Klausurenkurs im Bürgerlichen Recht II

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3. Vertretenmüssen

120

C müsste vorsätzlich oder fahrlässig ihre Pflicht verletzt haben, § 276 I, II BGB. Daran könnte man allenfalls deshalb zweifeln, weil C sich möglicherweise aufgrund der Aussage des Jurastudenten K, sie habe alle Bedingungen für den freien Eintritt erfüllt, für nicht mehr verpflichtet gehalten haben könnte. Dies reicht allerdings schwerlich für die Annahme eines das Verschulden ausschließenden Rechtsirrtums.[43] Von Vertretenmüssen ist daher auszugehen. Das gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass C ihr Nichtvertretenmüssen zu beweisen hat (§ 280 I 2 BGB).

4. Kausaler Schaden

121

D müsste durch die Pflichtverletzung der C ein nachweisbarer Schaden entstanden sein. Sofern der Weg über die Ersetzungsbefugnis beschritten wird, besteht ein Schaden in Höhe des Eintrittsgelds. Allerdings konnte D diesen Betrag auch bereits im Rahmen des Erfüllungsbegehrens verlangen.

Probleme bereitet die Schadensfeststellung dann, wenn die Pflichtverletzung der C im „Nichtausziehen“ gesehen wird. Im Rahmen der Schadensermittlung nach der Differenzhypothese (§ 249 I BGB) ist zu fragen, wie D stünde, wenn sich C pflichtgemäß verhalten, d. h. sich ausgezogen hätte. Möglicherweise hätten dann mehr Besucher eine Eintrittskarte gekauft, und/oder der Getränkekonsum wäre höher ausgefallen.

Entgangener Gewinn ist gemäß § 252 BGB zu ersetzen. Seine Höhe muss gegebenenfalls nach § 287 ZPO in freier Schadensschätzung ermittelt werden. D dürfte es jedoch kaum gelingen, das Entgehen eines Gewinns in Form einer geringeren Besucherzahl zu beweisen, der mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann (§ 252 S. 2 BGB). Das Geschehen innerhalb der Diskothek ist für davor Wartende in der Regel nämlich nicht erkennbar. Unter Umständen hat das Verhalten der C (Wiederanziehen direkt nach der Kasse) wegen der Neugier auf den Fortgang der Auseinandersetzung sogar mehr Besucher angelockt. Auch einen eventuell niedrigeren Getränkeumsatz kann D nicht beweisen.

Ein Schadensersatzanspruch gegen C ist daher kaum zu begründen, sofern der Lösungsweg über eine Bikinitragepflicht gewählt wird. Vor allem geht es nicht an, als Schadensersatz die von C nicht gezahlten € 15 für eine Eintrittskarte zuzusprechen. Sofern es sich bei diesem Posten überhaupt um einen Schaden handelt, fehlt es jedenfalls an der Kausalität zwischen Pflichtverletzung und Schaden. Hätte C sich nämlich pflichtgemäß verhalten und weiterhin im Bikini an der Party teilgenommen, hätte sie ebenso wenig Eintrittsgeld entrichtet.

III. Rücktrittsmöglichkeit der D

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Hinweis für die Fallbearbeitung:

Zu prüfen ist lediglich, ob D zurücktreten kann. Bislang ist der Rücktritt noch nicht erklärt worden. Ausführungen zu den Rechtsfolgen, die sich aus einem eventuellen Rücktritt ergeben, sind entbehrlich. Wollte man eine Anspruchsgrundlage nennen, wäre § 346 II Nr. 1 BGB naheliegend. Jedoch hielt C sich nur sehr kurz in den Räumen der Diskothek auf und kam noch nicht in den Genuss der Party. Ein Wertersatzanspruch kommt daher im Ergebnis kaum in Betracht. Zudem ist darauf zu achten, dass Wertungswidersprüche zu § 323 V BGB (dazu unten), vermieden werden. In Betracht kommt dagegen ein Anspruch der D gegen C auf Verlassen der Räumlichkeiten. Der Rücktritt befreit nämlich beide Parteien von der Leistungspflicht. Auch insofern ist § 346 BGB nicht unproblematisch als die einschlägige Anspruchsgrundlage anzusehen. Ihrem Wortlaut nach greift die Vorschrift nur bzgl. bereits empfangener Leistungen ein. Gleichwohl liegt es nahe, das Rückgewährschuldverhältnis als anspruchsbegründend zu betrachten.

