Die Giftmischerin

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Der Mann, der diese Worte gesprochen hatte, beteiligte sich als Letzter an dem geistreichen Wortgeplänkel. Bisher im Hintergrund mit dem Gymnasialprofessor in ein angeregtes Gespräch vertieft, begab er sich nun, neugierig geworden, an die Seite Miltenbergs, wo er sich, der Etikette gemäß, charmant vor ihr verneigte.

Neugierig legte sie den Kopf etwas in den Nacken und suchte amüsiert seine Augen. Doch der Blick, der sie aus den tiefbraunen Augen traf, verwirrte sie. Verdrossen über die verräterische Röte in ihrem Gesicht, versuchte sie, mit äußerlicher Gelassenheit das Klopfen in der Brust zu beruhigen. Sie lächelte höflich hinter halb geschlossenen Lidern, während er ihre Hand an seine Lippen zog. Ein weiterer Blick aus den geheimnisvollen Augen ließ sie erschauern und ihre Knie weich werden, so weich, dass sie sich an Miltenbergs Arm stützen musste.

»Übrigens, meine Liebe, darf ich dir hiermit meinen neuen Geschäftsfreund Herrn Gottfried vorstellen? Er wohnt schon seit längerer Zeit unserem Haus gegenüber«, hörte sie Miltenberg sagen und schickte heimlich ein Dankesgebet zum Himmel. Als Herr Gottfried Miltenberg darauf antwortete: »Du gestattest mir doch, beim Bankett neben diesem bezaubernden Geschöpf zu sitzen, Gerhard?«, vergaß sie Miltenberg und die gerade noch durchlebten Ängste. Ja, selbst die Angst vor dem heranwachsenden Kind wurde plötzlich zur Nebensächlichkeit.

»Es wird mir eine Ehre sein, mein Herr, Sie an meiner Seite zu wissen«, antwortete sie artig und plauderte rasch weiter, in der Furcht, sie könnte sonst seine Aufmerksamkeit verlieren. »Darf ich so vermessen fragen, welchem Broterwerb der Herr nachgeht?«

Gottfried suchte belustigt ihre Augen und dachte: Sie ist hübsch. Sie ist wunderschön. So müssen Elfen aussehen. Mit einem Seitenblick auf Miltenberg antwortete er: »Sieht man mir das nicht an, Madame?«

Gesche verneinte und schielte heimlich, erneut bis unter die Haarspitzen errötend, zu der über dem Hinterteil straff sitzenden Hose und den wohlgeformten Waden. Unauffällig wanderte ihr Blick weiter zu dem eng sitzenden zweireihig geknöpften Rock, der sich über einer breiten Brust spannte und einen kräftigen, gesunden Körper erahnen ließ, bis hinauf zu dem Halstuch, welches das energische, etwas vorstehende Kinn umschloss. Gehalten wurde es von einer Brosche aus grünlich schimmerndem Topas, die er mit einer sicheren Handbewegung vom Tuch löste und ihr galant an das Mieder steckte, als er ihre Bewunderung für das schöne Stück bemerkte.

»Eine schöne Frau sollte sich immer mit Verehrern und Brillanten schmücken. Davon kann es nie genug geben«, lächelte er charmant und ließ Gesche dabei nicht aus den Augen.

»Nehmt es als Geschenk von einem weiteren Bewunderer Eurer Schönheit«, schmeichelte er und zog ihre Hand erneut an seine Lippen. »Aber ich handele nicht mit Diamanten, Madame, sondern mit edlen Weinsorten, der köstlichsten Freude eines Mannes neben der Schönheit eines Weibes.«

»Gottfried ist Weinreisender und kommt viel in der Welt umher. Er kann dir noch eine Menge erzählen. Aber das wird er jetzt an der Tafel tun. Ich verspüre nämlich einen Bärenhunger«, unterbrach Miltenberg sein Gespräch mit dem Senator und reichte Gesche auffordernd den Arm, als Walzerklänge erklangen.

Doch Gottfried kam ihm zuvor.

