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Mary, Erzählung

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Drei Jahre später

Drei Jahre später fuhr Mary nach langem Regen an einem schönen Frühlingstage mit einer Verwandten, Alice Clerq, in Paris die Avenue du Bois de Boulogne hinunter auf das vergoldete Parktor zu. Sie hatten sich in Amerika kennen gelernt und sich hier in Paris im vorigen Jahre wiedergetroffen. Alice Clerq wohnte jetzt mit ihrem Vater in Paris. Der alte Clerq war früher der bedeutendste Kunsthändler von New York gewesen und hatte eine Norwegerin aus der Familie Krog geheiratet. Nach dem Tode seiner Frau verkaufte er sein riesiges Geschäft. Die Tochter war mit der Kunst aufgewachsen und hatte eine gründliche Ausbildung darin genossen. Sie hatte die Museen der ganzen Welt gesehen, hatte ihren Vater sogar bis nach Japan geschleppt. Ihr Hôtel in den Champs Elysées war voll von Kunstgegenständen. Dort hatte sie auch ihr Atelier; sie war nämlich Bildhauerin. Alice war nicht mehr jung, eine kräftige, rundliche Person, gutmütig und lustig.

Dies Jahr kam Anders Krog mit seiner Begleitung aus Spanien. Die beiden Freundinnen sprachen gerade über ein Bild Marys, das aus Spanien an Alice geschickt war und nach Norwegen weiter wanderte. Alice behauptete, der Künstler habe es offenbar auf eine Ähnlichkeit mit Donatellos "Heiliger Cäcilie" abgesehen. Durch die Stellung des Kopfes, die Form der Augen, die Linie des Halses und den halb geöffneten Mund. Aber so interessant dieser Versuch sein möge, für die Ähnlichkeit sei er von Schaden. Zum Beispiel sei es ein Verlust für das Bild, daß die Augen nicht zu sehen seien; die habe sie ja niedergeschlagen wie bei Donatello. Mary lachte. Gerade um diese Ähnlichkeit herauszubekommen, habe sie ihm gesessen.

Nun erzählte Alice von einem norwegischen Genieoffizier, den sie kennen gelernt habe, als sie mit seiner Mutter im Sommer in Norwegen gewesen sei. Er habe das Bild bei ihr gesehen und sich ganz in dieses Porträt verliebt.—"So", sagte Mary wie abwesend.—"Es ist kein gewöhnlicher Mensch, kannst Du glauben, und auch kein gewöhnliches Verliebtsein." —"Nanu?"—"Ich bereite Dich vor. Er kommt natürlich bei mir mit Dir zusammen."—"Ist das nötig?"—"Sehr. Denn sonst muß ich es ausbaden." —"Ist er denn gefährlich?" Alice lachte: "Mir wenigstens."—"Sieh einer an! Ja, das ist etwas anderes."—"Jetzt verstehst Du mich falsch. Warte, bis Du ihn siehst."—"Ist er so schön?"—Alice lachte: "Nein, er ist geradezu häßlich!—Na, warte nur ab."—Sie fuhren weiter, das Gedränge wurde größer; es war einer der Haupttage.—"Wie heißt er?" —"Franz Röy."—"Röy? So heißt unsere Ärztin auch. Fräulein Röy." —"Ja, das ist seine Schwester; er spricht oft von ihr."—"Sie hat eine herrliche Figur."—Da richtete Alice sich auf: "Und er? Wenn ich mit ihm über die Straße gehe, drehen die Leute sich um, weil sie ihn noch einmal sehen wollen. Ein richtiger Riese! Aber keiner von den fettgepolsterten. Nein, sehr groß und geschmeidig." —"Also gut trainiert?"—"Riesig. Auf nichts ist er so stolz wie auf seine Kraft, und nichts zeigt er so gern!"—"Ist er denn dumm?"—"Dumm? Franz Röy?" —Sie lehnte sich wieder zurück, und Mary fragte nicht weiter.

Sie kamen spät draußen an; endlose Wagenreihen zogen an ihnen vorbei heimwärts aus dem Bois. Die drei breiten Fahrwege der Avenue waren gedrängt voll. Je näher sie dem eisernen Tor kamen, wo die Wege zusammenliefen, desto dichter wurden die Wagenreihen. Diese Zurschaustellung von hellen und bunten Frühjahrstoiletten an dem ersten sonnigen Tage nach dem Regen war ein einzigartiges Schauspiel. Zwischen den neubelaubten Bäumen wirkten die Wagen wie gefüllte Blumenkörbe im Grün, einer hinter dem andern, einer neben dem andern, ohne Anfang und ohne Ende.