1. Nicht vertragsgemäße Erbringung einer Leistung

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Der Rücktritt setzt nach § 323 I BGB voraus, dass der Schuldner eine Pflicht aus einem gegenseitigen Vertrag durch Nicht- oder Schlechterfüllung verletzt hat. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen zu § 280 I BGB verwiesen werden. Die Entbehrlichkeit der Pflichtverletzung wegen ernsthafter und endgültiger Erfüllungsverweigerung ist im Rücktrittsrecht in § 323 II Nr. 1 BGB vorgesehen.

2. Rücktritt vom ganzen Vertrag

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Es stellt sich die Frage, ob D vom Vertrag insgesamt zurücktreten kann. Gemäß § 323 V 1 BGB kann der Gläubiger, sofern der Schuldner eine Teilleistung erbracht hat, vom ganzen Vertrag nur zurücktreten, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat.

Indem C an der Kasse einen Bikini trug, hat sie einen Teil ihrer Pflicht erfüllt. Das gilt zumindest, sofern man entscheidend auf die Bikinitragepflicht abstellt. Es liegt also nahe, vom Vorliegen einer Teilleistung auszugehen. Dann kann nur schwer begründet werden, warum D an der Teilleistung kein Interesse haben sollte. C hat durch ihr Auftreten potentiell unentschlossene Besucher angelockt. Allenfalls könnte man das Interesse der D deshalb in Abrede stellen, weil sich andere Damen durch C animiert fühlen könnten, auf verhältnismäßig einfache Weise das Eintrittsgeld zu ersparen. Nach dem Wortlaut des § 323 V 1 BGB wäre der Rücktritt vom ganzen Vertrag ausgeschlossen. Es käme nur ein Rücktritt hinsichtlich des noch ausstehenden Leistungsteils in Frage.

Allerdings ist nicht ersichtlich, wie ein solcher Teilrücktritt im vorliegenden Fall zu bewerkstelligen wäre. Der Gläubiger hätte für die bewirkte Teilleistung einen entsprechenden Teil der Gegenleistung zu erbringen.[44] Wie lange sollte C noch an der Party teilnehmen dürfen als Gegenleistung für das Tragen eines Bikinis an der Kasse? Es liegt wegen dieser Schwierigkeiten nahe, die Gegenleistung (Partyteilnahme) als unteilbar einzustufen. Dann aber erstreckt sich der Rücktritt unabhängig vom Interesse der D doch auf den ganzen Vertrag.[45]

Anmerkungen

[1]

Vgl. Palandt-Ellenberger, § 172 Rdnr. 6.

[2]

Palandt-Ellenberger, § 172 Rdnr. 8.

[3]

Z. B. Palandt-Ellenberger, § 172 Rdnr. 8; Flume, Allgemeiner Teil des BGB Bd. 2, S. 828; ausführlich Staudinger-Schilken, Neubearbeitung 2019, § 167 Rdnr. 29a.

[4]

Vgl. dazu etwa Staudinger-Schilken, Neubearbeitung 2019, § 167, Rdnr. 29–29b; MüKo-Schubert, § 167 Rdnr. 107; ausführlich zur Dogmatik der Duldungsvollmacht Merkt, Die dogmatische Zuordnung der Duldungsvollmacht zwischen Rechtsgeschäft und Rechtsscheintatbestand, AcP 204, 638–659.

[5]

Palandt-Ellenberger, § 172 Rdnr. 11.

