Uppers End

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„Totenstill? Fridolin?! Was hast du gemacht?!“ Erhard starrte Fridolin durchdringend an. „Die beiden wären beinahe gestorben – oder waren sie sogar tot?“

„Nun reg dich mal nicht so auf, Erhard. Ist doch alles gut gegangen.“ Upper versuchte Erhard zu beruhigen. „Fridolin hatte alles unter Kontrolle. Und es gab da ja auch noch die Extraration Quod, womit die beiden wieder ins Leben kamen.

„Geht´s noch Upper?! Was hat sich Fridolin dabei gedacht?“

„Um ehrlich zu sein, war das auf meinem Mist gewachsen“, gab Upper zu. „Ich wollte Lindas Archetyp testen. Ich musste wissen, ob der Aspekt des Kraftstrotzenden für Lindas Auftrag ausreichen würde. Deshalb schickte ich sie an die Grenze ihrer Kraft. Wie sich zeigte, war das auch gut so, denn nur so konnte ich mit ausreichend Quod für ihre Sicherheit sorgen. Ich wies Fridolin an, jederzeit genug davon bereitzuhalten, wenn Linda es benötigen würde.“

„Und warum musste meine Hannah darunter leiden? Kannst du dir vorstellen, wie das für mich war? Meine Liebe, mein Leben wolltest du mir nehmen, du Schuft. Ich hätte alleine dagestanden mit meinen zwei Kindern. Du bist ja wohl nicht ganz dicht!“

„Na, na, jetzt übertreibst du aber. Zügele dich, Erhard! Wie sprichst du mit mir?! Ich bin Upper, das Überwesen des Lebens. Vergiss das nicht, mein Lieber!“ Es donnerte wieder und polterte, als würde ein ganzes Bergmassiv einstürzen.

„Oh großer Upper, bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht beleidigen.

Die Angst um meine Hannah stieg wieder in mir hoch und ängstigte mich so

sehr wie damals.“ Demütig verneigte sich Erhard vor Upper. Er wusste aus seiner Glaubenserziehung, dass man Upper gegenüber respektvoll und ängstlich sein sollte.

„Ich werde noch einmal darüber hinwegsehen Erhard. Deine große Liebe und Sorge um Hannah ehrt dich sehr. Ich will also mal nicht so sein und von einer Buße absehen. Aber das mir das nicht wieder vorkommt – hörst du?“ Upper sprach eindringlich und streng mit Erhard.

„Upper, ich verspreche es dir. Es wird nicht wieder vorkommen.“

„Upper weiß schon was er macht“, merkte Tomasin an. „Der Test war wirklich wichtig. Er wollte kein weiteres Risiko eingehen.“

„Kein weiteres Risiko? Was soll das denn heißen, Tomasin? Gab es so was denn schon einmal?“

„Ähem, ja“, gab Tomasin verlegen zu. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er gerade im Begriff war, etwas auszuplaudern, was er unter keinen Umständen sagen sollte. Upper schaute missbilligend zu Tomasin hinüber. Schnell versuchte er die Situation zu retten: „Ja, es ist aber schon sehr, sehr lange her. Das hat nichts mit Linda zu tun. Da braucht ihr euch gar nicht weiter drum zu kümmern – das ist lange vorbei.“ Um weiter vom Thema abzulenken ging Tomasin auf Erhards Frage ein: „Du willst wissen, warum deine Hannah darunter leiden musste? Das kann ich dir sagen Erhard: Ohne ihr Dazutun wäre Linda erst gar nicht in diesen Test gelangt. Hannah musste zwangsläufig mitmachen. Außerdem interessierte mich, wie Lindas Archetyp und Hannahs Schatten miteinander agieren würden. Als Mutter und Tochter sollten sie auf der Erde für viele Jahre eng miteinander verbunden sein.“

Hannah wurde neugierig. „Welchen Schatten, beziehungsweise Archetyp hatte ich denn damals?“

„Ich verrate es dir“, sagte Linda. „Ich denke, du hast ein Recht darauf es zu erfahren. Upper und Tomasin haben mir das Wissen darüber übermittelt, sodass ich es preisgeben darf. “ Linda begann über Hannahs Archetyp zu sprechen. Sie wollte ihre Mutter schonen. Zu ihr spürte sie immer noch eine liebevolle Verbindung. „Die Aspekte deines Archetyps waren: Die Unschuldige, die Heilsbringerin und die Großherzige. Mit der Unschuldigen waren Naivität und Schönheit in dir.“