»Gestatte mir, diesen Tanz der schönsten Frau auf diesem Ball zu widmen. Ich weiß, wie gern Frauen Walzer tanzen, besonders wenn es sich dabei um den begehrten Luisenwalzer handelt.«

Erwartungsvoll hing Gesche an Miltenbergs Lippen. Und Miltenberg parierte geschickt, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren. Er gab sich gönnerhaft. »Tu, was du nicht lassen kannst, alter Charmeur, ich weiß, dass die Damen an deiner Seite wie Zucker dahinschmelzen, wenn du mit ihnen über die Tanzfläche schwebst. Das Glück meiner Gattin liegt mir so sehr am Herzen, dass ich sie ohne Argwohn in deine Hände gebe. Tanze ordentlich mit ihr. Ich werde mir, während sie in deinem Arm schwebt, die Zeit schon nicht lang werden lassen.«

Köstlicher Bratenduft durchzog den Saal, Geschirr klapperte und Gläser klirrten. Während die einen sich lautstark an der mit den edelsten Speisen gedeckten Tafel gütlich taten, schwebten die jungen Paare zu berauschenden Walzerklängen über das Parkett. Gesche hatte weder einen Blick für den Gatten, noch interessierten sie die mahnenden Blicke der Mutter. Eng an ihren Tänzer geschmiegt, entschwebte sie ohne Bedenken der lärmenden Festlichkeit. Sie hatte nur noch Blicke für Gottfried und konnte sich an ihm nicht sattsehen. Immer wieder tauchte sie in den unergründlichen Glanz seiner Augen hinein, wenn er ihren weichen, biegsamen Körper mit einem verführerischen Lächeln fest an sich presste und seine Hand ihre Taille über Gebühr verbog. Sie spürte den festen Griff der Finger, die wie aus Versehen manchmal etwas zu weit an ihrem Rock hinabglitten, und hielt ihm sehnsüchtig die Lippen zum Kuss hin. Ohne dass sie es zu verhindern vermochte, versank der Saal um sie herum in einem nicht endenden Liebeszauber. Doch den wachsamen Augen Margarethes entging nichts von dem sündigen Treiben der Tochter. Noch vor Kurzem mit der Frau des Klavierlehrers in ein angeregtes Gespräch vertieft, vermochte sie dem Redeschwall nur noch zerstreut zu folgen, bis sie gar nicht mehr hinhörte. Wie der Blick einer wachsamen Glucke verfolgte sie jede Bewegung der Tochter. Als die Klavierlehrerin in ihrem Taftkleid raschelnd davonrauschte, erhob sie sich entschlossen vom Tisch. Ärgerlich schob sie den Stuhl so heftig zur Seite, dass die Austernsuppe vor ihr über den Tellerrand schwappte und das Lammfilet vom Brett mit den Spargelspitzen ihr vor die Füße fiel. Aber ungeachtet dessen stürmte sie auf die Tanzfläche, gerade als Gottfried Gesche besonders auffällig an sich presste, und trat warnend mit den Worten zu ihrer Tochter: »Ich glaube, dein Mann ist unzufrieden mit dir. Du gefährdest deinen guten Ruf. Führst dich auf wie eine Dirne. Einfach skandalös.«

Doch die befürchtete Auseinandersetzung blieb aus. Miltenberg hatte sehr wohl seine Frau und Gottfried im Auge behalten, und lediglich das Übermaß des zu reichlich genossenen Weines trug die Schuld daran, dass er sich zur Tanzfläche begab.

Mit unsicherem Gang, den er hinter einer übertriebenen Steifheit verbarg, torkelte er auf die Gruppe Neugieriger zu, die sich um Gesche und ihre Mutter gebildet hatte. Auf den Gesichtern ein verstecktes schadenfrohes Grinsen, rückte die Gruppe auseinander und ließ ihn durch. Der reichlich genossene Alkohol hing wie Blei in seinen Beinen und behinderte ihn beim Gehen. Er stolperte und stürzte unbeholfen auf Gottfried zu. Scherzhaft drohte er ihm mit dem Finger: »Mein Freund, ich muss mit ansehen, wie du meine Frau vor den Lästermäulern kompromittierst. Madame ist mein Weib und eine Dame.«

Schwankend und mit einem blöden Blick, sah er auf Gesche herab, die unter der Schminke erbleichte. Es schien, als versuchte er, sich zu erinnern. Doch dann grinste er Margarethe in das verblüffte Gesicht, verbeugte sich linkisch vor ihr bis zum Boden, was zur allgemeinen Erheiterung im Saal beitrug, und lallte: »Aber Madame Timm. Ihr hier auf der Tanzfläche allein ohne Euren Gatten?« Im gleichen Augenblick suchte er Halt und umfasste tollpatschig Gesches Hüfte. Am Druck seiner Hände spürte Gesche, dass er nicht so betrunken war, wie er vorgab, und hinter der Maske des Trunkenboldes lediglich seine Unsicherheit verbarg.