[6]

Vgl. dazu etwa Staudinger-Schilken, Neubearbeitung 2019, § 167 Rdnr. 31a ff.; MüKo-Schubert, § 167 Rdnr. 95 ff.

[7]

Vgl. auch weitere Fälle zu Rechtsscheinsvollmachten in Bitter/Röder, BGB Allgemeiner Teil, § 21 Fall Nr. 61 f.

[8]

Palandt-Ellenberger, § 172 Rdnr. 12. Bei der Duldungsvollmacht ist dieses Erfordernis umstritten, vgl. MüKo-Schubert, § 167, Rdnr. 106; Staudinger-Schilken, Neubearbeitung 2019, § 167 Rdnr. 30; BGH NJW 2003, 2091, 2092; OLG Frankfurt WM 2006, 2207.

[9]

Vgl. Palandt-Ellenberger, § 172 Rdnr. 15; BGH NJW 1991, 1225, 1226.

[10]

Vgl. etwa BGH NJW-RR 1987, 308, 308; BGH NJW 1998, 3342, 3343; zustimmend Palandt-Ellenberger, § 172 Rdnr. 11.

[11]

Flume, Allgemeiner Teil des BGB Bd. 2, S. 832 ff.; Medicus/Petersen, Rdnr. 100 f.; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, § 50 Rdnr. 98.

[12]

So auch Staudinger-Schilken, Neubearbeitung 2014, § 167, Rdnr. 31.

[13]

 

Palandt-Grüneberg, § 278 Rdnr. 7.

[14]

Vgl. BGH NJW 1998, 1854, 1856.

[15]

MüKo-Grundmann, § 278 Rdnr. 47 f.

[16]

Palandt-Grüneberg, § 278 Rdnr. 1.

[17]

Palandt-Grüneberg, § 278 Rdnr. 27.

[18]

Palandt-Sprau, § 823 Rdnr. 58.

[19]

Vgl. etwa BayObLG München BayObLGSt 1993, 97, 98; Schönke/Schröder-Sternberg-Lieben, StGB, § 132a Rdnr. 3.

[20]

Fischer, StGB, § 132a Rdnr. 2.

[21]

BGHSt 31, 61, 62.

[22]

Palandt-Sprau, § 831 Rdnr. 5.

[23]

Palandt-Sprau, § 831 Rdnr. 9.

[24]

BGH NJW 1983, 1308, 1309; MüKo-Schubert, § 179 Rdnr. 25.

[25]

Statt vieler: MüKo-Schubert, § 179 Rdnr. 25, § 167 Rdnr. 138, 140.

[26]

Z. B. Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, § 50 Rdnr. 112; MüKo-Schubert, § 167 Rdnr. 142; Staudinger-Schilken, Neubearbeitung 2019, § 167 Rdnr. 44.

[27]

MüKo-Schubert, § 167 Rdnr. 143.

[28]

Staudinger-Schilken, Neubearbeitung 2019, § 179, Rdnr. 20 m. w. N.

[29]

Palandt-Grüneberg, § 311 Rdnr. 60; MüKo-Emmerich, § 311 Rdnr. 189. Dies gilt zumindest dann, wenn § 179 BGB bejaht wird. Ist eine Haftung jedoch gem. § 179 III BGB ausgeschlossen, darf dies nicht durch Anwendung der cic unterlaufen werden, vgl. Erman-Maier-Reimer, § 179 Rdnr. 18 f.

[30]

Palandt-Grüneberg, § 311 Rdnr. 60.

[31]

Palandt-Grüneberg, § 311 Rdnr. 63.

[32]

Vgl. etwa Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, Rdnr. 886; ausführlich zur Abgrenzung von Botenschaft und Stellvertretung Staudinger-Schilken, Neubearbeitung 2019, Vorb zu §§ 164 ff., Rdnr. 73–81.

[33]

Vgl. Palandt-Sprau, Einf v § 631 Rdnr. 29: Werkvertrag mit mietrechtlichem Einschlag hinsichtlich des Zuschauerplatzes.

