Die Giftmischerin

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»Die Leute vermagst du zu täuschen mit deiner freundlichen Offenheit, deiner Tüchtigkeit und deiner ach so göttlichen Freigebigkeit. Aber mich, holde Schwester, mich kannst du nicht täuschen. Ich bin dein Zwilling, vergiss das nicht. Ich weiß genau, was in dir vorgeht, was an Boshaftigkeit in dir schlummert; Schlechtigkeiten, die von den Eltern in ihrer Einfalt und Ehrbarkeit noch genährt werden. Jahrelang hast du die Mutter bestohlen, und immer wieder hast du es verstanden, den Verdacht geschickt auf mich zu lenken.«

Flink hob er sie vom Schneiderpodest und zog sie vor den einzigen großen Schneiderspiegel in die hinterste Ecke der Werkstatt. »Hier siehst du, Schwester: Hier steht ein Engel. Ein wahrhaft göttliches Wesen mit einer wahrhaft teuflischen Seele!«

Rasch lockerte er den Griff und schlang die Arme von hinten um ihre Brust. Sein Mund lag nun an ihrem Ohr und sie spürte seinen warmen Atem, als sie den Widerstand aufgab und den Kopf mit den aufgetürmten Locken kokett an seine Wange schmiegte. Eng an ihn geschmiegt, fühlte sie seinen weichen Körper und eine bisher nie gekannte Erregung. Während ihrer Rangelei war ihr die Brille von der Nase gefallen und unter dem Fuß zerbrochen. Ohne Brille noch hübscher, lächelte sie ihrem Spiegelbild zu, erst zaghaft, dann etwas selbstgefälliger. Den Kopf auf Christophs Schulter, das Gesicht an seiner Wange, stellte sie sich die Burschen vor, die sie umschwärmten und die mit dem Bruder jetzt gern tauschen würden. Der blonde Hubertus, den sie unlängst auf dem Korporalsball kennengelernt hatte, wäre ein Mann nach ihrem Geschmack gewesen. Dem wohlhabenden, gut aussehenden Schneidermeister hätte sie liebend gern ihre Hand gegeben. Doch der Vater, in der Hoffnung, seine Kinder würden das Geschäft später einmal weiterführen, hatte ihn abgewiesen, weil er befürchtete, es käme dann zwischen ihr und Christoph zum Brotneid. Und auf drei weitere Anträge, die dem Vater wiederum recht waren, hatte sie nur lachend geantwortet, dass sie ja doch noch ein Kind sei, das kaum kochen und noch viel weniger einem Hauswesen vorstehen könne, weshalb sie aufs Heiraten nun wirklich noch keinerlei Gedanken verschwende.

Selbstverliebt drehte sie ihr Gesicht zur Seite und hauchte Christoph einen Kuss auf die Wange. Mit weiblicher List flötete sie: »Ach Christoph, was denkst du nur von deiner Schwester? Ich verstehe deine Worte nicht. Gott möge mich strafen, wenn auch nur eine Silbe deines Vorwurfes wahr ist.«

»Liebe Gesche, beruf dich doch nicht ständig auf den Herrgott. Hier glaubt dir ja ohnehin keiner mehr, dass er dich auf der Stelle für deine Sünden bestraft. Oder wie war das, als du damals deine französischen Übungsarbeiten von Diedrich, dem Tischlergesellen aus der Nachbarschaft, ausarbeiten ließest, obwohl der Vater für den Französischunterricht stolze 100 Taler bezahlte.« Christoph lockerte die Umarmung, drehte Gesche so, dass sie ihm geradewegs in die blauen Augen sehen musste, und umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen. Er überragte sie um eine Kopfeslänge. Sein Mund umspielte ein überlegenes Lächeln. Das Lächeln des heranwachsenden Mannes, der die schlummernde Frau in ihr wachrief. Die wohlgestalteten Gesichtszüge kamen ihr plötzlich erwachsener vor als sonst, und der süße Duft, der seinen Händen entströmte, verwirrte sie ein wenig. Für einen Augenblick bedauerte sie es, dass dieser so ganz andere Christoph ihr Bruder war. Eher käme er ihrer Vorstellung von einem Ehemann nahe. Aber solcherlei Gedanken waren sündiger Natur, und so senkte sie züchtig den Blick und holte sich schnell eines derjenigen Gebete ins Gedächtnis zurück, welches die Mutter die Kinder beim samstäglichen Wäschewechsel auswendig hersagen ließ, um Zucht und Schamhaftigkeit beständig in Erinnerung zu rufen.