„Naivität?! Haltet ihr mich für dumm?!“

„Nein Hannah, natürlich nicht. Naivität kannst du nicht mit Dummheit gleichsetzen – zumindest nicht im Archetyp. Naivität bedeutet vielmehr Unwissenheit im besten Sinne. Es ist eine Unwissenheit, die sich in Unschuld widerspiegelt, verstehst du?“

„Das soll ich dir glauben Linda?“

„Ja, das kannst du ruhig. Schau mal zu Upper und Tomasin rüber. Die nicken beide zustimmend.“

„Na gut Linda, aber trotzdem behagt mir der Begriff `Naivität` überhaupt nicht. Ich muss es wohl akzeptieren. Linda erzähl mir bitte was über die anderen beiden Archetypen, die du genannt hattest.“

„Da ist noch die Heilsbringerin als weiterer Archetyp zu nennen. Die Heilsbringerin ist in ihrer Mitte und im Frieden. Sie vermittelt Wert und Selbstwert. Sie birgt die Erfahrung von Einheit und Eins-Sein in sich.“

„Aha. Damit kann ich zwar nicht viel anfangen, aber es hört sich gut an. Mach bitte weiter.“

„Und dann ist da noch die Großherzige. Sie ist großzügig, freundlich und gütig.“

„Ja, das kann ich so für mich annehmen, Linda. Wie steht´s nun mit meinen Schatten?“

„Zu denen komme ich jetzt Hannah. Da waren die Aspekte der Vernichterin, des Schergen und der Dirne mit dir auf der Erde. Die Vernichterin ist rücksichtslos und destruktiv. Sie verwüstet und vernichtet jeden und alles, was sich ihr in den Weg stellt. Sie ist der große Spaßverderber im Leben. Das kann ich nur bestätigen“, sagte Linda verbittert. „Wenn ich einmal Spaß hatte, hast du ihn mir immer gründlich verdorben. Kam ich spät in der Nacht von einer Party nach Hause, standst du regelmäßig wie ein Racheengel oben auf der Treppe zu meinem Zimmer und straftest mich mit vorwurfvollen Blicken. Dann machtest du mir noch ein schlechtes Gewissen indem du mich fragtest: `Weißt du eigentlich wie spät es ist`? Verkauft hast du mir das immer als Sorge um mich. Pah, wer´s glaubt! Egal, es ist vorbei! Ich mach besser weiter, bevor ich meiner Wut wieder nachgebe. Der Scherge verursacht bei anderen Angst und Schrecken. Er tut das um zu dominieren und zu bestrafen. Er versteckt damit seine eigene Angst oder seine Minderwertigkeitsgefühle. Der Scherge quält andere auf physische, emotionale oder mentale Weise. Das bereitet ihm großen Spaß. Auch das kann ich leider bestätigen. Wenn ich es nicht genau wüsste, würde ich behaupten, die Stasi hatte ihre Überwachungs- und Reglementierungsmethoden von Hannah abgeguckt. Lassen wir das, sonst…! Zum guten Schluss ist da noch die Dirne. Im Aspekt der Dirne verbirgt sich der Verlust sexueller Integrität. Sie verkauft sich für Geld, um ihre materielle Gier zu befriedigen.“

„Da hört sich doch wohl alles auf! Du nennst mich eine Nutte?“

„Nee, das tu ich nicht! Da gibt es einen feinen Unterschied. Es gibt natürlich die Dirne. Sie macht ihren, wie ich persönlich meine, wichtigen Job und bekommt selbstverständlich gutes Geld für ihre Dienste. Es gibt aber auch, und hier liegt der Unterschied Hannah, den Aspekt der Dirne im Schatten eines Seins. Genau diesen Aspekt hat Tomasin dir gegeben. Versteh mich nicht falsch Hannah, niemand hat dich auf der Erde als Nutte angesehen. Ganz im Gegenteil sogar. Du warst immer eine integre, geschätzte Frau.“

„Das will ich wohl meinen!“

Heinrich war anderer Meinung. „Da habt ihr euch aber die perfekte Paarung ausgedacht. Respekt Upper, Respekt Tomasin“, applaudierte Heinrich hämisch. „Die Dirne kam mir gut zu Pass. Ich wusste, sie brauchte Geld für ihre Familie. Mein Sohn Erhard, diese Nulpe hat ja nichts auf die Reihe gekriegt. Das Geld, das er verdiente, langte hinten und vorne nicht, um die Mäuler zu Hause zu stopfen. Ich jedenfalls hatte ein gutes Sümmchen in Petto. Warum also sollte Hannah sich nicht was nebenbei verdienen? Sie hatte alle Voraussetzungen von hier mitgebracht. Das hat Linda gerade selber gesagt. Was lag da näher, als bei mir das nötige Geld zu verdienen? Es blieb ja in der Familie. Was daran sollte also verwerflich sein?“

„Du dreckiger Schmutzbuckel!“, platzte es aus Linda heraus. Nicht nur mich, sondern auch Hannah?! Du fieses Miststück! Du Kretin!“ Linda kam wieder in Rage.

