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KAPITEL ZWEI

Craddock begann die Vernehmung. Als er das tat, hatte er ein kleines Lächeln im Gesicht. Sie war sich sicher, dass es dazu dienen sollte sie zu entspannen, doch es erweckte eher den Eindruck, dass er es genoss sie dieser Tortur zu unterziehen.

„Agentin Fine, woher wussten Sie, wo Ihre Schwester war?“

Die Wahrheit war natürlich, dass Danielle sie von einem Münztelefon angerufen hatte. Doch die Wahrheit würde für sie beide verhängnisvoll sein. Sie besann sich auf die Geschichte, die sie erfunden hatten, als sie die Leiche ihres Vaters vergruben und gab diese wieder.

„Ehrlichgesagt war es beinahe ein glücklicher Zufallstreffer. Als ich begriffen hatte, dass etwas los war, habe ich begonnen an Orte zu denken, zu denen mein Vater sie hätte bringen können. Danielle lebte einst in Millseed – während einer Zeit in ihrem Leben, zu der sie unserem Vater gegenüber einmal verbal konfrontativ gewesen war. Sie hatte mir immer wieder mal erzählt, dass das eine Mal, als sie mit ihm gesprochen hatte – während eines Besuches, um ihn im Gefängnis zu sehen – er ihr gesagt hatte, dass sie an einen Ort wie Millseed gehörte. Ein erbärmliches Städtchen, dass austrocknete und ausstarb. Er hatte gesagt, dass es ein schrecklicher Ort zum Sterben wäre, doch vielleicht genau was sie verdiente.“

„War ihr Vater immer schon so dramatisch und gut darin, die Zukunft zu prophezeien?“, fragte Kirsch.

„Vergeben Sie mir, wenn ich den Charakter meines Vaters nicht mit Ihnen besprechen möchte“, sagte Chloe. „Geht es hier um das Profil meines Vaters oder darum mich erneut zu allem, was vorgefallen ist, zu befragen?“

Craddock und Kirsch tauschten verstörte Blicke aus, bevor sie fortfuhren. Johnson starrte sie an, während sein Gesichtsausdruck eine einfache Botschaft transportierte: Vergreif dich nicht im Ton.

„Können Sie uns genau erzählen, was passiert ist, als sie dort angekommen sind?“, fragte Kirsch.

„Der Ort war einfach zu finden“, sagte Chloe. „Danielle hatte mir Geschichten erzählt von einigen der nicht-so-legalen Aktivitäten, die sie und einige Freunde dort in diesem alten Warenlager getrieben haben. Ich musste nur in einem Laden halten und fragen, wie ich dort hinkomme. Als ich dort ankam, hatte er sie an einen Stuhl gefesselt und ohrfeigte sie. Ich konfrontierte ihn, wir kämpften ein bisschen, dann gelang es ihm zu entkommen.“

„Definieren Sie kämpften, sagte Craddock.

„Das Gebrauchen von Fäusten, um einander zu schlagen. Manchmal Treten. Der Versuch, seinen Gegner mit physischer Kraft zu übermannen.“

„Agentin Fine“, sagte Kirsch. „Ich empfehle Ihnen diese Befragung ernst zu nehmen.“

„Oh, das tue ich. Und die anderen zwei Mal, an denen ich ausführlich befragt wurde, habe ich es auch ernst genommen.“ Sie hielt hier einen Moment inne und atmete schwer, während sie versuchte sich unter Kontrolle halten. „Schauen Sie. Ich verstehe die Notwendigkeit alles genau nachzuvollziehen und ich akzeptiere vollkommen meine Schuld daran, versucht zu haben die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Aber Sie müssen verstehen… das ist nicht einfach irgendein Fall. Hier geht es um meine Schwester und meinen Vater und die ganze abscheuliche Familiengeschichte zwischen uns allen. Ich genieße es nicht besonders, immer und immer wieder in diese Mangel genommen zu werden.“

Ihr kleiner Appell hatte wohl funktioniert – zumindest ein Stück weit. Craddock und Kirsch tauschten traurige Blicke untereinander aus. Dann schauten sie zu Johnson, der leicht mit den Schultern zuckte.