»Aber wir werden uns den Nachhauseweg nicht verderben lassen, Madame«, grinste er und zog Gesche mit dem Recht des Ehemannes an seine Seite. Zu Gottfried gewandt, sagte er: »Mein Freund, du hast doch sicher noch eine Flasche von dem köstlichen Wein aus dem Elsass in deinem Haus. Wie hieß er doch gleich …?« Als spüre er bereits den köstlichen Tropfen auf der Zunge, verzog er genüsslich das Gesicht und verdrehte die Augen.

Ohne Margarethe und die anderen belustigten Paare noch eines Blickes zu würdigen, drehte er ihnen den Rücken zu, reichte Gottfried den freien Arm und schwankte, ganz in brüderlicher Herzlichkeit, den Freund links untergehakt und Gesche rechts, dem Ausgang zu.

Am nächsten Morgen eilte Vater Timm zu seiner Tochter, um ihr die heftigsten Vorwürfe zu machen. Selbst in den Tagen ihrer Kindheit hatte Gesche ihn noch nie so zornig erlebt. Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, seinen Zylinder aufzusetzen. Ohne einen Morgengruß, in dunkler Weste, mit speckigen eingetrockneten Flecken auf den Aufschlägen, die losen Hemdsärmel hochgekrempelt, stürzte er, ohne sich anzumelden, durch die offene Tür und schimpfte laut: »Was soll ich nur von dir halten, meine Tochter. Dein gestriges Betragen auf dem Tanzboden ist ganz und gar nicht nach meinem Wunsch gewesen. Du hast deinen Ehemann gänzlich vernachlässigt! Hast dich viel lieber mit diesem Gottfried, diesem Hallodri, amüsiert. Solange ich lebe, gehst du mir nicht wieder in eine solche Gesellschaft. Eine Frau sollte ihren Mann nicht so behandeln, wie ich es gestern gesehen habe. Was habe ich mir da nur großgezogen? Was sollen nur die Leute von uns denken?«

Die letzten Worte verklangen in einem hilflosen Stöhnen. Die Enttäuschung machte ihn wehrlos, und er zog sich einen Lehnstuhl heran. Ein gebrochener Mann, bloßgestellt und entehrt durch das eigene geliebte Kind.

Der Überfall kam so überraschend für Gesche, dass sie, Gottfrieds brennende Küsse noch auf den Lippen, den Vater mit gelösten Haaren und lose übergeworfenem Morgenmantel empfing. Verlegen und zu Tode erschrocken, nestelte sie an den Bändern und Schleifen und überlegte fieberhaft, wie sie das Geschehene für alle ungeschehen machen konnte. Rasch, wie in Kindertagen, richtete sie den Blick demutsvoll zu Boden, mit einem Ausdruck tiefster Reue auf dem übernächtigten Gesicht. Niemals durfte der Vater erfahren, was in dieser Nacht, nachdem sie Miltenberg stockbetrunken ins Bett gebracht hatte, zwischen ihr und Gottfried vorgefallen war. Allein der Gedanke an die sündige Verfehlung bereitete ihr ein tödliches Unbehagen. Wie eine ertappte Sünderin kam sie sich vor. Zugleich aber ließ es sich nicht verhindern, dass ihr der Gedanke an Gottfrieds Liebeschwüre erneut wohlige Schauer über den Rücken jagte. Oh, wenn sie dem Vater nur Abbitte leisten könnte. Doch es galt, ihren guten Ruf zu verteidigen und die getreue Ehefrau zu mimen, das war sie sich und ihren Eltern schuldig. Gottfrieds Liebe war wie das Feuer eines Vulkans auf sie herniedergestürzt und brannte lichterloh in ihrem Herzen weiter. Deshalb musste sie verhindern, was Miltenberg in seiner Weichheit nicht fertigbrachte, dass der Vater ihr den weiteren Besuch des Festes verwehrte. Rasch erinnerte sie sich an ihr Talent zum Schauspielern, und schnurrend, einer Katze gleich, schlang sie dem Vater die Arme um den Hals. Listig schlug sie die Augen zu ihm auf, Augen, in denen sich ernsthafte Reue und liebevolle Verehrung widerspiegelten. Dass sie Gottfried nicht wiedersehen sollte, genügte Gesche, um in einem Meer von Tränen zu schwimmen. Auf diese Weise jedes Vaterherz berührend, bat sie: »Bitte, geliebter Vater, nur noch heute Nachmittag. Bitte, ich schwöre dir, auch keinen Anlass zur Untadeligkeit zu geben. Ich tanze so gern, und mein Mann wird das Fest doch nicht ohne seine Gattin besuchen. Bitte, Vater, verwehr mir diese Bitte nicht. Ich schwöre dir, dass mein Herz schwer ist vor Kummer, dir, mein liebes Väterchen, jemals wehgetan zu haben.«