[34]

Palandt-Sprau, § 632 Rdnr. 2.

[35]

Palandt-Sprau, § 632 Rdnr. 4.

[36]

Vgl. allgemein zum Persönlichkeitsrecht Palandt-Sprau, § 823 Rdnr. 83 ff.; Buck-Heeb, Besonderes Schuldrecht 2, Rdnr. 121–134.

[37]

Palandt-Ellenberger, Überbl v § 104 Rdnr. 1.

[38]

MüKo-Krüger, § 262 Rdnr. 8; vgl. auch Staudinger-Bittner/Kolbe, Neubearbeitung 2019, § 262 Rdnr. 11.

[39]

MüKo-Krüger, § 262 Rdnr. 8.

[40]

Palandt-Grüneberg, § 281 Rdnr. 10.

[41]

Palandt-Grüneberg, § 281 Rdnr. 14.

[42]

Palandt-Ellenberger, Einf v § 104 Rdnr. 6.

[43]

Vgl. zu den Voraussetzungen eines solchen Rechtsirrtums: Palandt-Grüneberg, § 276 Rdnr. 22.

[44]

Palandt-Grüneberg, § 323 Rdnr. 25.

[45]

Palandt-Grüneberg, § 323 Rdnr. 25.

Fall 5 Speisekarte

Fall 5 Speisekarte

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Gliederung

Lösungswege

125

Der Jura-Student Karsten (K) und seine neue Freundin Franziska (F) möchten einen Abend im Restaurant Toskana verbringen, das für seine erlesene Küche stadtbekannt ist. Sie wählen einen entlegenen Tisch im hinteren Teil des Gastraums, um möglichst ungestört zu sein. Ihr erster Blick in die Speise- und Weinkarte fällt auf die Seite „Unsere besten Menüs für Zwei“. Insgeheim ist K erleichtert und überrascht, dass die Preise für diese Menüs für seinen Kontostand, um den es keineswegs zum Besten bestellt ist, erschwinglich sind. Zu R, dem Inhaber des Restaurants, der die Bestellung aufnimmt, sagt K: „Bitte das viergängige Herbstmenü für Zwei, mit der Gänseleber, den Trüffeln, dem Rehrücken und den Steinpilzen. Die Dame ist natürlich mein Gast!“. R antwortet, sich leicht verbeugend: „Kompliment! Der Herr hat einen erlesenen Geschmack.“

Vor dem Eintreffen von K und F saß ein anderer Gast (G) an jenem Tisch, der sich über die seines Erachtens allzu hohen Preise geärgert hatte. Um dem Inhaber einen Denkzettel zu verpassen, änderte er durch Radierungen und Überschreibungen diskret und sehr geschickt die Preise auf der Seite „Unsere besten Menüs für Zwei“. Beim „Herbstmenü für Zwei“ entfernte er eine „1“, was ohne Lupe kaum erkennbar ist.

Stunden später wollen F und K hoch zufrieden aufbrechen. Als K bezahlen möchte, stellt er entsetzt fest, dass sich seine Rechnung auf 159 € beläuft, obwohl die Speisekarte, die an seinem Tisch ausliegt, nur 59 € ausweist. Gegenüber R macht er geltend: „Ein derart teures Menü hätte ich in gar keinem Fall bestellt, ich bin doch nicht verrückt, meine schöne Freundin in allen Ehren!“.

R betrachtet erstaunt die Speisekarte und entgegnet, dass hier offensichtlich ein Fehler vorliege. Den Tatsachen entsprechend fügt er an, dass ein solch hochklassiges Zwei-Personen-Menü für 59 € nirgendwo zu haben sei. Schon seine Selbstkosten für die Zutaten und die Zubereitung beliefen sich alles in allem auf mindestens 70 €; in anderen Restaurants koste ein derartiges Menü für zwei Personen üblicherweise 130 €. Für den unerklärlichen Fehler in der Karte bitte er sehr um Entschuldigung, müsse aber auf den korrekten Preis bestehen. Als Geste seines Bedauerns lade er zu Espresso und Grappa auf Kosten des Hauses ein. K entgegnet, dass Schnäppchenpreise und Lockvogel-Angebote heutzutage in allen Branchen weit verbreitet seien.