„Natürlich versuchen wir das zu bedenken“, sagte Craddock. Dann, so als würde er jedes Wort sehr vorsichtig wählen, fragte er: „Denken Sie, dass Sie ihn während des Kampfes verletzt haben?“

Also war ihr Appell vielleicht doch nicht so effektiv gewesen, wie sie gedacht hatte. Wütend fuhr sie fort und beantwortete die Frage. Sie log und sagte, dass sie dachte, sie hatte ihm womöglich eine Rippe angeknackst oder gebrochen. Es war ein überflüssiges und unnützes Detail, aber sie wusste, dass man in dieser Art Verhör genau nach solchen Details Ausschau hielt.

Als sie mit der Befragung fortfuhren, wurde ihr klar, was genau sie hier taten. Sie brachten sie dazu, immer und immer wieder die Geschichte zu erzählen, immer wieder von einem anderen Standpunkt aus, und beobachteten, ob sie irgendetwas an ihren Aussagen veränderte. Sie versuchten sie zu ertappen… sie wusste nur nicht genau, warum.

Vielleicht haben sie etwas gefunden, was die Geschichte zum Einstürzen bringt, dachte sie. Doch das bezweifelte sie. Wenn das der Fall wäre, wären die Fragen viel direkter und sie hätten ihr womöglich sogar schon etwas vorgeworfen.

Aber nein… stattdessen suchten sie nach Löchern in ihrer Erzählung. Und Chloe hatte nicht vor, ihnen das zu geben.

Doch sie fragte sich, wie dieses Szenario wohl ablaufen würde, wenn Danielle an ihrer Stelle hier sitzen würde. Wenn sie Danielle vorladen würden und sie ein drittes Mal die Geschichte aufsagen ließen – in einem offizielleren Rahmen mit all diesen Wichtigtuern um sie herum – würde sie zusammenbrechen?

Es machte Chloe Angst darüber nachzudenken. Also gab sie ihr Bestes, es nicht zu tun, während sie ihre Wut herunterschluckte und weiter ihre Fragen beantwortete, wie ein liebes, kleines Mädchen.

***

Es ging schneller, als sie erwartet hatte, als sie Platz genommen hatte. Craddock und Kirsch gingen fünfzehn Minuten später. Als sie weg waren, blickte Johnson sie über den Tisch hinweg an. Chloe war gespannt, ob er den sympathisierenden guten Kerl spielen würde, oder ob er sich auf die Seite des Machtduos, das soeben sein Büro verlassen hatte, schlagen würde.

„Tut mir leid, dass Sie das erneut durchmachen mussten“, sagte er.

„Wirklich? Sie schienen sehr gut mit den beiden zu harmonieren.“

„Fine… Ich verstehe, dass Sie unter einer unglaublichen Menge emotionalen Drucks stehen, aber ich muss Sie trotzdem auf Ihren Ton und Ihre Einstellung hinweisen. Ich versuche so verständnisvoll wie möglich zu sein, aber ich werde auf jeden Fall einen Bericht über Ihre Insubordination erstellen, wenn Sie mich und ihre anderen Vorgesetzen weiterhin auf diese unverschämte Art und Weise ansprechen.“

Sie schluckte ihre Wut und ihren Stolz wieder hinunter und nickte. „Ich verstehe. Kann ich nun gehen?“

„Ja. Sie werden auf Ihrem Schreibtisch ihre Aufgaben vorfinden. Abhörprotokolle und eine Rechercheanfrage eines Feldagenten in Philadelphia, glaube ich.“

„Soll das ein Witz sein?“

Sie verließ sein Büro, bevor er die Möglichkeit hatte eine Antwort oder Erklärung zu liefern. Obwohl sie sich sicherlich nicht über trivialen Schreitischaufgaben stehen sah, die viele Agenten Woche für Woche ausführen mussten, erschien es ihr trotzdem wie ein Rückschritt. Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob es eine Art Strafe sein sollte – und wenn ja, so fragte sie sich, wie lange das andauern würde.

Normalerweise war sie jemand, die ihre Emotionen für sich behielt, doch gerade musste Chloe damit kämpfen ihre Wut unter Kontrolle zu behalten. Sie nahm sich Zeit zu ihrer Arbeitsnische zurückzukehren, da sie wusste, dass ihre Wut nur weiter ansteigen würde, wenn sie die dämlichen Aufgaben zu Gesicht bekam, die Johnson für sie vorbereitet hatte.