Christoph bemerkte es amüsiert, zog die Hand der Schwester an seine Lippen und hauchte sanft einen Kuss darauf. Er verharrte einen Moment gedankenverloren und versenkte den Blick in das hübsche Mädchengesicht. Es bedrückte ihn auf einmal, dass er vorhatte, die Schwester zu verlassen. Aber seine nach Freiheit dürstende Seele hielt es in der kleinbürgerlichen Enge der Schneidermeisterei einfach nicht mehr aus. Die überschwängliche Liebe der Eltern erdrückte ihn ebenso wie deren sagenhafter Geiz.

»Ich habe mich bei den französischen Husaren einschreiben lassen«, sagte er leise, erleichtert, dass es nun heraus war.

Gesche erschrak. Weshalb, vermochte sie sich nicht zu erklären. Oft genug war sie eifersüchtig auf ihn gewesen und hatte ihn heimlich zum Teufel gewünscht, um in den Genuss der Aufmerksamkeiten zu kommen, die ihm von der Mutter mehr zuteilwurden als ihr. Jetzt aber brach es ihr beinahe das Herz, und sie rief zutiefst verwirrt: »Was willst du? Wissen es die Eltern schon?«

Gleichzeitig griff sie sich an die Stirn und täuschte eine beginnende Ohnmacht vor. Kraftlos und mit blassen Wangen stürzte sie in seine Arme und hauchte hilflos: »Oh, mon dieu, Christoph! Wie kannst du mir das antun?« Über die blauen Augen schien sich ein Schleier zu legen.

Es war nicht das erste Mal, dass Christoph sich von ihr täuschen ließ. Erschrocken über die drohende Ohnmacht, drückte er sie sanft zurück auf den Stuhl, hob ihre Füße an und schob eine Fußbank darunter. Dann griff er nach der Glaskaraffe auf der Fensterbank, um ihr die Stirn mit Wein zu benetzen. Doch Gesche erholte sich schnell wieder, schob ihn heftig zurück und wendete sich wieder den ungezählten Münzen zu. Während er noch mit dem Weinkrug in der Hand unschlüssig ihren geschickten Fingern zusah, die flink, als hätten sie nie etwas anderes getan, immer genau 13 Groten übereinanderstapelten, mimte sie die Beleidigte und strafte ihn mit ablehnendem Schweigen.

Als sie die errechnete Summe von exakt einem Taler mit etwas ungelenken Schriftzügen in das Buch eintrug, trat er von hinten an sie heran und legte ihr sanft die Hand auf die schmale Schulter. An deren leichtem Zucken spürte er, dass sie leise weinte. Gesche weinte oft. Er wusste, dass sie zu großen, beinahe theatralisch zu nennenden Gefühlen fähig war, und war sich wieder einmal nicht sicher, ob seine Schwester nicht im Grunde vielleicht doch ein weiches Herz hatte.

»Nimm es doch nicht so schwer, Gesche«, versuchte er ein paar tröstende Worte und küsste den schlanken blonden Nacken. »Was haben wir denn im Elternhaus bisher von unserem jungen Leben gehabt außer Arbeit? Im Grunde genommen taugen wir doch beide nicht für das Schneiderhandwerk. Du bist viel zu hübsch, um dir die Finger zu zerstechen und dein Augenlicht für die Liebe der Eltern zu opfern. Ich dagegen habe im letzten Jahr meiner Wanderschaft viel gesehen und für mich beschlossen, in die Welt hinauszuziehen. Napoleon wird die Welt erobern, und ich kann später von mir sagen, ich sei dabei gewesen. Dann habe ich die ganze große Welt kennengelernt und kehre als reicher Mann zurück.«