Am Tor kamen sie in die Nähe der wogenden Menge von Fußgängern. Aber kaum waren sie mitten drin, als sich von rechts nach links hinüber eine unruhige Bewegung fortpflanzte. Dort rechts mußten die Leute etwas sehen, was von hier aus nicht zu sehen war. Einige schrien und zeigten nach den Seen hinüber, die Wagen fuhren auf Kommando zur Seite oder in die Querwege hinein, die Bewegung wuchs, bald war sie allgemein. Schutzleute und Parkwächter rannten hin und her, die Wagen stauten sich so dicht, daß keiner mehr vom Fleck kam. Ein breiter Mittelgang war bald weit hinunter frei. Alle spähten und fragten,—da kam es! Ein paar durchgegangene Pferde mit einem großen Wagen. Auf dem Bock sah man den Kutscher und den Groom. Es mußte sich ein Kampf abgespielt haben, so daß man Zeit bekam, den Weg frei zu machen, oder die Pferde mußten in sehr großer Entfernung scheu geworden sein. Hier, diesseits des Tores, waren alle Gefährte aus dem Mittelweg verschwunden; Alices Wagen stand beinahe zu äußerst am linken Fußweg. Hinter sich hörten sie Geschrei; vermutlich wurde die ganze Avenue freigemacht. Aber niemand blickt dahin, alles sieht nach vorn. Ein stattliches Gespann kommt in rasender Fahrt auf sie zu. Von Neugier getrieben, wogen zu beiden Seiten die Massen vor und zurück. Ängstliche Menschen draußen vor dem Tor riefen: "Schließt das Tor!"—Ein rasender Protest, ein tausendstimmiger Hohn von drinnen antwortete ihnen. Alle Wageninsassen hatten sich erhoben, manche standen auf den Sitzen. Auch Alice und Mary. Es machte den Eindruck, als werde die Fahrt toller, je näher die Tiere kamen. Kutscher und Groom rissen aus Leibeskräften an den Zügeln; aber das stachelte die Tiere nur an. Ein Mann im Zylinder beugte den Oberkörper aus dem Wagen, vermutlich um festzustellen, wo er sich den Hals brechen werde. Ein paar Hunde liefen mit eifrigem Protest hinterher, hier oben lockten sie noch mehrere andere auf die Bahn hinaus, die sich aber nicht weit vorwagten. Die zwei oder drei, die es taten, prallten gegeneinander, daß einer sich überstürzte und überfahren wurde, der Wagen machte einen Satz, der Hund heulte auf,—seine Kameraden hielten eine Weile inne.

Da löst sich ein Mann aus den Massen am eisernen Portal und tritt mitten auf den Weg. Man schrie, man schwang Stöcke und Regenschirme und drohte ihm. Ein paar Schutzleute wagten sich einige Schritte hinter ihm her und winkten und riefen; das gleiche tat diesseits ein Parkwächter, lief aber in Todesangst wieder zurück. Statt auf die Rufe und Drohungen zu achten, nahm der Mann die Pferde aufs Korn, trat nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links … offenbar um sich ihnen entgegenzuwerfen.

Sowie die Menge das erfaßt hatte, wurde sie still, ja, es wurde so still, daß man die Vögel in den Bäumen singen hören konnte, hören auch das ferne, dumpfe Getöse der nimmer stillen Riesenstadt, das vom Winde herübergetragen wurde. Es gab dem Vogelgezwitscher einen einförmigen Unterton. Merkwürdig, daß die Pferde genau so gespannt dastanden wie die Menschen; sie rührten keinen Fuß. Nur die Hunde waren wieder in Bewegung.

Nun hatte der wilde Zug den Mann mitten auf der Straße erreicht. Er drehte sich pfeilschnell nach derselben Seite wie die Pferde, lief neben ihnen her und warf sich dann dem nächsten in die Flanke …

"Das ist er!" rief Alice mit leichenblassem Gesicht und packte Mary so krampfhaft, daß sie beide ins Stolpern kamen. Schrill und wild kreischten weibliche Stimmen auf. Ein dumpfes Gebrüll von Männerstimmen folgte. Jetzt hing er an dem einen Pferde. Alice schloß die Augen, Mary wandte sich ab. Lief er mit oder wurde er geschleift? Sie anhalten konnte er nicht.

Wieder einige Sekunden lang eine fürchterliche Stille, nur die Hunde und die Hufe der Pferde hörte man. Dann ein kurzer Aufschrei und dann tausende, und dann Jubel, wilder, endloser Jubel. Wehende Taschentücher, Hüte und Sonnenschirme. Die Menge strömte zu beiden Seiten wie eine Sturmflut wieder in die Avenue hinein. Hier oben war die Straße in einem Augenblick gedrängt voll. Die rasenden Tiere standen schaumbedeckt und zitternd dicht bei Alices Wagen. Sie sah einen grauen Engländer, einen schlanken alten Herrn mit weißem Bart und im Zylinder, und sie sah eine junge schlanke Dame an seinem Arm hängen und hörte den Alten sagen: "Well done, young man!"