„Linda, zügle dich!“, mahnte Upper.

„Nun gut“, sagte Linda „ich gebe zu, es war tatsächlich eine passende Kombination zwischen Hannah und mir. Der Kraftstrotzende stand dem Zerstörer gegenüber, also konstruktive Kraft gegen destruktive Kraft. Die gute Fee dem Schergen, also Wohlwollen und Güte gegen Dominanz und Strafe und die hilfreiche Gönnerin der Dirne, also ausgewogenes Geben und Nehmen gegen Befriedigung der Gier. Somit sah ich mich mit meinem negativen Gegenpol konfrontiert. Ich nahm den Kampf auf – und gewann ihn dank Fridolins Hilfe. Ich denke, ohne seine Gabe an Quod wäre mir das nicht gelungen. Danke mein Freund.“

Auch Hannah und Erhard bedankten sich artig bei Fridolin. Sie sahen jetzt ein, dass Linda es ohne seine Hilfe nicht überlebt hätte.

„Wieso hast du dich überhaupt darauf eingelassen, mein Freund?“, fragte Linda Fridolin mit fragenden großen Augen. Sie konnte immer noch nicht glauben, was Upper und Tomasin mit ihr und Hannah gemacht hatten. Besonders irritierte Linda der Umstand, dass ihr Vertrauter, ihr Begleiter Fridolin mit von der Partie war.

„Zum einen, weil Upper mich beauftragt hatte“, antwortete er. Und zum anderen, weil ich da noch eine Schuld begleichen musste.“ Es war Fridolin sichtlich peinlich sich zu offenbaren. Doch er musste es tun. Das war er Linda schuldig. Sie hatte immerzu so tapfer gekämpft und war so oft schändlich hintergangen worden, da musste er alles offenlegen. Linda sollte nun, zum guten Schluss, auch die Hintergründe erfahren, die zu ihrem schwierigen Start in ihr Leben auf der Erde geführt hatten.

„Fridolin, du musstest eine Schuld begleichen? Das glaube ich dir nicht! Du bist der zuverlässigste, ehrlichste, verlässlichste, integerste Typ, dem ich je begegnet bin.“

„Danke Linda für dein Vertrauen. Aber leider muss ich dich enttäuschen. Mir ist da mal ein Fehler unterlaufen. Ich hab´ mal nicht richtig aufgepasst und mich überrumpeln lassen.“ Fridolin stand zerknirscht da.

 

„Was ist passiert Fridolin?“ In solch desolatem Gemütszustand hatte sie ihren Vertrauten noch nie gesehen. In der Tat war das noch nie vorgekommen.

„Weißt du Linda, da war die Sache mit Dorian Gray. Ich kann dir nicht einmal sagen, wie es dazu kam, aber er rang mir die ewige Jugend ab und stoppte damit das Sterben seiner Schönheit.“

„Was, der Kerl lebte wirklich?“ Kanep war fasziniert. „Weißt du noch Linda, damals in unserer Jugend hatten wir das Buch gelesen – Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde. Das war doch nur ein Roman! Und jetzt

kommst du Fridolin und willst uns erzählen, den gab es wirklich?“

„So ist es, Kanep. Oscar Wilde hat daraus eine Geschichte gemacht.“

„Wie bitteschön, soll er denn an die Info gekommen sein?“

„Das war Tomasins Idee. Tomasin hatte mitbekommen, was ich gemacht hatte. Er kam zu mir und sagte, es wäre besser, wenn Upper nichts davon erfahren würde. Er mutmaßte, Upper würde bestimmt sehr zornig werden und das könnte schwerwiegende Folgen für alle Forschungs-Seins auf der Erde haben. Nun ja, Tomasin überzeugte mich. Wir schmiedeten einen Plan. Tomasin sollte Grays Schatten viel Bedeutung geben. Die Dekadenz und die Abgründe der Gesellschaft sollten dadurch präsent werden. Indem Gray dann mit seinem Schatten konfrontiert werden würde, würde Fridolins Gabe der ewigen Jugend irgendwann hinfällig werden. Nun musste die Sache nur noch vor Upper vertuscht werden. Deshalb gab Tomasin den Vorfall ins Wissende Feld. So kam es, dass der Schriftsteller Oscar Wilde, der gerade auf der Suche nach einem Stoff für eine neue Geschichte war, an die Info kam und inspiriert wurde. Fortan gehörte der Fall Dorian Gray der Welt der Literatur an. C´est ca! Da Tomasin mir aus der Klemme geholfen hatte, hatte er eben noch was gut bei mir. So einfach ist das.“