Gesche hatte ihm mit gesenktem Haupt zugehört. Nun tupfte sie sich mit einem Tuch eine Träne von der Wange und wandte ihm dann das Gesicht wieder zu. Die Augen, eben noch voller Traurigkeit, sprühten nun geradezu vor Begeisterung. So hätte ihn der Vater mal erleben müssen, dachte sie bei sich und staunte über das Leuchten in seinen Augen und die wie im Fieber geröteten Wangen. Die euphorischen, mit Leichtigkeit gewählten Worte sprachen auch ihre Sehnsüchte an. Nachdenklich besah sie sich den Groten in ihrer Hand. Spielerisch ließ sie ihn zwischen den Fingern hin und her gleiten. Christoph sprach eindeutig die Wahrheit. Wann hatte sie jemals, außer damals zur Konfirmation, ein Seidenkleid getragen? Wann hatte sie jemals die Freuden eines Balls genossen, abgesehen von den Annehmlichkeiten der kleinen Gesellschaft, die einmal jährlich das stille, ehrbare Elternhaus aufheiterte? Sie erinnerte sich dunkel an die kleine Feier, die zum Beginn der Gesellenarbeit stattfand und auf der sie bisher lediglich der traditionelle Kräuselbraten erfreut hatte. Beschämt sah sie an sich herab, herab am schmucklosen grauen Schultertuch und dem Rock aus dunklem Wollstoff. Dann wanderte ihr Blick mit einem Ausdruck unstillbarer Sehnsucht zum Fenster hin­aus in die Nacht. Und Christoph erriet ihre Gedanken.

»So ein Leben wie das des reichen Miltenberg würde dir gefallen, was, Schwesterchen?«, fragte er und öffnete dabei für sie das Fenster. Rasch zog er sie an seine Seite und legte den Arm um ihre Hüfte. Als er bemerkte, dass sie an der kalten Nachtluft fror, zog er rasch den Rock aus und legte ihn ihr um die fröstelnden Schultern. Dann musterte er nachdenklich die hell erleuchteten Fenster des herrschaftlichen Steinhauses gegenüber. »Genau aus diesem Grunde möchte ich die häusliche Enge hier verlassen, die mir solche Freuden ein Leben lang vorenthalten wird«, äußerte er verträumt. »Ich werde bald ein Mann sein, und da draußen liegt das ganze Leben vor mir wie ein einziges großes Abenteuer. Du, liebe Gesche, solltest deine Tugenden nutzen, so wie ich die meinen. Vielleicht gelingt es dir ja mit List und Schläue, deinen Weg mit goldenen Talern zu pflastern. Taler, die uns die Eltern vorenthalten. Mit deiner Schönheit und deinem guten Ruf bist du für die Freier da draußen wahrlich keine schlechte Partie. Der junge Miltenberg im Haus gegenüber ist wieder frei. Du solltest diese von Gott gegebene Chance ergreifen. Der wohlhabende Sattlersohn hat eine schlechte Ehe hinter sich und wird sich nach einer Frau wie dir alle zehn Finger lecken. Erinnerst du dich, wie er vor ein paar Jahren seiner ehrlosen Konkubine das Jawort vor unserem göttlichen Richter gegeben hat?«

Stolz darauf, sich vor der Schwester mit dem neuesten Klatsch brüsten zu können, fuhr er mit verschwörerischer Miene fort: »Nun stell dir vor, bereits kurz nach der Hochzeit soll es einen entsetzlichen Skandal um dieses Frauenzimmer gegeben haben! Angeblich soll sie deutlich älter gewesen sein, als man zunächst vorgab, und auch ihr sogenannter Brautschatz, mit dem sie überall prahlte, bezog sich auf lächerliche 1.000 Taler. Madame Miltenberg war damals schon 30 Jahre alt und im fortgeschrittenen Alter mit allen sinnlichen Lüsten bestens vertraut. Außerdem soll sie eine Trinkerin gewesen sein und von Eifersucht geradezu zerfressen. Die Zeitungen berichteten, dass ihre grenzenlose Unordnung seinen Geschäftsbetrieb und ebenso den väterlichen Haushalt völlig durcheinandergebracht hat. Veruntreuungen und andere sitt-