 

Timms Ärger verebbte bei so viel Liebreiz und ehrlicher Reue wie ein Eiskristall in der Sonne. Der geliebten Tochter vermochte er nichts abzuschlagen. Er ärgerte sich bereits über seinen Auftritt und bereute seine Vorwürfe. Die Tochter fest im Arm haltend, fühlte er sich in die Zeit zurückversetzt, als sie noch seine kleine Gesche war. Sein kleines Mädchen, das keinen Ungehorsam kannte. Doch Strenge musste sein, und er versuchte, noch einen Moment hart zu bleiben, bevor er ihr Gesicht zwischen seine Hände nahm und sie sanft auf die Stirn küsste.

»Wie konnte ich meiner geliebten Tochter nur einen Augenblick lang misstrauen und in ihr etwas anderes als mein tugendhaftes und gehorsames Mädchen sehen«, antwortete er ihr, und sein Vaterherz schmolz dahin vor Liebe. »Wie sollte ich Freude an einem Fest finden ohne die Anwesenheit der schönen Madame Miltenberg. Jede Festlichkeit ohne dich, mein Kind, wäre ein Trauerspiel.«

Kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, entwand sich Gesche seinen Armen. Im Überschwang ihrer Freude riss sie den Vater mit hoch. Vor Freude klatschte sie in die Hände und zog ihn zur Tür. Das eben geführte Gespräch schnell vergessend, dachte sie nur noch daran, in welchem Kleid sie am Abend auf dem Ball erscheinen würde, um Gottfried zu gefallen.

Unschuldig plauderte sie: »Oh, mein geliebter Vater, du weißt gar nicht, welches Glück du mir eben bereitet hast. Nie werde ich dir das vergessen. Ich schwöre dir bei meiner Tugend, ich werde dir nie wieder Anlass zum Ärger geben.«

Erschrocken hielt Margarethe inne und raffte das Schultertuch fester über der Brust zusammen. Obwohl sie die ärmliche Gegend vor dem Hohentore kannte, zog sie unbewusst ihren Fuß zurück, den sie bereits auf die erste Stufe in die Tiefe gesetzt hatte. Rasch warf sie noch einmal einen Blick auf den Zettel mit der Hausnummer der Kaffeefrau, den ihr Lucia, die Zigeunerin, gegeben hatte. Die Nummer stimmte. Trotzdem grauste es ihr vor dem modrigen Geruch und der eisigen Kälte, die ihr aus der Dunkelheit entgegenschlugen.

Seltsam, dass Menschen so leben können, dachte sie und beugte den Oberkörper etwas vor, um in den durch einen dunklen Gang erreichbaren Hinterhof zu sehen. Als sie am Ende ein schwaches Licht erblickte, fasste sie neuen Mut und stieg die drei Stufen hinab, vorsichtig, immer einen Fuß vor den anderen, um nicht auf dem feuchten Lehmgestein auszurutschen. Schritt für Schritt tastete sie sich weiter vorwärts. Einmal rutschte sie. Nach einem Halt suchend, stützte sie sich mit der Hand an der bröckligen Lehmwand ab. Die Wand war kalt und schmutzig. Gleich darauf zog sie die Nase in krause Falten und schnupperte. Je näher sie dem Licht kam, umso mehr roch es nach menschlichem Unrat. Wieder zögerte sie und überlegte, ob es richtig war, Lucias Rat zu befolgen und Auskünfte über die Zukunft der Tochter von der Kaffee­leserin einzuholen. Doch Lucias gestrige Prophezeiungen aus den Karten, Gesche würde viele Sterbefälle zu beklagen haben und sich ein zweites Mal verheiraten, trieben sie weiter. Die düstere Weissagung ließ ihr keine Ruhe, zumal Lucia danach zu keinem Wort mehr bereit gewesen war. Aber sie hatte recht behalten mit ihrer Warnung vor den Kaffeeleserinnen. Diese Frauen lebten in ärgster Armut. Der Weg dorthin war mit Schmutz beladen und nicht ungefährlich.