Martha wurde neugierig. Da gab es etwas, das sie nicht kannte und überaus nützlich für sie werden könnte. „Du, sag mal Fridolin, du sprachst gerade von dem Wissenden Feld – was soll das sein?“

„Wie jetzt Martha, das kennst du nicht? Das hätte ich gerade von dir nicht erwartet. Ich erkläre es dir aber selbstverständlich gerne. Das Wissende Feld beinhaltet Informationen aller jemals dagewesenen Dinge. Zum Beispiel findet man dort auch die Erfahrungsberichte aller heimgekehrten Forschungs-Seins oder geheimes Wissen und so weiter. Manche nennen es auch die Akasha-Chronik oder das Morphische Feld.“

Plötzlich schreckte Martha zusammen. „Du meinst, alle können zu jeder Zeit Informationen aus dem Wissenden Feld erhalten und Dinge in Erfahrung bringen?!?“

„Ja genau, Martha. Das gelingt jedoch nur, wenn das Wissen für den Fragenden freigegeben ist. Das ist eine Art Sicherung, denn es kann vorkommen, dass jemand mit der Auskunft überfordert wäre.“

„Meinst du Linda hatte Zugriff auf solche Dinge?“

„Ja was glaubst du denn? Linda hatte die Erinnerung an Zuhause dabei. Da war es nur eine Frage der Zeit, dass sie entdecken würde, dass ihr alle Informationen zur Verfügung stünden. Außerdem war sie von Upper losgeschickt worden, um Dinge in eurer Familie aufzudecken. Natürlich hatte sie Zugriff!“

„Verfluchtes Balg! Wäre ich nur konsequenter gewesen.“ Martha begann wieder Linda anzugehen, wurde diesmal jedoch sofort von Upper in ihre Schranken gewiesen. „Schweig Martha! Du hast hier gerade nichts zu vermelden!“ Damit ließ er Martha stehen und widmete sich wieder Linda. „Linda, sei so lieb und erzähl uns bitte wie du aus Hannahs Bauch herausgekommen bist.“

„Das war so: Ich hatte die Besinnung verloren. Ich war vom Herauskämpfen so schwach, dass all meine Lebensfunktionen schwanden. Zur Hälfte steckte ich mit meinem Körper in meiner Behausung, mit der anderen Hälfte, Kopf und Schulter, im Kanal hinter der Öffnung. Ich steckte fest. Nichts regte sich. Es ging weder vor noch zurück. Von Hannah konnte ich auch keine Regung wahrnehmen. Ich kriegte gerade eben noch so mit, dass von außen etwas auf Hannahs Bauch drückte. Ich meinte etwas zu rutschen, dann griff jemand nach meinem Kopf, packte ihn und zog mich aus dem Kanal heraus. Danach verlor ich vollends das Bewusstsein. Alles war still in mir – so friedlich. Aus weiter Ferne hörte ich Stimmen: ´Kümmert euch um die Mutter! Sie hat Zuhause zwei kleine Kinder. Und das kleine Mädchen? ´, fragte jemand. ´ ´Wir können nichts mehr für sie tun. Sie ist zu klein und viel zu schwach gewesen als wir sie holten. Es war zu spät, sie hatte keine Chance´. Aber ich war noch da – merkte das denn keiner, Fridolin?“

„Linda, das konnte keiner merken. Du hattest dein gesamtes Quod verbraucht. Für sie warst du tot. Du hörtest auch erst in dem Moment wieder die Stimmen, als ich dir neues Quod eingeflößt hatte. Ich wollte und durfte dich nicht wieder nach Hause bringen. Du hattest noch so viel zu erledigen. Auch Hannah durfte noch nicht zurück in die Heimat. Ihr musstet beide weiterleben!“

„Aha, deshalb. Jedenfalls lag ich auf einer harten Unterlage, ich glaube in einer Art Schale. Ich wollte endlich atmen, doch es wollte mir immer noch nicht so recht gelingen. Ein ganz klein wenig Luft strömte in meine Lungen. Mehr Luft konnte auch nicht in mich hineingelangen, denn meine Nase und mein Mund waren immer noch mit Glibber verschmiert. Panik stieg in mir auf. Ich musste atmen aber es ging nicht. In meiner Panik wollte ich schreien – das gelang auch nicht. Lediglich ein zartes Wimmern brachte ich zustande. Es wurde nicht gehört. Alle Anwesenden waren zu sehr damit beschäftigt sich um Hannah zu kümmern. ´Wir haben sie wieder´, hörte ich jemanden sagen, ´Gott sei Dank, sie ist wieder bei uns! Psst, seid still! ´. Die Hebamme horchte aufmerksam auf. ´Jetzt seid doch endlich still! Hört ihr das? Dieses Wimmern? ´ Ein Arzt und die Hebamme beugten sich über mich. ´Mein Gott sie lebt! Das kleine Mädchen lebt. Wir haben beide wieder. Schnell holt einen Schlauch und saugt die Nase frei, damit sie atmen kann. Wascht sie, packt sie ins Wärmebett, los schnell! ` Endlich kümmerte sich jemand um mich. Ich war gerettet.