 

liche Verfehlungen sollen seitdem bei den Mägden und Knechten an der Tagesordnung sein. Der junge Miltenberg hat da-raufhin auf der Flucht vor seiner übermächtigen, ewig betrunkenen Gattin auf diversen zweifelhaften Vergnügungen sein Heil gesucht. Hast du denn nichts von dem Skandal in der Komödie gelesen, Schwesterchen?«

Gesche hielt den Kopf geneigt und hing erwartungsvoll an den Lippen des Bruders. Ihre Augen saugten sich förmlich an ihnen fest. Bisher hatten sie die Eltern von derartigen Ereignissen bewusst ferngehalten. Jetzt bewunderte sie das Weltmännische ihres sonst so menschenscheuen Bruders zutiefst. Der grinste selbstbewusst. »Stell dir vor, das Weib ist ihm in seiner Trunkenheit gar in die Komödie gefolgt und hat ihn dort vor allen Freunden bloßgestellt, indem sie sich zunächst bewusstlos soff und ihn und sich dann vor der feinen Gesellschaft auch noch verunreinigte. Na ja, der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht! Jedenfalls hat sich das Weib beim Saufen die Schwindsucht geholt und ihren Mann nach fünf Jahren Ehehölle endlich für immer verlassen.«

Versteckte Schadenfreude umspielte Gesches Mundwinkel. »Dann wäre ja der Weg für mich frei! Wie sehr wird es einen Witwer wohl entzücken, nach Jahren der Hölle nun in den Himmel aufzusteigen?«, antwortete sie belustigt.

Die ungewohnte Wandlungsfähigkeit ihres Wesens, eben noch todtraurig und nun wieder heiter und fröhlich, bestätigten Christophs Vermutungen: Unter der schönen Oberfläche war Gesche klug und listig.

»Bist du denn dem Herrn Gerhard Miltenberg schon einmal begegnet?« Aufmerksam versuchte er, die Antwort auf diese Frage mit ein wenig geschwisterlicher Eifersucht in ihren Augen zu lesen. Doch Gesche antwortete verschämt: »Was denkst du denn von mir, Bruderherz? Würde ein so reicher Mann wohl ausgerechnet mich, die unbedeutende Tochter eines einfachen Schneiders, je beachten, wo er doch jederzeit eine deutlich bessere Partie bekommen kann?«

»Vielleicht hilft ja der Herrgott in dieser Sache ein wenig nach. Mir ist nämlich zu Ohren gekommen, dass der junge Herr Miltenberg beim Vater ein prachtvolles Damenkleid in Auftrag gegeben hat. Ein aufwendiges Seidenkleid mit einem tiefen Ausschnitt, edler Spitze und mit reichem Zierrat. Man munkelt, er habe dich auf dem Korporalsball heimlich be-obachtet.«

»Du glaubst doch nicht etwa …?« Angesichts seiner Worte merkte Gesche, wie sie mit einem Mal feuerrot im Gesicht wurde.

»… dass du den Miltenberg mit deinem Liebreiz tief beeindruckt hast. Jawohl, genau das glaube ich, mein Schwesterherz.«

»Er hat sich mir noch gar nicht vorgestellt. Ist er denn ein hübscher Mann?«

Gesche hörte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Sehnsüchtig dachte sie zurück an die einzige rauschende Festlichkeit ihres Lebens, zu der sie den Vater erstmals begleiten durfte. Das Gelage hatte in einem öffentlichen Wirtshaus stattgefunden und ganze drei Tage gedauert.

»Gesche! Vor allem ist er zunächst einmal der reichste Witwer unserer Straße. Und dass er sich dir nicht persönlich vorgestellt hat, lag an der strengen Aufsicht von Mutter und Vater. Außerdem hast du ja selbst alle Tänzer abgewiesen und nur mit der Marie getanzt.«

Gesche nickte und dachte an ihren unbescholtenen Ruf, den sie unbedingt mit in eine für sie lohnenswerte Ehe nehmen wollte. Gleichzeitig aber träumte sie wachen Auges von rauschenden Empfängen, schönen Kleidern und wohlhabenden Freiern. Mitten in ihre Gedanken hinein fuhr plötzlich die jähe Erinnerung an einen schmerzlichen Verlust: eine schwärmerische Mädchenliebe, die seinerzeit ihren Anfang in ›Marks Plantage‹, einem Vergnügungshort der Vorstadt, nahm. Unter den vielen Herren, die ihr hier beim Lustwandeln bewundernde Blicke schenkten, war ihr damals ziemlich rasch ein besonders fescher Offizier aufgefallen. Viktor mit Namen. Marie, die treue Seele, holte rasch Erkundigungen über den Korporal ein, was ihn wiederum veranlasste, sich Gesche bald da-

rauf mit einer artigen Unterhaltung zu nähern.