Doch nicht nur Lucias Prophezeiung hatten sie zum Hohentore geführt. Die seltsame Verwandlung der Tochter selbst war es gewesen. Sieben Jahre war sie nun mit Miltenberg verheiratet, und die Tochter veränderte sich immer mehr. Ständig gab es Streit wegen ihrer auffälligen Eitelkeit. Obwohl sie ihr bisher nicht nachreden konnte, dass sie Miltenbergs Haushalt vernachlässigte oder sich den Bittenden versagte, verbrachte sie die meiste Zeit vor dem Spiegel, um sich zu schminken und zu putzen, und die Ausgaben ihrer Kleider überstiegen bei Weitem Miltenbergs Vermögen. Wie oft hatte es deswegen Auseinandersetzungen gegeben, zwischen ihr, Gesche und dem Vater, der auf Miltenberg schimpfte, weil er zu wenig Interesse für seine Ehefrau zeigte. Am allerwenigsten konnte sie es verstehen, dass sie ihre Mutterpflichten bei Adeline, ihrer Erstgeborenen, allein der Dienerschaft überließ, um mehr Zeit für ihre Toilette zu haben.

»Treten Sie ein, Madame.«

Margarethe schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie stand vor einer in das Mauerwerk eingelassenen Holztür. In Gedanken versunken, hatte sie nicht bemerkt, dass sie geöffnet wurde. Jetzt starrte sie auf einen dunklen Vorhang, hinter dem erneut die Aufforderung erklang, einzutreten. »Kommen Sie, kommen Sie! Es wird kalt, und ich friere leicht.«

Beklommen beeilte sie sich und schloss rasch die Tür hinter sich. Hinter dem Vorhang war es schummrig. In der Mitte des Zimmers empfing sie ein altes Weib, das hinter einer spitz geformten Öllampe saß. Der Lichtschein war auf die große, bauchige Tasse vor ihr auf dem Tisch gerichtet. Die Gesichtszüge wirkten wie eingemeißelt und waren ganz gelb vom Pfeiferauchen. Sie hoben sich gespenstisch von dem dunklen Tuch ab, das die Alte um die Schultern trug.

»Kommen Sie, kommen Sie, ich habe Sie schon erwartet«, brummte die Frau und wies mit ihrer knochigen Hand auf den Holzschemel vor dem Tisch.

Margarethe stutzte, überlegte, ob sie nicht wieder gehen sollte, beeilte sich dann aber, der Aufforderung zu folgen. Etwas steif, mit einem verlegenen Lächeln auf dem Gesicht, ließ sie sich der Frau gegenüber nieder. Dabei zupfte sie nervös an dem Taschentuch zwischen ihren Händen.

Die Alte rückte ihre Haube zurecht und beobachtete sie über den Tassenrand. »Es geht dir nicht gut, meine Tochter. Dich plagen große Zweifel«, schnarrte sie, und Margarethe erschrak. Woher konnte die Alte das wissen?

»Ja. Es ist meine Tochter Gesche, weswegen ich komme«, antwortete sie befangen.

»Ich weiß. Deine Tochter ist dabei, abtrünnig zu werden. Sie verleugnet ihre Tugenden und ergibt sich der Wolllust und dem schnöden Mammon.«

Margarethe erschauerte unter dem Wollstoff ihres Umhangs, einem Geschenk Gesches zu ihrem Geburtstag. Wie erriet die Alte nur ihre geheimsten Gedanken? »Nein, gute Frau. Ganz so ist es nicht«, versuchte sie, die Tochter in Schutz zu nehmen. »Gesche ist eine brave Tochter und macht uns immer viel Freude. Sie beschenkt uns mit ihrer Liebe und ist eine tugendhafte Ehefrau. Doch ihr Ehemann, der Miltenberg Gerhard, vernachlässigt sie. Er ist kaum noch zu Hause. Meistens treibt er sich hier und da umher und überlässt die Geschäfte seiner Ehefrau. Das Kind ist so allein. Wenn Gott und wir sie nicht beschützen würden …«

»Deine Tochter ist nicht allein. Luzifer ist bei ihr und erwärmt ihre einsame Seele«, unterbrach die Alte sie ungeduldig und stocherte in der Tasse mit einer braunen, dickflüssigen Brühe vor ihr.

Nur zu gut ahnte sie, wen die Alte in dem Vergleich mit dem Teufel meinte.