Linda ist auf der Welt

„Hannah und ich lebten. Wir brauchten allerdings beide noch zwei Wochen bevor wir wieder einigermaßen bei Kräften waren und in mein neues Zuhause gehen durften. Meinen Vater Erhard durfte ich schon im Krankenhaus kennenlernen. Er besuchte Hannah und mich regelmäßig. Nun war ich gespannt auf meine Geschwister und den Rest der Familie. Bisher hatte ich sie nur durch Hannahs Bauch hören können. Manchmal hörte ich sie lachen, manchmal einfach nur reden und hin und wieder hörte ich sie streiten. Sie kamen mir ganz nett vor. Wenn sie so wären, wie ich sie mir vorstellte, würden wir bestimmt prima zusammenpassen. Natürlich hatte ich damals keinerlei Vorstellung, wie es in Wirklichkeit sein würde. Genauso vermochte ich mir zum Zeitpunkt, als ich im Bauch meiner Mutter war, nicht vorzustellen, diesen Ort jemals verlassen zu müssen. Heute weiß ich es selbstverständlich besser, denn ich habe alle Stadien des Seins durchleben dürfen. Ich weiß, wie es Zuhause ist – in der Zeit ohne Zeit. Ich weiß, wie es ist, als Forschungs-Sein auf Reise zu sein. Ich weiß, wie es ist, als winzige Zelle den Impuls zu spüren, wenn diese Zelle – Ich - beginnt sich immer wieder zu teilen, sich aus diesen immer mehr werdenden Zellen ein Zellhaufen bildet – eine Morula – aus deren Zellen heraus sich wiederum Spezifizierungen bilden – Arme, Beine , Hände, Füße, Ohren, die irgendwann hören können und so weiter. Ich weiß, wie es sich anfühlt, diese Gliedmaßen als zu mir gehörend zu erkennen und sie dann nach meinem eigenen Willen zu bewegen, mir bewusst zu sein, dass ich das tue. Ich weiß sogar, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Leben im Bauch der Mutter bedroht wird, obwohl man bestens versorgt zu sein scheint und dann aus dieser Sicherheit heraus vollkommen überraschend angegriffen wird. Ich weiß, wie es ist sich den Weg in die Welt zu erkämpfen, geboren zu werden. Und ich weiß, wie es ist sein Leben zu leben. Für all das bin ich sehr dankbar – selbst dafür, dass dieses Leben irgendwann endet. Es ist seltsam, wenn dieser Zeitpunkt kommt, doch auch gut. Schließlich geht es dann wieder nach Hause, zum Ursprung. Ich weiß aber auch, wie gut es ist, einen ständigen Reisebegleiter zu haben, auf den man sich immerzu verlassen kann – Fridolin. Ich verstehe gar nicht, warum die Menschen solche Angst vor ihm haben. Er ist ein sehr lieber Kerl, der nichts Böses im Schilde führt. Ich kann mir vorstellen, es ist nicht wirklich die Angst vor Fridolin, sondern vielmehr die Angst vor dem Unbekannten. In der Regel vergessen wir, wie und woher wir gekommen sind. Aber ich kann euch versichern: alles ist gut. Die Welt wieder zu verlassen, ich meine zu sterben, ist meiner Erfahrung nach genauso wie geboren zu werden. Du gehst aus einer sicheren, ich meine damit bekannten, vertrauten Situation heraus und in eine neue unbekannte hinein. Du wechselst lediglich den Ort – hey, das ist doch cool, oder? Wenn ich´s mir so recht überlege, ist alles nichts weiter als ein spannendes Abenteuer. Das einzige Manko, das ich als unangenehm empfunden habe war, dass ich es selten, eigentlich nie, selber beeinflussen konnte. Vielleicht war das auch ganz gut so. Ich glaube, ich hab´ mein Umfeld mit meiner Anwesenheit schon genug irritiert.

Sei´s drum. Zurück zur Geschichte. Ich war jetzt auf der Welt und freute mich

darauf, bald die Personen kennenzulernen, von denen ich bisher nur die

Stimmen kannte.