Viktor hatte ihr ungemein gut gefallen. Groß, schneidig, mit zigeunerhaft dunklem Haar und von einer charmanten Beredtheit, die ihr bei jeder Begegnung das Blut in die Wangen trieb. Schnell begannen sich ihre Wege immer dann zu kreuzen, wenn sie sich auf dem Heimweg von der Freundin befand. Der schneidige Offizier war kein Freund großer Worte. Schon beim zweiten Zusammentreffen hakte er sich keck bei ihr unter und überschüttete sie geradezu mit Liebesbezeugungen. So war es nur allzu verständlich, dass die Sehnsucht, sich den Verführungskünsten des jungen Verehrers gänzlich hinzugeben, umso stärker in ihr wuchs, je öfter er von einer ehelichen Verbindung zu ihr sprach. Ihre keusche Seele flog ihm entgegen, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihr Viktor neben seiner Schönheit und Galanterie auch über ein nennenswertes Vermögen verfüge, damit ihr Vater vielleicht doch noch die Verbindung mit einem Offizier zulasse. Als sie Marie davon erzählte und sie in ihrer Not um Rat bat, hätte sie sich deshalb um ein Haar mit der Freundin zerstritten. Denn Marie, die hinter Viktors eifrigem Werben nichts Gutes argwöhnte, begann heimlich, nähere Informationen über ihn einzuholen. Dabei förderte sie die Erkenntnis zutage, dass der leichtsinnige Herr Offizier so gut wie jedem hübschen Mädchen der Stadt nachstellte. Daraufhin musste Gesche der Freundin versprechen, Viktor niemals wiederzusehen. Doch das Gefühl, dem Geliebten mit einem neuen Mädchen im Arm in der Stadt zu begegnen, schmerzte noch lange Zeit danach.

Christoph schloss leise das Fenster und überließ Gesche ihren Erinnerungen. Sein feiner Instinkt verriet ihm, dass nun der Augenblick gekommen war, die Schwester für immer zu verlassen. Sanft, mit Wehmut im Herzen, küsste er sie ein letztes Mal auf den Nacken. Dann zog er geräuschlos die Tür hinter sich zu.

Etwa zur gleichen Stunde saß Stadtsyndikus Wolfgang von Post an seinem Schreibtisch und blätterte in den Akten, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein Sattlergeselle der Miltenbergs mit verschwitztem Gesicht und zerzausten Haaren im Rahmen stand. Ohne einen Gruß auf den Lippen rief er aufgeregt: »Herr von Post! Eilen Sie bitte. Sie müssen das Schlimmste verhindern. Der alte Herr Miltenberg will seinen Sohn töten!«

Da Wolfgang von Post solche täglichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Miltenbergs kannte und es seit dem Tod der Ehefrau des jüngeren sowieso recht turbulent im Haus des Freundes zuging, ordnete er zunächst Schreibkiel und Akten, bevor er in die graue Robe schlüpfte, den Zylinder auf das gepuderte Haar stülpte, um dann mit einem schwarzen Lederkoffer in der Hand dem Gesellen zu folgen.

Angelangt im Miltenberg’schen Hause, nahm er mit drei Sätzen die Stufen zur Freitreppe, als ihn von oben ohrenbetäubendes Geschrei empfing. Rasch riss er die Tür zum Wohnzimmer auf und erfasste mit einem einzigen Blick die Situation vor sich. In dem prunkvoll ausgestatteten Herrenzimmer, auf dem Perserteppich, der mit seinem dichten Flor jedes Geräusch schluckte, standen sich die zwei Kampfhähne mit hochroten Gesichtern gegenüber. Der Jüngere, in einem dunkelblauen, zweireihig geknöpften Anzug, zerschlissenem Ärmel und einer blutbespritzten Hose, hielt sich den Älteren mit dem Degen vom Leib, wobei er aufgebracht schrie: »Ich werde dich töten, Vater. Jetzt, auf der Stelle. Dann hat das Leid endlich ein Ende!«

Der alte Miltenberg, eingeschnürt in eine auffällig gelbgrün gestreifte Weste, in langer heller Hose und Schuhen, dessen Gamaschen Blutstropfen zierten, wehrte sich mit einem eisernen Feuerhaken. Um seine Füße wickelte sich ein verschmutzter ärmelloser Mantel.