Sie war so in ihrem eigenen emotionalen Chaos verschlungen, dass sie beinahe das bekannte Gesicht der Person übersah, die aus einem Büro am Ende des Korridors hinaustrat. Es war Rhodes, ihren Blick nach unten gerichtet, während sie etwas auf ihrem Handy durchblätterte. Als sie aufsah und Chloe bemerkte, sah sie zuerst alarmiert und dann erleichtert aus.

„Alles gut?“, fragte Rhodes.

„Ja. Aber du hast mich gestern gesehen. Wieso fragst du jetzt?“

„Es spricht sich rum“, sagte Rhodes. „Ich habe gehört, du wurdest heute zu Johnson einbestellt. Ich habe auch gehört, dass Direktor Craddock da war. Ich habe mir gedacht, dass du für irgendwas abgekanzelt wirst.“

„Nein, nicht wirklich. Es ist bloß…sie wollen diese Geschichte mit meiner Schwester und meinem Vater wieder hervorholen und ich bin einfach fertig damit.“

Rhodes schaute in alle Richtungen über den Flur, so als wollte sie sichergehen, dass sich niemand in Hörweite befand. „Ich frage mich, ob sie sehen wollen, ob es dich emotional mitgenommen hat… vielleicht wollen sie sehen, ob du in der Lage bist nach so einem persönlichen und traumatischen Ereignis zu arbeiten.“

„Das bezweifele ich.“

„Ich weiß nicht. Es würde erklären, wieso ich soeben einen Fall bekommen habe ohne dich als Partnerin. Ich weiß, dass wir noch nicht zu offiziellen Partnerinnen gemacht wurden, aber der Fall sieht so aus, als würde er genau auf dein Profil passen.“

„Was? Wann hast du den Fall bekommen?“

„Vor einer halben Stunde. Ich mache gerade Reisepläne. Der Grund, den ich bekommen habe war, dass Johnson sich nicht sicher ist, ob du der Aufgabe gewachsen seist. Er meint du bräuchtest womöglich etwas Zeit, um dich zu erholen.“

Chloe grinste, aber nur weil es einfacher war, als einen zornigen Aufschrei zu unterdrücken. „Ich bin in bester Ordnung. Anscheinend ist seine Auffassung von Erholung, Abhörmaterial durchzugehen und in der Rechercheabteilung auszuhelfen.“

„Du armes Ding“, sagte Rhodes. „Wenn du willst, kann ich darauf drängen, dass du dazukommen sollst.“

„Das weiß ich zu schätzen“, sagte Chloe, „aber ich denke, dass ich das selbst tun werde.“

Rhodes nickte, doch es war klar, dass es ihr nicht gefiel, wie sich die Dinge entwickelten. „Besteh aber nicht zu sehr darauf. Ich würde nicht wollen, dass du Probleme bekommst oder so.“

„Das werde ich nicht.“

Sie war gerade dabei kehrt zu machen und direkt zurück zu Johnsons Büro zu marschieren, doch dann fiel ihr etwas auf. Es sah Rhodes überhaupt nicht ähnlich, diese Art von Fürsorge zu zeigen. Die Phrase Ich würde nicht wollen, dass du Probleme bekommst oder so sah ihr überhaupt nicht ähnlich.

 

„Rhodes… hast du irgendetwas gehört? Über mich und meine Schwester?“

„Nichts, was nicht jedermann bereits gehört hätte. Es ist irgendwie rausgekommen, dass du drüben in Texas warst und irgendeine Konfrontation mit deinem Vater hattest. Die meisten hier finden, dass es sehr mutig von dir war. Ich glaube, Johnson denkt das wahrscheinlich auch… er hat bloß seine Vorgesetzten, die ihm über die Schulter schauen.“

Chloe war sich nicht ganz sicher wieso, aber sie glaubte ihr nicht. Sie hatte das Gefühl, dass sie Rhodes immer besser kannte, und es gab etwas an der Art, wie diese ihre Frage beantwortet hatte, die Chloe suspekt vorkam. Trotzdem, wenn sie diesen Fall übernehmen und mit ihrem Leben wie bisher weitermachen wollte, musste sie es erstmal dabei belassen.