Ein schallendes Gelächter folgte. Und jetzt erst sah sie ihn, dem die Worte gegolten hatten, wie er die Pferde bei den Nüstern gepackt hatte, ohne Hut, mit aufgerissener Weste und blutenden Händen, jetzt aber das schweißbedeckte, aufgeregte Gesicht lustig dem Engländer zuwandte. Gerade im selben Augenblick gewahrte er Alice. Sie stand ja noch immer auf dem Sitz ihres Wagens. Ohne Zögern ließ er Pferde und Wagen mitsamt dem Engländer stehen und bahnte sich den Weg zu ihr: "Verehrteste, bringen Sie mich fort aus diesem Wirrwarr!" sagte er laut in seiner breiten ostländischen Mundart. Ehe sie antworten, ja noch ehe sie vom Sitz herunterkommen, geschweige ehe der Groom sich vom Bock herabschwingen konnte, hatte er die Wagentür geöffnet und war bei ihnen im Wagen. Er half erst Alice von der Bank herunter, dann ihrer Freundin. Darauf sagte er auf französisch zum Kutscher: "Fahren Sie mich nach Hause, so schnell Sie loskommen können. Sie wissen die Adresse wohl."—"Ja, Herr Hauptmann", antwortete der Kutscher mit ehrerbietigem Gruß und bewundernden Blicken. Als Franz Röy sich hinsetzen wollte, verzog er das Gesicht und rief, indem er sich an den Fuß faßte: "Au, Donnerwetter, das Ekel hat mich getreten. Jetzt merke ich es erst." In diesem Augenblick begegnete er Marys großen, verwunderten Augen; er hatte sie bisher nicht angesehen, nicht einmal, als er ihr vom Sitz heruntergeholfen hatte. Die Veränderung in seinem Gesichtsausdruck war so gewaltig und so überwältigend komisch, daß die beiden Damen in lautes Lachen ausbrachen. Er faßte mit der blutigen Hand an seinen Hut—und merkte, daß er keinen aufhatte. Da lachte er auch.

Der Kutscher hatte inzwischen den Wagen ein paar Meter vorwärts bugsiert, nun versuchte er zu wenden.

"Ja, ich brauche wohl nicht erst zu sagen, wer das ist?" lachte Alice.

"Nein!" sagte er und starrte Mary an, daß sie rot wurde.

"Aber, mein Gott, wie konnten Sie das wagen!"—Alices Stimme war's.—"Ach, das ist nicht so gefährlich, wie es aussieht", antwortete er, ohne ein Auge von Mary zu wenden. "Es ist bloß ein Kniff. Ich habe es schon vorher zweimal gemacht." Er sprach nur zu Mary. "Diesmal sah ich gleich, daß bloß das eine Pferd den Verstand verloren hatte; das andere wurde nur mitgerissen. Ja, da nahm ich mir also das tolle vor. Pfui Teufel, wie sehe ich aus!" Jetzt erst entdeckte er, daß seine Weste zerrissen, daß seine Uhr weg war, und daß seine blutende Hand ihn beschmutzte. Mary bot ihm ihr Taschentuch an. Er blickte auf das feine, gestickte Gewebe und dann auf sie: "Nein, gnädiges Fräulein, das wäre, als wollte man Baumrinde mit Seide flicken."

 

Gleich draußen vor dem Tor an der rechten Seite wohnte er, also war es keine Entfernung. Mit herzlichem Dank, ohne die blutige Hand darzubieten, stieg er aus.

Als er schlank und riesig über den Fußweg von dannen hinkte und der Wagen wendete, sagte Alice leise auf englisch: "Wer so ein Modell haben könnte, Mary!"—Mary sah sie verwundert an: "Ja, läßt sich denn das nicht machen?"—Alice gab Mary den Blick noch verwunderter zurück: "Nackt meine ich." Mary machte beinahe einen Luftsprung, beugte sich dann nach vorn und sah Alice gerade ins Gesicht. Alice begegnete ihren Augen mit einem schelmischen Lachen.

Mary lehnte sich zurück und starrte vor sich hin.

