dem Feuer geröstet werden. Letzten Winter haben wir das mit meiner Mum gemacht.“

Es war das erste Mal, dass eines der Kinder ihre Mutter erwähnte und Cassie wartete nervös, ob die Erinnerung Madison verärgern würde. Oder vielleicht war dies ein Zeichen, dass sie über die Scheidung sprechen wollte? Zu ihrer Erleichterung machte das Mädchen einen ausgeglichenen Eindruck.

„Natürlich, das ist eine sehr schöne Idee.“ Cassie legte eine Tüte Maronen in den Korb.

„Schau mal, dort ist das Karamell!“

Madison deutete aufgeregt zu den Süßwaren und Cassie vermutete, dass der Moment vorbei war. Aber jetzt, wo das Eis gebrochen war und sie ihre Mutter erwähnt hatte, würde sie vielleicht erneut darüber reden wollen. Cassie machte sich eine mentale Notiz, die Signale zu beobachten. Sie wollte keine Gelegenheit verpassen, den Kindern durch diese schwierige Zeit zu helfen.

Das Karamell war auf einem Tisch in der Nähe der Kasse mit anderen Süßwaren ausgestellt. Es gab außerdem kandierte Äpfel, Pfefferminzbonbons, Turkish Delight und sogar kleine Zuckerstangen.

„Was hättet ihr gerne, Dylan und Madison?“, fragte sie.

„Einen kandierten Apfel, bitte. Und Karamell und eine Zuckerstange“, sagte Madison.

„Einen kandierten Apfel, zwei Zuckerstangen, Karamell und Turkish Delight“, fügte Dylan hinzu.

„Ich glaube, zwei Süßigkeiten pro Person sind genug, sonst habt ihr beim Mittagessen keinen Appetit mehr“, sagte Cassie, die sich daran erinnerte, dass übermäßiger Zuckerkonsum in dieser Familie verpönt war. Sie nahm zwei kandierte Äpfel und zwei Tüten Karamell vom Display.

„Glaubt ihr, euer Vater hätte gerne etwas?“ Ihr wurde warm ums Herz, als sie Ryan erwähnte.

„Er mag Nüsse“, sagte Madison und zeigte auf die gerösteten Cashew-Kerne. „Die isst er am liebsten.“

Cassie legte eine Tüte in ihren Korb und ging zur Kasse.

„Hallo“, begrüßte sie die Kassiererin, ein molliges, blondes, junges Mädchen mit einem Namensschild, auf dem ‚Tina‘ stand. Sie lächelte und begrüßte Madison beim Vornamen.

„Hallo Madison. Wie geht’s deinem Vater? Ist er wieder zuhause oder noch immer im Krankenhaus?“

Cassie sah Madison besorgt an. Hatte man versäumt, ihr davon zu erzählen? Aber Madison runzelte verwirrt die Stirn.

„Er war nicht im Krankenhaus.“

„Oh, tut mir leid, das muss ich missverstanden haben. Als er zuletzt hier war, hat er gesagt …“, begann Tina.

Madison unterbrach sie und starrte die Kassiererin neugierig an, während diese den Einkauf abrechnete.

„Du bist fett geworden.“

Entsetzt über die Taktlosigkeit ihres Kommentars, fühlte Cassie, wie ihr Gesicht krebsrot wurde – genau wie Tinas.

„Es tut mir so leid“, murmelte sie entschuldigend.

„Keine Ursache.“

Cassie sah, wie niedergeschlagen Tina aussah. Was war in Madison gefahren? Hatte ihr niemand beigebracht, solche Sachen nicht laut auszusprechen? War sie zu klein, um zu realisieren, wie verletzend Worte sein konnten?

Ihr war klar, dass weitere Entschuldigungen die Situation nicht verbessern konnten, also nahm sie das Wechselgeld und schob das Mädchen aus dem Laden, bevor ihr noch mehr einfiel.

„Es ist nicht höflich, so etwas zu sagen“, erklärte sie, als sie außer Hörweite waren.

„Warum?“, fragte Madison. „Es ist die Wahrheit. Sie ist viel fetter als noch im August.“

„Es ist immer besser, solche Beobachtungen für sich zu behalten, vor allem wenn andere Leute zuhören. Vielleicht hat sie ein Drüsenproblem oder nimmt Medikamente, von denen sie zunimmt, wie zum Beispiel Kortison. Oder vielleicht bekommt sie ein Baby und will noch nicht, dass die Leute davon wissen.“

Sie schielte zu Dylan, um zu sehen, ob er zuhörte, doch er wühlte in seinen Taschen und schien beschäftigt zu sein.

Madison runzelte die Stirn, während sie darüber nachdachte.

„Okay“, sagte sie. „Ich werde beim nächsten Mal daran denken.“

Cassie atmete erleichtert aus, weil ihre Logik verstanden worden war.

„Hättest du gerne einen kandierten Apfel?“