Sie ging zurück zu Johnsons Büro und traf ihn auf dem Gang, als er sich auf dem Weg nach irgendwo anders befand.

„Also, ich habe mit Rhodes gesprochen“, sagte sie. „Wieso habe ich nicht die Gelegenheit bekommen an diesem neuen Fall mit ihr zusammenzuarbeiten?“

„Nicht, dass ich Ihnen eine Antwort schulde, aber ich war mir nicht sicher, ob Sie in der Verfassung sind, wieder da rauszugehen, wenn man bedenkt, was Sie alles durchgemacht haben.“

„Ich schätze das, Sir. Aber, selbst wenn mein Einsatz sonst nichts bringt, denke ich, dass es tatsächlich eher hilfreich für mich sein würde.“

Er grinste sie an und sie war sich nicht sicher, ob es Abscheu oder Gutwillen ausdrücken sollte. „Würde es Ihnen helfen, diese insubordinierte Einstellung abzulegen, die sie jetzt haben?“

„Das kann ich nicht versprechen”, sagte sie. Sie hatte es als Witz gemeint, in der Hoffnung, dass es ihn erweichen würde.

„Sie wird in ein paar Stunden abreisen. Können Sie alles einfach so stehen und liegen lassen und mitfahren?“

„Ja, Sir.“

Johnson dachte einen Moment lang darüber nach und seufzte. „Der Fall scheint tatsächlich genau ihr Ding zu sein.“ Dann zuckte er besiegt mit den Schultern und sagte: „Okay. Sprechen Sie mit Rhodes und lassen Sie sich alle Einzelheiten geben. Sie sind offiziell auf den Fall angesetzt, aber ich will, dass sie verantwortlich vorgehen. Wenn Sie da draußen merken, dass sie noch nicht soweit sind, müssen Sie mit mir ehrlich sein.“

„Natürlich. Und danke, Sir.“

Sie machte abrupt kehrt und ging zurück zu Rhodes Büro, bevor er Zeit hatte, seine Meinung zu ändern.

KAPITEL DREI

Danielle ging mit den Nachwirkungen von Millseed, Texas ungefähr genauso gut um, wie sie erwartet hätte. Weil Danielle es immer bevorzugt hatte in ihrer Einsamkeit zu versumpfen, statt tatsächlich proaktiv zu handeln, hatte sie die fünf Tage seit ihrer Heimkehr damit verbracht, in ihrer Wohnung rumzusitzen. Das Einzige, was sie getan hatte, um sich besser zu fühlen, war wegen ihrer Verletzungen einen Arzt aufzusuchen. Sie hatte eine leichte Gehirnerschütterung erlitten und hatte ihr Fußgelenk während des Kampfes mit ihrem Vater leicht gezerrt, sonst nichts.

Trotzdem schmerzte ihr ganzer Körper. Sie hatte irgendwo etwas darüber gelesen, dass der Körper sich erinnerte – dass, selbst wenn keine physischen Verletzungen vorlagen, die Muskeln und Nervenenden den Druck eines gewissen Ortes und eines gewissen Momentes speicherten und ihn wieder an die Oberfläche bringen konnten.

Anscheinend tat ihr Körper genau das.

Auch musste sie den Umstand verarbeiten, dass sie keinerlei Reue verspürte. Sie war froh, dass der Mistkerl tot war – sogar froh, dass sie dabei Hand angelegt hatte. Wenn sie an die körperlich harte Aufgabe der Aushebung seines Grabes und des darauffolgenden Vergrabens seiner Leiche zurückdachte, war sie mit Erleichterung und Stolz erfüllt, ohne jedwede Trauer.

Das waren alles Dinge, die sie Chloe niemals sagen würde. Ihr war sehr klar, dass Chloe immer schon gedacht hatte, sie wäre etwas entrückt. Obwohl es schwer war, Chloes Einstellung, was das anging, einzuordnen. Manchmal wurde das Thema als passive komische Deeskalation einer Situation genutzt, doch bei anderen Malen hatte sie das Gefühl, dass Chloe sie dafür fast schon von oben herab betrachtete.