* * * * *

Franz Röy mußte sich wegen seines Fußes einige Tage Schonung auferlegen. Als er sich wieder bei Alice meldete, wurde verabredetermaßen Mary benachrichtigt. Aber es überkam sie eine solche Unruhe, daß sie sich nicht hinzugehen getraute. Beim nächsten Mal trieb die Neugier, oder was es sonst war, sie hin. Aber sie kam sehr spät, und kaum stand sie ihm gegenüber, da wünschte sie, sie wäre nie gekommen. Er hatte etwas so Intensives, daß die vornehme Dame es als Aufdringlichkeit, ja fast als Beleidigung empfand. Ihr Wesen war in Aufruhr, sie folgte ihm mit den Augen, mit den Ohren; die Gedanken sausten in ihr und das Blut auch. Es muß doch mal vorübergehen, dachte sie. Aber das war nicht der Fall. Alices Verzauberung oder richtiger ihre Verliebtheit erhöhte das Schwindelgefühl. War er eigentlich so häßlich? Diese breite, steile Stirn, diese kleinen, sprühenden Augen, der zusammengekniffene Mund, das vorspringende Kinn, das hatte alles in allem etwas ungewöhnlich Kraftvolles, aber es wurde spaßhaft, weil er beinahe gar keine Nase hatte. Spaßhaft war auch das meiste, was er sagte. So immer aufgelegt und lustig, daß um ihn her beständig Heiterkeit war, so unerschöpflich voller Einfälle. Seine Manieren hatten nichts Gewaltsames; er war im Gegenteil die Höflichkeit selbst; er war aufmerksam, zuweilen sogar galant. Es lag nur an dem Überwältigenden in ihm. Seine Sprache und seine Augen allein waren wie ein Gewitter. Aber auch seine Gestalt tat das ihre, diese kraftvolle Hand, dieser massige Fuß, der fast nur Spann war, diese Schultern, der Nacken, der Brustkasten, das alles sprach mit, wirkte erdrückend, demonstrierte. Man kam keinen Augenblick davon los. Und seine Rede floß unaufhaltsam.

Mary kannte nur die Unterhaltungsform der internationalen Gesellschaft. Eine leichte Konversation über Wind und Wetter, über die Tagesereignisse, über Literatur und Kunst, über Zufälligkeiten auf Reisen und beim Aufenthalt, das ganze immer mit anderthalb Ellen Abstand. Er dagegen war ganz individuell und nahebei. Dabei fühlte sie, daß sie selbst auf ihn wirkte wie Wein. Er wurde immer berauschter und immer übermütiger. Das regte auf und machte unruhig. Sobald sie anstandshalber fort konnte, verschwand sie, benommen, verwirrt und eigentlich in einer wilden Flucht. Sie gab sich selbst das feierliche Versprechen, nie wiederzukommen.

Erst später am Tage ging sie zu ihrem Vater und zu Frau Dawes hinein. Sie erwähnte kein Wort von ihrer Begegnung. Das hatte sie das vorige Mal auch nicht getan. Frau Dawes sagte, sie solle sich einmal die Karte ansehen, die auf dem Tisch liege.—"Jörgen Thiis? Ist denn der hier?"—"Er ist den ganzen Winter hier gewesen. Jetzt hat er erst erfahren, daß wir angekommen sind."—"Er bat um Grüße an Dich", warf der Vater ein, der wie gewöhnlich saß und las.

Es war wirklich eine Erholung, an Jörgen Thiis zu denken. Im vorigen Winter war sie verschiedentlich mit ihm hier in Paris zusammengewesen. Bei mehreren Gelegenheiten war er ihr Kavalier, so zum Beispiel bei den offiziellen Bällen im Elysée und im Hôtel de Ville. Ein Kavalier, mit dem sie in allen Stücken Ehre einlegte. Hübsch, elegant, zuvorkommend. Der Vater erzählte, Jörgen wolle zur Diplomatie übergehen. "Dazu gehört doch wohl Kapital?" sagte Mary. "Er wird Onkel Klaus beerben", antwortete Frau Dawes. "Weißt Du das bestimmt?"—"Bestimmt nicht."—"Ist es denn wahr, daß Onkel Klaus in letzter Zeit mehrfach Verluste gehabt hat?" Frau Dawes schwieg. Der Vater antwortete: "Das kann schon sein."—"Ja, unterstützt er ihn denn?" Keiner antwortete. "Dann kann ich nicht finden, daß Jörgens Aussichten so glänzend sind", sagte sie abschließend.—

Franz Röy war im Auftrage der Regierung in Paris und war infolgedessen oft abwesend. Das war gerade jetzt der Fall, so daß Mary sich sicher fühlte. Aber als sie eines Morgens früh zu Alice kam,—sie wollten zusammen in die Stadt,—saß er da! Er sprang auf und eilte ihr entgegen. Seine Augen überschütteten sie mit Bewunderung und Freude, er nahm ihre Hand in seine beiden Hände. Etwas strahlend Glücklicheres hatte sie nie gesehen. Mary fühlte, wie sie rot wurde. Alice lachte, was die Sache noch schlimmer machte. Aber seine Redseligkeit, die heute selbst für seine Verhältnisse außergewöhnlich war, half ihnen darüber weg. Jetzt stürzte er sich in eine kolossale Fabrik hinein, von der er direkt herkam, und riß sie mit. Die halbnackten Männer mit ihren Haken an dem Strom des siedenden, rotglühenden, wallenden Eisenerzes,—die Gewalt der Maschinen und die Menschen dazwischen wie vorsichtige Ameisen in einem Wald von Riesen. Er versuchte ihnen das auch in den Einzelheiten zu erklären. Es gelang völlig; aber es dauerte lange und hielt vor, bis die beiden Freundinnen fort mußten.