Alles war so neu, so unbekannt. Es gab so viel zu entdecken. Ich musste mich erst noch daran gewöhnen, dass so vieles anders war als zuvor. Der Klang der Stimmen und der Geräusche war viel klarer und lauter als zuvor im Bauch von Hannah. Auch meine Bewegungsfreiheit war auf einmal eingeschränkt. Ich wollte, genau wie zu Beginn in Hannahs Bauch, meine Bewegungsfähigkeit trainieren. Ich wollte spielen, mich ausprobieren. Doch irgendetwas schränkte mich ein. Plötzlich fühlte sich alles viel schwerer an. Ich war bedeckt von Stoff, Kleidung und Decken, die mich einhüllten. Bewegung fiel mir schwer. Alles war schwer. Hier war alles nicht so einfach. Hier floss nicht einfach so Nahrung in mich hinein. Auch war ich hier weder von Wasser umhüllt, was meine Bewegungen leicht gemacht hatte, noch war ich mit einer sichern Leine verbunden. Ich konnte plötzlich nichts weiter als herumliegen. Okay, ein wenig mit meinen Armen rudern und mit meinen Beinen strampeln gelang mir schon, aber an Drehen und Wenden, geschweige denn Purzelbäume schlagen, war kein Denken – keine Chance. Stunde um Stunde, tagein tagaus lag ich in meinem Bettchen. Nur ab und zu wurde ich dort herausgenommen. Dann wurde ich mit einer Flasche gefüttert an der ein weicher Stopfen befestigt war, der auf seiner Spitze ein kleines Loch hatte. Ich musste daran saugen, damit ich die nährende Milch trinken konnte. Auch das war gar nicht so leicht, sogar richtig anstrengend für mich. Es klappte nicht so, wie es sollte. Es dauerte lange, bis ich wenige Milliliter Milch getrunken hatte. Danach schlief ich direkt vor Erschöpfung ein und wurde erst wieder wach, als sich der Hunger erneut meldete. Ich war sowieso schon ein dürres, viel zu kleines Menschlein und nun gelang auch noch die Nahrungsaufnahme nicht einmal richtig. Es war zum Verzweifeln. Ich wollte Milch trinken, konnte es aber nicht. Ich bekam mit, wie Hannah sich mehr und mehr sorgte. Sie hatte Angst, ich würde verhungern. An dem Tag, als Hannah und ich in mein neues Zuhause gehen durften, kam ein Arzt bei der abschließenden Untersuchung auf die Idee, in meinen Mund zu gucken. Er drückte mit so einem harten Holzstäbchen meine Zunge beiseite und stellte erstaunt fest, dass meine Zunge am Zungengrund angewachsen war. Es war also kein Wunder, dass ich nicht zu saugen vermochte. Noch bevor Hannah etwas sagen konnte, hatte der Arzt ein Operationsbesteck in der Hand und ratsch, schnitt er beherzt das Zungenbändchen ein, sodass sich meine Zunge löste. Das tat höllisch weh, sogar noch viele Tage später. Durch den Schmerz im Mund hatte ich erst recht keine Lust mehr aufs Essen. Ich dachte mir: wenn ich mich nicht mehr mit dem Saugen abmühen muss, dann kann ich dafür mehr schlafen. Außerdem tat mir mein Mund dann auch nicht so sehr weh. Sollten die doch alle machen was sie wollten – war mir doch egal. Ich jedenfalls wollte meine Ruhe haben.“

„Oh ja, das weiß ich noch, als wenn es gestern wäre“, erinnerte sich Hannah. „Was hab´ ich da für Ängste ausgestanden. Als ich mit dir Zuhause war, bin ich immer wieder zu deinem Bettchen gegangen, habe mich über dich gebeugt und nachgesehen, ob du noch atmest. Du warst so schwach Linda. Ich war voller Sorge um dich. Egal was ich versuchte, damit du genug von deinem Fläschchen trinkst, es fruchtete nicht. Du wolltest einfach nicht trinken und wurdest jeden Tag noch dünner. Eines Tages kam Oma Martha mal wieder zu uns. Sie war so nett und nahm deine Geschwister Ute und Hans für ein paar Stunden zu sich nach Hause, damit ich mich ein wenig ausruhen könnte - sagte sie zumindest. Ich hatte dich gerade auf meinem Arm, als sie an der Wohnungstür klingelte. Ich öffnete ihr und bat sie herein. Martha beäugte dich mit missbilligenden Blicken. „Das dürre Ding wird ja immer mickriger“, mäkelte sie herum. „Hannah, hab` ich dir schon mal erzählt, was wir mit solchen kleinen Dingern damals gemacht haben?“

 