»Ich habe ihr in jedes Kleid einen halben Kreuzgroten und im Kindbett in ein Kissen Kräuter eingenäht, um sie davor zu beschützen«, erwiderte Margarethe kleinlaut.

Doch die Alte schüttelte den Kopf. »Man hat dir prophezeit, dass deine Tochter ihre Familie einmal überlebt, aber dabei niemals glücklich werden wird.« Listig belauerte sie Margarethe.

Margarethe nickte eifrig. Ihre Hände begannen zu schwitzen. »Ja, selbst der Automat in der Obernstraße, der, in dem der dünne Mann mit dem komischen Hut und den großen Zähnen sitzt, hat mir dies vorausgesagt. Aber was besagt diese Prophezeiung? Deshalb, gute Frau, komme ich zu dir und hoffe auf deine Hilfe. Man sagt, du siehst im Kaffeesatz die Zukunft so klar, wie es die Karten nicht vermögen.«

»Das stimmt«, antwortete die Alte und kratzte sich unter der Haube. Margarethes Worte schmeichelten ihr. »Doch, meine Tochter, du solltest wissen, dass der Kaffeesatz nichts Gutes über dein Kind aussagt. Deine Tochter ist äußerlich von schöner Gestalt, aber ihre Seele ist leer und böse. Bis zu ihrem 40. Lebensjahr wird sie viele Sterbefälle zu beklagen haben, und sie wird sich ein zweites Mal verheiraten.«

Plötzlich stieg eine braune Wolke aus dem Kaffeesatz bis hinauf zur grauen Zimmerdecke. Sie reizte zum Husten. Die Alte schniefte laut, hob die Tasse empor, sah kopfschüttelnd darunter und schwenkte sie dann mit leisen, beschwörenden Worten zwischen den Händen. Plötzlich stellte sie die Tasse an ihren Platz zurück, nahm einen silbernen Löffel und rührte schweigend in dem dunklen Satz. Dass sie nicht allein im Raum war, schien sie völlig vergessen zu haben.

»Was ist, gute Frau …?«

Unruhig hatte Margarethe dem unheimlichen Treiben zugesehen. Sie musste plötzlich an Johann, ihren Ehemann, denken, wie er sich vor Kurzem in der Neustadt von einem Zigeuner einen Spiegel hatte zeigen lassen und dabei leichenblass wurde. Lange hatte er danach nichts gesprochen. Tags darauf hatte er in der gleichen Gegend einen Mann befragt, dem er Gesches Namen und Geburtsjahr gegeben hatte. Aus einem kleinen Punktierbuch prophezeite dieser, dass Gesche ihr Leben einsam in einer kleinen Stube beschließen würde. Der Automat hatte auf ihre Frage, ob Gesche viele Kinder gebären würde, nur laut geplärrt: »Kriegt sie, aber sie wird sie beweinen.« Auch als sie die Puppe im Automaten fragte, ob Gesche bald Witwe würde und in ihrer zweiten Ehe glücklich würde, hatte der Automatenmann hölzern geschnarrt: »E. e. eine glückliche Witwe!«

Christoph, ihr unseliger Sohn, hatte die Hälfte ihres mühsam ersparten Vermögens mit Weibern durchgebracht und sich in seinen zahlreichen Duellen die Kugel eines Engländers eingefangen. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört, bis die erschütternde Nachricht kam, dass er als Gefangener des russischen Kosakengenerals Tettenborn im Lazarett an dem gezielten Säbelhieb eines Kosaken dahinsiechte. Was hatten sie und Johann nur falsch gemacht, dass ihre Kinder so missraten waren?

Leichenblass, von ihren eigenen quälenden Gedanken eingeholt, warf sie der Alten einen Reichstaler auf den Tisch und sagte leise, mit nur mühsam unterdrückten Tränen in der Stimme: »Ich habe alle mögliche Vorsicht gebraucht, meine Tochter vor Unglück und falschen Wegen zu beschützen. Nun kann ich wohl nichts mehr für sie tun.«

Dann, nur noch von dem einen Gedanken beseelt, nie wieder einen Fuß an diesen Ort zu setzen, verließ sie rasch die Stube. Die Alte blickte ihr erstaunt hinterher. Als die Tür ins Schloss fiel, kratzte sie sich unter der Haube und dachte: Wie dumm doch die Menschen sind. Wissen von der Schlange, die sie an ihrem Busen nähren, und füttern sie noch. Kopfschüttelnd murmelte sie: »Viel Unheil wird über dich und deine Familie kommen, Margarethe.«

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?