Ehrlichgesagt wollte Danielle einfach zurückkehren zu ihrem Leben – zurück zur Arbeit, zurück zum so tun, als würde ihr Vater nicht existieren. Sie fand immer noch, dass es unfair von ihm gewesen war, wieder aufzutauchen, nachdem sie so einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht hatte, so zu tun, als hätte er nie existiert.

Nun, am fünften Tag nach allem, was in Millseed vorgefallen war, saß Danielle auf ihrer Couch und versuchte zu entscheiden, was sie auf Netflix schauen sollte. Sie wusste, dass sie sich duschen sollte, wusste, dass sie in der Arbeit anrufen musste, um zu sehen, wann sie wieder Schichten zugeteilt bekommen würde. Doch sie wusste, dass sobald sie das tat, ihr Leben tatsächlich wieder weitergehen würde. Und auch wenn es ein Cliché zu sein schien, wusste sie, dass nun, wo ihr Vater tot war, ein neues Kapitel ihres Lebens beginnen würde, sobald sie es schaffte ihren Arsch von der Couch zu heben.

Als hätte es ihre Gedanken über die Notwendigkeit zur Handlung gelesen, begann ihr Handy auf dem Sofatisch zu klingeln. Sie griff danach und sah überrascht, dass es Chloe war. Seitdem sie aus Texas zurückgekehrt waren, hatten sie nur einmal gesprochen. Es sah Chloe nicht ähnlich sich nach so einem monumentalen Ereignis zu distanzieren, doch Danielle hatte angenommen, dass sie ihre Gründe dafür hatte. Die Lügen, die sie konstruiert hatten, waren so komplex und zahlreich, dass sie wahrscheinlich dachte, es wäre besser eine Weile lang nicht so viel zu kommunizieren.

Wieso ruft sie nun also an?

Neugierig beantwortete sie den Anruf. „Hey, Schwesterherz.“

„Hey, Danielle. Wie fühlst du dich?“

„Erholt und weitestgehend ok, glaube ich. Du?“

„Auch. Ich habe die letzten Tage aber nicht so gut geschlafen. Ich habe das Bedürfnis, wieder mit dem Leben weiterzumachen, weißt du?“

„Tatsächlich verstehe ich dich“, sagte Danielle. „Das mit dem Schlafen… hast du Albträume?“

„Nein. Bloß Angstzustände, glaube ich. Hör mal, D… auf der Arbeit ist gerade alles ein bisschen komisch und ich wollte dich vorwarnen. Ich wurde heute Morgen zu dem, was passiert ist, befragt. Dieses Mal war es aber nicht bloß mein Direktor. Er hat ein paar andere Leute von weiter oben eingeladen – die Art Leute, die nur involviert sind, wenn möglicherweise Probleme anstehen könnten.“

„Wie ist es gelaufen?“, fragte Danielle. Sie wusste wie vorsichtig ihre Schwester sein konnte. Sie dachte nicht, dass ihre Schwester unter dem Druck nachgegeben haben könnte, aber sie konnte sich nicht absolut sicher sein. Wenn eine von ihnen zusammenbrach oder sich verplapperte und ihre Geschichten nicht mehr übereinstimmten, würden sie beide ziemlich tief in der Scheiße stecken.

„Es war alles ok, aber ich mache mir Sorgen, dass sie dich auch einbestellen könnten.“

„Müsste ich nicht erst verhaftet werden, um so verhört zu werden?“

„Nein. An diesem Punkt wird es fast wie ein Gebot der Höflichkeit angesehen. Sie haben dich bereits befragt, also werden sie von dir erwarten, ihnen erneut den Gefallen zu tun.“

„Zum Teufel damit. Wieso würde ich das noch einmal durchmachen wollen?“

„Wenn sie dich kontaktieren, darfst du ihnen gegenüber keine solche Einstellung zeigen.“

Danielle rollte mit den Augen. „Also soll ich mich für die verrenken und es einfach über mich ergehen lassen, so oft, wie sie wollen?“

„Für eine Weile, ja. Aber bitte… Danielle, bitte halte dich an die Geschichte. Lass dich nicht von deinen Emotionen oder deinem Ärger leiten.“

„Ist das wirklich, wieso du angerufen hast?“, fragte Danielle.