„Ich glaub´, das will ich gar nicht wissen“, wiegelte Hannah sofort ab. „Du und deine Ratschläge – da kommt nichts Gutes bei rum. Das weiß ich mittlerweile. Wahrscheinlich habt ihr sie ertränkt, wie die Katzen! Das trau ich euch zu!“

„Ach, was du wieder denkst Hannah. Der Trick mit der Stricknadel hat bei uns, in der alten Heimat, immer funktioniert. Ich kann doch nicht ahnen, dass du dich so dumm anstellst, du ungeschicktes Ding! Na ja, jetzt ist das Balg halt da. Ob du willst oder nicht, ich sag es dir trotzdem. Sollst später nicht behaupten können, ich hätte tatenlos zugesehen und nichts gemacht, damit die kleine durchkommt. Also hör gut zu: Wir haben die kleinen Dinger wie Hefeteig behandelt. Der muss auch größer werden und aufgehen, damit was draus wird. Und was macht man mit Hefeteig Hannah?“

„Man lässt ihn an einem warmen Platz gehen?“

„Ja, genau! Ist ja doch noch nicht alles verloren mit dir meine liebe Schwiegertochter. Da wir jetzt gerade Winter haben, gibt es natürlich nicht so viele geeignete warme Plätze. Da kommt nur der Backofen in Frage.“

„Moment Mal Martha, willst du mir etwa sagen, ihr habt die Kleinen in den Backofen gelegt?“

„Richtig! Da bekamen sie Bruttemperatur und gediehen. Ich mach dir einen Vorschlag Hannah: Ich habe eben ein Blech Butterkuchen gebacken. Der Backofen ist noch schön warm. Ich nehme Linda gleich mit zu mir rüber.“

„Das ist doch krank! Finger weg von meiner Linda! Die kriegst du nicht!“ Hannah fauchte Martha panisch an.

„Na, na, jetzt stell dich nicht so an! Ich werde dem kleinen Teufelsbraten schon nichts antun. Du tust gerade so, als würde ich, wie die Hexe im Märchen, kleine Kinder braten und dann essen. Ist doch sowieso nichts dran an dem mickrigen Ding.“

Tatsächlich hatte Hannah dieses Bild im Kopf. Sie traute Martha nicht über den Weg. Allerdings, wenn sie es sich recht überlegte, war die Sache mit dem warmen Platz im Backofen gar nicht so verkehrt, jedoch bestimmt nicht mit Martha.

„Linda bleibt hier und damit basta!“, sagte Hannah barsch.

„Schon gut – wenn´ de nicht willst?! Dann geh ich mit Ute und Hans eben rüber zu uns.“ Die Kinder zogen artig ihre Schuhe und Mäntelchen an und folgten ihrer Oma. Einerseits freuten sie sich, denn Oma backte immer so leckeren Kuchen und außerdem durften sie bei Martha das, was sie Zuhause nur selten durften: Limonade trinken und Zuckerwürfel naschen. Andererseits waren sie eifersüchtig auf Linda, weil sie bei ihrer Mutter bleiben durfte und sie sie nun ganz alleine für sich hatte. Ich glaube, die beiden waren ganz schön eifersüchtig auf mich. Ute hasste mich sogar. Das sagte sie auch unverhohlen. In ihren Augen war ich dafür verantwortlich, dass ihre Mutter nach meiner Geburt noch so lange im Krankenhaus bleiben musste. Nun ja, so ganz unrecht hatte sie damit nicht, aber hatte ich das mit Absicht getan? Bestimmt nicht! Genauso wenig war ich dafür verantwortlich, dass unsere Mutter noch sehr viel Zeit brauchte, bis sie wieder vollkommen zu Kräften gekommen war. Mir ging es da ganz ähnlich. Ich brauchte auch viel Zeit dafür. Das kümmerte Ute aber nicht. Ich war ihr egal. Ich war schließlich nur ein Störfaktor, der die Unverschämtheit besessen hatte, plötzlich da zu sein und Anspruch auf ihre Mutter erhob. Eine Frechheit war das! Okay, ich kann auch das sogar ein Stück weit verstehen, denn bis zu meiner Geburt wusste ja keiner von meiner Existenz. Hannah glaubte, sie hätte mich damals weggemacht, Erhard und seine Eltern waren froh, dass sich die Sache von selbst geregelt hatte und meine Geschwister wussten sowieso nichts von dem ganzen Vorfall – selbstverständlich hatte ihnen niemand davon erzählt. Wie es auch sei, ich war da, ob Ute das gut fand oder nicht. So war das nun mal - da konnte sie mich hassen wie sie wollte. Ute hatte andererseits nicht wirklich Grund sich zu beklagen, denn sie hatte in ihrer Oma Martha eine Ersatzmutter gefunden.