Diese Auseinandersetzung ist F sehr peinlich. Als K dies bemerkt, zahlt er missmutig den vollen Rechnungsbetrag, wobei er gegenüber R hinzufügt: „Aber nur unter Protest! Wir sehen uns wieder!“. Danach verlassen K und F das Restaurant. Am folgenden Tag entdeckt R die Manipulation der Speisekarte und stellt Strafanzeige gegen Unbekannt. Die Polizei kann die Personalien des G nicht ermitteln.

Aufgabe: Prüfen Sie in einem Rechtsgutachten, ob K von ihm gezahltes Geld von R zurückverlangen kann.

Bearbeitungshinweis:

Gehen Sie davon aus, dass sich K im Falle einer korrekten Auszeichnung des Herbstmenüs in der Speisekarte tatsächlich für andere Speisen entschieden hätte. Er hätte für sich und seine Freundin je eine gegrillte Dorade sowie den Dessertteller bestellt. Diese Speisen liegen im mittleren Preissegment des Angebots von R und hätten insgesamt 80 € gekostet.

Fall 5 Speisekarte › Überblick

Überblick

126

Im sachlichen Kern handelt es sich bei diesem Fall um einen absoluten Klassiker des deutschen Zivilrechts.

Sein geistiger Vater ist Rudolph von Jhering (1818-1892), einer der kreativsten und einflussreichsten deutschen Zivilrechtslehrer des 19. Jahrhunderts. Sein wichtigster Beitrag zur Dogmatik des Zivilrechts sollte auch allen Examenskandidat(inn)en bekannt sein: Die Culpa in Contrahendo[1], seit der Schuldrechtsreform kodifiziert in § 311 Abs. 2 BGB n. F.

Jhering ist auch einer der Wegbereiter der Übungen im Zivilrecht. Seine Sammlung von Fällen für den akademischen Unterricht wurde immer wieder aufgelegt und hat 14 Auflagen erreicht. Seit der 2. Auflage (1870) war darin auch der Speisekartenfall enthalten, der wahrscheinlich auf einen realen Fall zurückgeht. Diesen Fall haben zunächst Jhering selbst und dann viele Verfasser von Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil des BGB – unter anderem Karl Larenz, Werner Flume und Dieter Medicus – mehrfach abgewandelt und die jeweils vorzugswürdigen Lösungen kontrovers diskutiert.[2] Die Kenntnis der Problemstellung – nicht aber der vielen umstrittenen Einzelheiten – gehört seitdem zum angestammten Examenswissen.

Jhering hatte seinen Fällen keine eigenen Lösungen beigegeben. Seine Sammlung trug den bemerkenswerten Titel „Zivilrechtsfälle ohne Entscheidungen“. Sein didaktisches Ziel lag nicht darin, die Studenten mit mitgelieferten Lösungen zu versorgen. Er wollte zu eigenständigem Denken und Argumentieren anregen. Deshalb stellte er mehr als hundert Fälle aus allen Bereichen des Zivilrechts bereit, über deren vorzugswürdige Lösung man in Übungen und Vorlesungen intensiv diskutieren konnte.[3] Aus diesem Grund sind seine Fälle von zeitlosem didaktischem Wert. Juristische Spezialprobleme können leicht veralten. Die allgemeinen Problemstellung seiner Fälle sind weitgehend alterungsbeständig.