Von Post sah, dass er stolperte und unweigerlich in die Degenspitze fallen musste. Mit den Worten: »Aber meine Herren, das kann man doch anders regeln«, warf er sich flugs zwischen die Streitenden. Während er den jungen Miltenberg an den Schultern zurückhielt, überschrie der Alte den Sohn: »Versuche nur weiter, die Hand gegen deinen Vater zu erheben! Ich habe längst beschlossen, Haus und Habe zu verkaufen und dir nicht mehr als fünf Taler zu vermachen. Du Hurenbock!«

Der Stadtsyndikus gab dem Gesellen ein Zeichen, der da-raufhin am alten Miltenberg Hand anlegte, bis dessen Jähzorn etwas verraucht war. Von Post vermutete, dass die beiden Miltenbergs vor Kurzem noch außer Haus gewesen waren. Der Sohn, sicher gerade aus irgendeinem dieser anrüchigen Frauenhäuser gekommen, war wahrscheinlich in dem Moment auf den Vater getroffen, als der wieder versucht hatte, den drohenden Vermögensverfall zu retten. Danach war der alte Miltenberg auf den Sohn nie gut zu sprechen.

»Meine Herren, ich beschwöre Sie, es gibt nichts auf der Welt, was ein Verbrechen wie dieses rechtfertigen würde. Denken Sie nur an die Bibel, an Kain und Abel. Oder wollen Sie Ihr Leben für alle Ewigkeiten im Zuchthaus verbringen?«

Heinrich Miltenberg keuchte noch einen Moment und schleuderte dann seinem Sohn einen wütenden Blick zu. Dann hob er den verschmutzten Mantel vom Boden auf und begab sich steifbeinig zu seinem Sekretär, einem Glanzstück von Rieseners französischer Schreinerarbeit. Noch immer sichtlich erregt, entnahm er mit zitternden Fingern einer der Schubladen mehrere verschiedene Schuldscheine und warf sie mit einer wütenden Handbewegung auf den Tisch.

»Hier, mein Sohn, alles neue Schuldverschreibungen«, sagte er mit seltsam ruhiger Stimme. »Das Kasino, die Komödie, falsche Spekulationen. Ganz zu schweigen von deinen sinnlichen Begierden. Hierfür hast du kürzlich sogar einen unserer vier Höfe verwettet. Und was uns in den Ruin treibt, Herr von Post«, wandte er sich an den Advokaten, »dieses vermaledeite alte Weib erdreistet sich und verlangt für die missratene …«, hier bekreuzigte er sich rasch, »schwindsüchtig verstorbene Tochter die 1.000 Reichstaler Mitgift sofort zurück.«

Fast ein wenig hilflos fuhr er sich mit der Hand durch das bei dem Kampf in Unordnung geratene Haar. Dabei ruhte sein Blick auf dem Advokaten, als erwarte er von ihm eine schnelle Lösung. »Ich war gezwungen, dem Senator Schmidt bereits zwei meiner wertvollen Ölgemälde zu verkaufen. Wenn mein missratener Sohn nicht bald heiratet und diesmal eine vernünftige eheliche Verbindung anstrebt, die uns allen von Nutzen ist, dann ist mein finanzieller Ruin nicht mehr zu verhindern.«

Von Post kratzte sich nachdenklich am Backenbart. »Sie wollten der Unglücklichen keine Kost und Logis mehr gewähren, und Euer Sohn Gerhard hat sie leider mit einem unrühmlichen Fußtritt aus dem Haus gejagt. Das hat die Unglückliche, welche doch die selige Schwiegermutter war, stark gegen Sie erzürnt. Obwohl sie recht brav über Sie, den Vater, geredet hat. Ich habe mich der Tränen der Unglücklichen angenommen und mir erlaubt, die Reichstaler ganz in Ihrem Sinne zu retten. Sie brauchen also nichts mehr zu befürchten. Was erzürnt Sie dann so sehr, dass Sie Ihren Sohn töten wollten?«