Als sie im Wagen saßen, war Alice äußerst aufgeräumt. Es war nämlich ganz klar, heute hatte er einen starken Eindruck gemacht.—

Am Tage darauf verließ Mary mit einem amerikanischen Ehepaar Paris im Automobil. Sie blieb mehrere Tage fort. Aber es war ihr erstes, als sie wieder zurückkam, Alice aufzusuchen. Wahrhaftig: Franz Röy war da. Er und Alice sprangen in lebhafter Freude auf, Alice kam ihr entgegen und umarmte und küßte sie: "Du Ausreißer, Du Ausreißer!" rief sie. Daß Franz Röys Augen funkelten, ist zu wenig gesagt; sie schossen förmlich Salut. Von dem Augenblick an, da sie ihn begrüßte, stand sein Mund nicht mehr still. Er benahm sich so töricht verliebt, daß es Alice ganz angst wurde. Glücklicherweise mußte er ein Ende machen; er hatte eine Konferenz. Mary war nachher wieder ganz aufgerührt; die See wollte sich nicht legen. Alice sah es und wollte sie beruhigen mit eifrigen, ängstlichen Versuchen, ihn ihr zu erklären. Aber das verwirrte nur noch mehr; Mary ging.

Am Nachmittag, als sie zu den andern ins Zimmer trat—sie hatte ein wenig geruht, es hatte ihr notgetan—hörte sie Klavierspiel. Sie wußte sofort, daß es Jörgen Thiis war, der den beiden Alten Gesellschaft leistete. Er war wirklich ein Künstler, und er hatte eine Vorliebe für den Flügel, den sie hatten. Den wollten sie mit nach Norwegen nehmen. Sie ging gleich zu ihm hin und dankte ihm, daß er so aufmerksam gegen ihren Vater und Tante Eva sei; leider müßten die beiden so oft allein bleiben. Er antwortete, es sei ihm eine unendliche Freude, daß sie seine Musik schätzten, und das Klavier sei zu verlockend, in der Tat ersten Ranges. Die Unterhaltung bei Tisch und nachher zeigte Mary, wie die drei zusammenstimmten; sie war entbehrlich.

Sie war wirklich dankbar dafür, so daß es ein gemütlicher Abend wurde.

Es wurde viel von der Heimat gesprochen, nach der die beiden Alten Sehnsucht hatten.

Kaum war er fort, so sagte Frau Dawes: "Was ist Jörgen doch für ein gemütlicher, gebildeter Mensch, liebes Kind!"—Der Vater blickte Mary an und lächelte. "Worüber lachst Du, Vater?"—"Über nichts", er lachte noch mehr. "Du möchtest wissen, wie er bei mir angeschrieben ist?"—"Ja, wirkt er auf Dich?" Frau Dawes war ganz Ohr. "A—ach."—"Das kommt ja so gedehnt heraus?"—"N—n—nein."—"Nun also?"—"Im Grunde gefällt er mir gut."—"Doch es ist ein Aber dabei—?" Jetzt lächelte sie. "Ich mag nicht, daß seine Augen sich förmlich an mir festsaugen." Der Vater lachte: "Genau wie beim Essen, nicht?"—"Ja freilich!"—"Ein Lebemann, siehst Du, wie sein Vater."—"Aber genau wie sein Vater hat er auch viele gute Eigenschaften", warf Frau Dawes ein. "Das hat er", sagte Anders Krog ernsthaft. Mary antwortete nicht. Sie sagte Gutnacht und bot ihm die Stirn zum Kuß.–

Ein paar Tage später, ganz früh am Morgen, suchte Mary Alice in ihrem Atelier des Hinterhauses auf. Anders Krog hatte irgendwo altes chinesisches Porzellan gesehen, auf das er Lust bekommen hatte; aber Alices guter Rat war hierzu von größter Wichtigkeit. Mary war überzeugt, sie allein zu treffen, in der Regel freilich mit irgendeinem Modell.