Die Ausgestaltung des Falles in diesem Examenskurs war Gegenstand einer Finalverhandlung des ELSA-Deutschland Moot Courts am Bundesgerichtshof in Karlsruhe und ist in Übungen und Examensklausurenkursen erprobt. Dogmatischer Ausgangspunkt ist die Prüfung eines Bereicherungsanspruchs aus Leistungskondiktion. K hat den höheren Preis für das Herbstmenü in Höhe von 159 € nur unter erklärtem Protest gezahlt. Jetzt fordert er seine Leistung zurück. Beim Tatbestandsmerkmal „rechtlicher Grund“ im Sinne von § 812 BGB ist zu entscheiden, ob zwischen R und K ein Bewirtungsvertrag zustande gekommen ist und ggf. zu welchem Preis. Dazu sind die beiderseitigen Willenserklärungen mit voller Sorgfalt einzeln auszulegen, um festzustellen, welchen Inhalt sie hatten und ob sie zur Deckung gelangen konnten. Entscheidend ist der objektive Empfängerhorizont des jeweiligen Adressaten (K / R).

Nach der hier favorisierten Lösung stellt sich die Rechtslage im Kern so dar: Für den Gastwirt R war nicht erkennbar, dass dem Gast K eine manipulierte Karte mit falscher Preisauszeichnung vorlag. Deshalb durfte er die Willenserklärung des Gasts so verstehen, dass dieser zu einem Preis von 159 € bestellen wollte. Ebenso musste K aus der Sicht eines objektiven Betrachters die Annahmeerklärung des R redlicherweise in eben diesem Sinne verstehen. Über den Preis in Höhe von 59 € war er nämlich selbst erstaunt. Das gab ihm Veranlassung, an der Richtigkeit dieser extrem niedrigen Preisangabe zu zweifeln.

 

Wenn man K in diesem Sinne an einem Vertrag zum höheren Preis festhält, so kann er sich im Wege der Irrtumsanfechtung von seiner Erklärung lösen, muss aber Schadensersatz aus § 122 Abs. 1 BGB leisten, also das negative Interesse des Gastwirts ersetzen.

Die Lösungshinweise skizzieren auch alternative Lösungswege: Bejahung eines wirksamen Vertragsschlusses in Höhe von 59 € / Bejahung eines Totaldissenses mit der Rechtsfolge der Unwirksamkeit des Vertrags / Anspruch des Gastwirts auf Zahlung der üblichen Vergütung.

Schwierige Anschlussfragen stellen sich bei der Höhe des Bereicherungsanspruchs. Hier ist die Saldotheorie in Betracht zu ziehen. Gute Kandidat(inn)en können sich in diesem Teil der Fallbearbeitung nochmals auszeichnen. Die Bandbreite der vertretbaren Lösung ist groß. Entscheidend für die Bewertung ist – ganz im Sinne Jherings – die Überzeugungskraft der Ausführungen, nicht ein bestimmtes Ergebnis, das man zwingend erwarten dürfte. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass Jhering seinen berühmt gewordenen Fall nicht darauf angelegt hatte, zu einem einigermaßen zwingenden, nahezu eindeutigen Ergebnis zu gelangen, sondern viel Raum für kontroverse Diskussion eröffnen wollte.


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Anmerkungen

[1]

Die Jheringliteratur ist riesengroß; zuletzt z. B. Benedict, Culpa in Contrahendo; Christoph-Eric Mecke, Begriff des Rechts und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering.

[2]

Zur Geschichte der Fallsammlung und des Speisekartenfalls Rempel, Jherings Juristisches Kabinett, S. 1–96.

[3]

Zu Jherings Lehrkonzepten Rempel, Jherings Juristisches Kabinett, S. 171–242.

Fall 5 Speisekarte › Gliederung

Gliederung

127


I. Anspruch auf Rückzahlung von 100 € aus § 812 I 1 1. Alt. BGB
1. Etwas erlangt
2. Leistung
3. Ohne rechtlichen Grund
a) Abgabe der Willenserklärungen
b) Inhalt der Willenserklärungen
aa) Normative Auslegung des Angebots des K
bb) Normative Auslegung der Annahme des R
c) Anfechtungsrecht des K
4. Saldotheorie
5. Ausschluss des Anspruchs nach § 814 BGB
II. Anspruch des R gegen K auf Schadensersatz aus § 122 BGB

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