„Ist es. Naja, das und auch weil ich weiß, wie du dazu tendierst in deinen Emotionen zu versacken, wenn das Leben schwer wird. Wie hältst du dich?“

„Ich stinke. Und mir sind die Serien auf Netflix ausgegangen. Ich überlege mir, morgen wieder zur Arbeit zu gehen.“

„Das klingt gut“, sagte Chloe. „Bitte rede nicht mit den Leuten, mit denen du arbeitest, darüber, was wir getan haben, okay?“

„Mein Gott, Chloe. Ich bin kein Idiot.“

„Ich weiß, es ist nur, ich – “

„Chloe, lassen wir das. Wie wär’s damit: du machst mit deinem Leben weiter und ich tue dasselbe. Lassen wir uns ein paar Wochen Zeit und schauen dann, wo wir stehen. Ich weiß, wie sowas geht. Wir haben etwas ziemlich Abgefucktes durchgemacht. Und egal, wie du es dir in deinem Kopf ausmalen magst, du und ich standen uns nie besonders nahe. Wir haben nicht eine dieser engen Schwesterbeziehungen, weißt du? Also brauchen wir einander vielleicht auch nicht, um das alles zu bewältigen.“

In der Mitte ihres Monologs hatte sie gespürt, dass sie zu viel gesagt hatte, aber es war bereits zu spät gewesen.

„Ja, vielleicht hast du recht“, sagte Chloe. Ihre Stimme klang schwach und ernüchtert. Danielle hatte eindeutig ihre Gefühle verletzt – ein Umstand, für den sie weder als Kind noch als erwachsene Frau jemals wirklich ein Gespür gehabt hatte.

„Chloe…“

„Ich finde, du solltest wieder zu deiner Arbeit zurückkehren“, unterbrach Chloe sie. „Nehm einfach dein Leben wieder auf, so wie es vor alle dem war. Und wenn das FBI oder die Cops was von dir wollen, ist das Einzige, worum ich dich bitte, ruhig zu bleiben. Nimm es nicht persönlich. Schließlich tun sie wirklich nur ihren Job.“

„Ja, ich weiß.“

„Hab dich lieb, Schwesterchen. Mach’s gut solange.“

Bevor Danielle antworten konnte, hatte Chloe aufgelegt. Danielle legte langsam ihr Handy weg, nicht ganz sicher, was sie so an der Art dieses Gesprächs gestört hatte. Sie war immer diejenige Schwester gewesen, die feindselige Diskussionen kalt gelassen hatten. Doch jetzt, wo sie fühlte, dass Chloe so genervt von ihr war, hatte sie das Gefühl, sie ließ ihre Schwester hängen.

Das ist, weil sie deinen Arsch vor einem dummen Fehler bewahrt hat, dachte sie.

Ja, sie hatte sich in den letzten paar Tagen mehrere Male gedacht, dass Chloe wahrscheinlich ihr Leben gerettet hatte. Und das würde die Richtung ihrer Beziehung von hier an verändern. Sie hatte sich noch nie wohlgefühlt bei dem Gedanken, dass sie irgendjemanden irgendetwas schuldete und nun war sie sich einfach nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte.

Abwesend begann sie erneut durch die Netflix Webseite zu scrollen. Sie schaute wieder auf ihr Handy und überlegte sich bei der Arbeit anzurufen. Vielleicht könnte sie sogar heute Abend noch eine Schicht übernehmen.

Chloe hatte schließlich recht. Früher oder später musste sie einfach weitermachen. Sie hatte nicht mehr den Schatten ihres Vaters über sich stehen, auf den sie alles schieben konnte. Nein, nun war der größere Fehler einer, zu dem sie stehen musste – das Wissen, dass sie eine große Rolle im Tod ihres Vaters gespielt hatte.

Ja, es würde ihr gesamtes Leben von nun an verändern, aber es war kein Grund das Handtuch zu schmeißen und alles aufzugeben. Doch was ihr am meisten Angst bereitete, war die sich aufdrängende Einsicht – jetzt wo ihr Vater nicht mehr da war – dass er womöglich doch nicht das einzige Problem in ihrem Leben gewesen war.