Sie ging direkt hinein, ohne mit dem Pförtner zu sprechen. Alice öffnete ihr selbst. Sie hatte ihren Atelierkittel an, und ihre Hände waren schmutzig, sie konnte sie Mary nicht geben. "Hast Du ein Modell da?" flüsterte sie. "Ich wollte gerade anfangen," antwortete Alice leise mit einem seltsamen Lächeln, "das Modell wartet im Zimmer nebenan. Aber komm nur!" Als Mary hinter dem Vorhang hervortrat, erkannte sie den Grund, warum das Modell im Zimmer nebenan wartete; Franz Röy saß in diesem Zimmer. So früh am Morgen und tief in Gedanken. Er bemerkte nicht einmal, daß sie hereinkamen. Es war das erstemal, daß Mary ihn ernst sah. Das stand der männlichen Gestalt und seinem kraftvollen Gesicht ungleich besser als jene ausgelassene Lustigkeit. "Sehen Sie, wer da kommt!" sagte Alice. Er sprang auf.–

Die Unterhaltung heute war sehr ernst. Er war in gedrückter Stimmung.

Mary konnte unschwer erraten, daß die anderen von ihr gesprochen hatten.

Sie waren deshalb alle drei etwas befangen. Bis Alice ein Thema aus der Morgenzeitung aufgriff. Zwei Morde aus Eifersucht, von denen der eine geradezu entsetzlich war, hatten sie alle erschüttert, besonders Franz Röy. Er behauptete, die Auffassung von der Ehe stamme bei den romanischen Völkern aus einer Zeit, da die Frau Eigentum des Mannes war und Untreue folglich mit dem Tode bestraft wurde. Durch das Christentum sei freilich später der Mann auch Eigentum der Frau geworden. Hierüber entstand eine lebhafte Diskussion. Mary stimmte ihm darin bei, daß keiner der Eheleute dem ändern gehöre. Sie seien freie Individuen und könnten über sich selbst bestimmen. In der Ehe wie vor der Ehe. Nur die Liebe sei entscheidend. Höre die Liebe auf, weil der eine Teil oder auch beide durch die Entwicklung anders geworden seien, als sie bei Begründung der Ehe waren, oder treffe einer von ihnen einen Menschen, der seine Seele und seine Gedanken gefangen nehme und seinem Leben eine andere Richtung gebe, dann müsse der Verlassene resignieren. Nicht verdammen oder töten. Aber ihre Meinung und Franz Röys Ansicht gingen auseinander, als sie erwogen, was zwei Eheleute von Rechts wegen scheiden dürfe. Namentlich als sie darauf kamen, was davon zurückhalten müsse. Sie war hier viel bedenklicher als er. Er schlug scherzend vor, sie solle doch sagen: "Eheleute haben volle Freiheit, sich scheiden zu lassen; aber sie dürfen keinen Gebrauch davon machen." Sie schlug vor, er solle sagen: "Eheleute müssen in der Regel geschieden werden; haben sie keinen wirklichen Grund, müssen sie sich einen pumpen."

Sie kamen in diesem Gespräch tiefer als bis zu den Worten. Es bezauberte ihn wie eine neue Art von Schönheit an ihr, wie souverän sie war. Das gab ihrer Erscheinung einen neuen Glanz. Es war keine Herrschsucht darin. Es war nur eine Schutzwehr, aber die höchste. Ihr ganzes Wesen war darin konzentriert. Ein "Rühr' mich nicht an!" in Augen, Stimme und Haltung. Vielleicht, wenn es sein mußte, bereit zur Märtyrerglorie. Sie wurde viel größer. Aber auch hilfloser. Gerade solche Wesen stehen zu hoch und stolpern beim ersten Schritt. Dann pflegen sie furchtbar zu fallen.

Er starrte sie an und vergaß zu antworten, vergaß, wo er war. Ihm war, als rufe ihm einer zu: "Gib acht auf sie!" In seine Liebe zog mit gebieterischem Kommando die Ritterlichkeit ein.

Sie sah, wie er sich dem Gespräch fernhielt; aber das hinderte sie nicht; das Thema war ihr zu lieb. Als er wieder bei der Sache war, hörte er, wie sie ihr Innerstes enthüllte, zweifellos ohne es zu ahnen. Sie sprach aus, was sie gedacht hatte, seit sie sich so etwas hatte klar machen können. Es war ihr so natürlich, wie das Kleid zu heben, wenn es schmutzig war, oder draußen im Meer zu schwimmen, wenn der Fuß keinen festen Boden mehr fand. Die Individualität muß frei werden, muß wachsen, darf nicht gebeugt und nicht befleckt werden; das war das Erste und das Letzte.