Martha kümmerte sich rührend um Ute. Oma Martha verstand sie. Die beiden mochten sich sehr und sie mochten den kleinen Hans. Mich mochten sie allerdings beide gar nicht. Mein Bruder Hans war mir freundlicher zugetan als Ute. Er war in gewisser Weise fasziniert von mir. Als Hannah mit mir aus dem Krankenhaus kam, konnte Hans es kaum fassen: was hatte Mama denn da für eine kleine Puppe dabei? Das musste er genauer erforschen. Hans musste übrigens alles erforschen. Nichts war vor ihm sicher. Er war erst fünf Jahre alt, musste aber schon alles auseinander nehmen und erkunden, was ihm in die Finger kam. Er zerlegte Steckdosen, nahm Papas Kofferradio auseinander und machte auch vor Utes Lieblingspuppe Froni nicht halt. Einmal operierte er die Puppe mit Mamas Küchenmesser. Er schnitt ihr den Bauch auf, weil er wissen wollte, wie Froni von innen aussah. Er war erstaunt, dass nichts in ihr zu finden war. Dann forschte er weiter: was würde wohl passieren, wenn Froni auf die heiße Herdplatte fallen würde? Gedacht, getan. Genau in dem Moment, als Froni auf der Herdplatte landete, kam Ute ins Zimmer. Es zischte und qualmte auf dem Herd. Ute blieb starr vor Schreck stehen. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte sie entsetzt, wie Fronis Gesicht zu schmelzen begann. Es verformte sich durch die Hitze rasch zu einer grauenvollen Grimasse. Das Bild der dahin schmelzenden Froni verfolgte Ute noch bis ins hohe Erwachsenenalter. Ute hat Hans das nie verzeihen können.

Es kam wie es kommen musste: Hans wollte auch mich erforschen. In den

ersten Tagen nach meiner Ankunft in der Familie, musste Hannah mich

immer wieder ausziehen. Hans ließ unserer Mutter keine Ruhe.

„Herrje, hat der kleine Kerl mich damals genervt“, meldete sich Hannah. „In der ersten Zeit hat er mich täglich aufgefordert Linda aus den Tüchern und Decken, in die sie gewickelt war, auszupacken. Er wollte nachsehen, ob an ihr auch wirklich alles dran war. Er hat nicht aufgehört zu quengeln, bis ich nachgab. Erst nachdem er sie inspiziert hatte und sich überzeugen konnte, dass alle Zehen, Finger, eben alles da war wie es sich gehörte, gab er Ruhe. Das war ganz schön anstrengend für mich. Ich hatte da Linda, die ihr Fläschchen nicht trinken wollte, Hans den ich nicht aus den Augen lassen konnte, weil ich Sorge hatte, er würde wieder was anstellen und meinen Haushalt, den ich perfekt in Ordnung halten musste, weil sonst mit mir gemeckert wurde. Nur Ute war brav. Sie machte mir keinen Ärger. Ich konnte sie schnell zufrieden stellen. Wenn ich ihr erlaubte Martha zu besuchen, war sie glücklich. Der kleine Hans war auch gerne bei Oma Martha. Sie nahm sich Zeit und spielte mit ihm. Nur Opa Heinrich mochte er nicht so gerne. Er spielte zwar auch mit ihm, wenn er da war, aber er war ihm irgendwie suspekt. Etwas Seltsames, geradezu Unheimliches ging von ihm aus. Das empfand auch Ute so. Ich denke, es war weniger der Umstand, dass er ständig an ihnen herumfummeln musste und sie küssen wollte, was sie beide gleichermaßen eklig fanden, denn Opa stank nach Zigarre und seine verkrüppelten Finger taten ihnen oft weh, gerade, wenn er beim Kitzeln ganz aus Versehen mit der Hand zwischen ihre Beine rutschte - nein es war etwas anderes, das sie ängstigte. Es war so, als würde ihn eine düstere Wolke umgeben. Aber alles in allem waren Ute und Hans gerne bei ihren Großeltern zu Besuch. Für sie war es wie kleine Ferien von mir und Mama. Es war nämlich so, Hannah war oftmals ziemlich fertig mit den Nerven. Es war alles zu viel für sie. Sie war vollkommen überfordert mit der Situation und fühlte sich alleingelassen mit allem. Martha kümmerte sich zwar häufig um Ute und Hans, doch der Preis, den sie dafür zahlen musste war hoch, denn sie war Martha deshalb schutzlos ausgeliefert. Ständig hackte Martha auf Hannah und mir herum. Kein gutes Haar ließ sie an uns.“