 

Aber gleichzeitig fühlte sie sich seltsam zu dem Menschen hingezogen, der sie zu bewegen vermochte, das auszusprechen. Sie hatte es so lange nicht mehr getan. Sie wußte nicht, daß die Persönlichkeit, die unsere Gedanken erlöst, selbstverständlich Macht über uns hat. Sie fühlte nur, daß sie sprechen mußte—und sich mit sich selbst beschäftigen. Eine wundersüße Empfindung, die sie zum erstenmal hatte.

Folglich wurde das Thema ausgesponnen. In Worten, die immer weiter und weiter in sie selbst hineinschlüpften und schließlich sich in einer Stille von Blicken und Atemzügen verloren. Alice war zu ihrem Modell hineingegangen. Sie waren befangen, als sie merkten, daß sie allein waren. Sie verstummten, und ihre Blicke wichen sich aus.

Nach flüchtigem Verweilen bald auf dem einen, bald dem anderen der vielen Kunstgegenstände, richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf einen Faun ohne Arme, der sie angrinste. Sie sprachen über dieses Stück alter Kunst, nur um nicht zu schweigen. Wo der gefunden sein mochte? Aus welcher Zeit er stamme? Er sei gewiß sehr teuer gewesen. Sie sprachen in gedämpften Worten mit liebkosender Stimme, und die Augen glitten umher. Sie standen auch nicht auf ganz sicheren Füßen. Sie fühlten sich leichter, wie wenn sie sich in höheren Luftschichten befänden. Dabei die Empfindung, daß alles, was sie dachten, offen daliege, und daß sie selbst durchsichtig seien.

Jetzt kam Alice wieder. Sie blickte sie mit Augen an, die die beiden aufweckten. "Sind Sie jetzt mit der Ehe fertig?" fragte sie; denn sie hatten ja über die Ehe gesprochen, als sie hinausgegangen war.

–Mary fiel ein, sie habe etwas zu besorgen, und ihr Wagen warte. Franz Röy erinnerte sich auch seiner Obliegenheiten. So gingen sie zusammen fort, durch den Hofraum, durch das Vestibül und die Tür auf den Wagen zu. Aber sie fanden den Ton von vorhin nicht wieder, und sprachen deshalb nicht.

Den Hut in der Hand, öffnete er ihr den Schlag. Sie stieg ein, ohne aufzublicken. Als sie sich hingesetzt hatte und ihm zunicken wollte, harrten ihrer die heißesten Augen, in die sie je geblickt hatte. Voll Leidenschaft und voll Ehrerbietung.

Zwei Stunden darauf war er wieder bei Alice. Länger hatte er mit seinen himmelstürmenden Hoffnungen nicht allein sein können.

Wo er in der Zwischenzeit gewesen sei? In der Stadt, um sich einen Abguß von Donatellos Heiliger Cäcilia zu kaufen. Er müsse vergleichen. Aber Alice könne sich im voraus denken, daß Donatellos Cäcilia kläglich durchgefallen sei.

Jetzt bekam Alice ernstlich Angst: "Lieber Freund, Sie werden sich noch alles verderben. Das liegt in Ihrer Natur." Er sagte stolz: "Ich habe mir noch nie im Ernst ein Ziel gesteckt, das ich nicht erreicht hätte."—"Das glaube ich gern. Sie können arbeiten, Sie können Hindernisse überwinden, Sie können auch warten."—"Das kann ich!"—"Aber Sie können sich nicht beherrschen, Sie können nicht abwarten, daß sie zu Ihnen kommt."—"Was soll das heißen, Alice?"—Es tat ihm weh. "Es soll Sie daran erinnern, lieber Freund, daß Sie Mary nicht kennen. Sie kennen die Welt nicht, in der sie lebt. Sie sind ein Waldbär."—"Kann sein, daß ich ein Waldbär bin. Dagegen sage ich nichts. Aber wenn sie nun Freude an einem Waldbären hat? Man kann sich in solchen Dingen nicht täuschen." Er wollte sich seine festliche Stimmung nicht trüben lassen. Darum kam er bittend auf sie zu; er wollte sie sogar umarmen; er hatte es sehr mit dem Umarmen.

"Nein, seien Sie artig, Franz! Übrigens stören Sie mich schon zum zweitenmal."—"Sie sollen auch gestört werden, Sie sollen nicht die da drin in Ihrem Gefängnis modellieren. Liebe Alice, Sie mein einziger Freund, Sie sollen mir mein Glück modellieren!"—"Ja, was kann ich weiter für Sie tun, als ich getan habe?"—"Sie können mir den Zutritt zu ihrem Hause verschaffen." Alice überlegte. "Das ist nicht so leicht."—"O,—Sie werden schon etwas ausfindig machen. Sie müssen, Sie müssen es!" Er redete und bettelte und umarmte sie solange, bis sie nachgab und es ihm versprach.

Ob sie es nun falsch anstellte,—jedenfalls ging es schief. "Wenn ich meinen Vater bitte, einen jungen Herrn zu empfangen, der ihm nicht vorgestellt ist, muß er es falsch auffassen", sagte Mary. Alice gab das ohne weiteres zu. Sie war wütend auf sich selbst, daß sie daran nicht gedacht hatte. Anstatt mit Mary zu überlegen, ob sich die Sache nicht anders machen lasse, gab sie es ganz auf. Sie war noch ärgerlich, als sie Franz Röy das Ergebnis mitteilte; sie habe das Gefühl, sagte sie, Mary wünsche keinen Vermittler. Sie schärfte ihm wieder ein, vorsichtig zu sein.

Franz Röy war ganz unglücklich. Alice versuchte auch nicht, ihn zu trösten.

Tags darauf kam er wieder. "Ich kann's nicht aufgeben", sagte er. "Ich kann auch an nichts anderes denken."

Solange saß er und so oft wiederholte er dieselbe Litanei in allen Tonarten, und so unglücklich war er, daß er der gutmütigen Alice leid tat. "Hören Sie," sagte sie, "ich werde Sie zusammen einladen. Dann kommt vielleicht die Einladung zu Krogs von selbst."—Er sprang auf. "Das ist eine herrliche Idee. Tun Sie das, Liebste!"—"Ich kann es nicht gleich tun. Anders Krog ist unwohl. Wir müssen warten." Er starrte sie enttäuscht an. "Aber können Sie uns beide nicht mal wieder zusammenbringen?"—"Ja, das kann ich."—"So tun Sie es,—sobald wie möglich! Sie Liebste, Beste, sobald wie möglich!"

Das gelang. Mary war gleich zu einem Wiedersehen bereit.

Sie trafen sich bei Alice, um zusammen in die Ausstellung in den Champs-Elysées zu fahren.

Zusammen vor Kunstwerken zu stehen, ist wie ein Gespräch ohne Worte. Die wenigen Worte; die gesprochen werden, rufen hundert andere wach. Aber die werden nicht ausgesprochen. Der eine fühlt durch den andern, oder glaubt es zu tun. Sie begegnen sich in einem Bilde, um in einem anderen wieder getrennt zu werden. Dabei lernen sie sich in einer Stunde besser kennen als sonst in Wochen. Alice führte sie von Bild zu Bild; aber sie selbst war mit sich beschäftigt,—je länger, je vollständiger. Sie sah alles mit Künstleraugen an. Die beiden andern, die mit den Bildern anfingen, gingen immer mehr dazu über, durch die Bilder einander zu erforschen. Es wurde ein Flüsterspiel mit schnellen Blicken, knappen Worten und leicht andeutenden Fingern. Die aber, die sich auf heimlichen Wegen zueinander hintasten, haben zugleich eine unermeßliche Freude daran. Und lassen diese Freude auch wohl ahnen. Ein Spiel wie bei Vögeln, die unter dem Wasser schwimmen und weit hinten emportauchen,—um dann wieder zueinander hinzustreben. Das Glück der Stunde wurde erhöht durch die vielen Augen, die auf ihnen ruhten.

Unten bei den Skulpturen führte Alice sie ganz nach vorn in den Mittelbau. Sie blieb vor einem leeren Sockel stehen und wandte sich an den Aufseher. "Ist der Athlet noch nicht in Ordnung?"—"Nein, gnädiges Fräulein, leider nicht", antwortete er. "Dann ist es wohl noch einmal schief gegangen?"—"Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein." Alice erklärte Mary, die Statue eines Athleten sei bei der Aufstellung zerbrochen. "Ein Athlet?" fragte Franz Röy, der etwas abseits stand und jetzt eilig herzukam. Die beiden andern lächelten. "Ein Athlet? Sprachen Sie nicht von einem Athleten?"—"Ja", sagten sie und lachten. "Ist dabei etwas zu lachen?" fragte er. "Ich habe einen Vetter, der ist Athlet." Nun lachten die beiden Damen erst recht. Franz Röy war höchlichst erstaunt. "Ich kann Ihnen versichern, er ist der prächtigste Mensch, den ich kenne. Und so erstaunlich tüchtig. Das liegt in unserer Familie. Als Knabe war ich zwei Sommer bei ihm im Zirkus." Die andern lachten. "Worüber zum Teufel lachen Sie? Ich habe in meinem Leben keine herrlicheren Tage erlebt als im Zirkus." Die beiden Damen eilten unter Lachen in wilder Flucht dem Ausgang zu. Er mußte ihnen folgen; aber er war beleidigt. "Ich begreife nicht, worüber Sie lachen", sagte er, als sie alle im Wagen saßen, lachte aber mit.