Vom Reden durstig geworden, schritt Herr von Post rasch zur Vitrine im Ostteil des Salons und öffnete die Kristalltür, hinter der er eine Karaffe mit dunklem Wein entdeckt hatte. Seitdem Gerhard Miltenberg einst seine Wohnung tapeziert hatte, ging er wie ein guter Freund im Miltenberg’schen Hause ein und aus. Deshalb kannte er die Gepflogenheiten in der Wohnung. Rasch stellte er drei Gläser auf den Tisch und schenkte ein. »Ein guter Jahrgang«, lobte er Miltenberg nach einem kräftigen Schluck und prostete dem Alten zu.

Heinrich Miltenberg, ein wenig lädiert von der Auseinandersetzung mit dem Sohn, hatte sich in der Mitte des Salons am Esstisch auf einem Stuhl niedergelassen. Die Arme auf die Lehne gestützt, schielte er grimmig auf den Sohn, der, die Beine in den langen Stiefeln weit von sich gestreckt, am Weinglas nippte und entspannt im Lehnsessel fläzte.

»Für diesen hochachtungsvollen Dienst, Wolfgang, danke ich Ihnen von Herzen. Sie sind ein wahrer Freund, und manchmal wüsste ich nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte. Ach, wäre mein Sohn nur halb so gütig und schlau wie Sie, dann könnte ich mich an ihm erfreuen und ihn lieben, wie man einen Sohn liebt. Nicht nur, dass er seine Wanderschaft in Braunschweig abgebrochen hat und von dort dieses liederliche Frauenzimmer in unser Haus mitgebracht hat, jetzt säuft und hurt er genauso wie sie umher und schert sich einen Dreck um die Zukunft unseres Hauses. Seine Mutter, Gott habe sie selig, hat ihm ein Vermögen hinterlassen, dass er nun in Windeseile im Müßiggang verjubelt. Sehen Sie mich doch an, Wolfgang. Bald ist meine Zeit vorbei, und ich bedarf alsbald der Pflege. Aber bevor er unser gesamtes Vermögen bei Saufgelagen in Häusern der niedrigsten Verworfenheit verprasst, enterbe ich ihn zu Lebzeiten und ziehe auf meinen Landsitz.«

 

»Urteilen Sie nicht so hart, mein Freund«, versuchte von Post Heinrich Miltenberg zu beschwichtigen, nachdem der Alkohol für eine angenehmere Atmosphäre sorgte, die nun fast in eine heitere Stimmung umschlug. Denn nun meldete sich Gerhard zu Wort. Dabei blieb er zunächst in seiner entspannten Haltung sitzen und prüfte mit kritischem Blick sein Glas. Irgendwie verstand von Post die Frauen, die sich scharenweise von ihm aushalten ließen. Nicht zum ersten Mal war er ihm in anrüchigen Spelunken begegnet, halb nackt, mit mehreren Weibern gleichzeitig im Arm. Gerhard Miltenberg war nicht unansehnlich. Der Wein, der nun die blassen Wangen mit einer leichten Röte überzog, verstärkte diesen Eindruck zusätzlich. Doch der ausschweifende Lebenswandel des Mannes hinterließ bereits seine ersten Spuren. Das helle Haar bereits schütter, nach neuster Mode dicht an den Kopf gelegt und nach vorn gekämmt, verlieh dem schmalen Gesicht mit den braunen Augen und der ewigen, unstillbaren Sehnsucht darin eine gewisse Verwegenheit. Aber seine Züge waren verweichlicht und wirkten verschwommen. Hinzu kam, dass Gerhard Miltenberg um die Taille herum zur Fülle neigte.

»Was träumen Sie, Herr Magister?«, bemerkte der junge Mann schmunzelnd. »Trauen Sie mir nicht zu, dass ich eine Ehefrau für mich finde?«

Lauernd erhob er sich. Er trat an den Tisch heran und forderte von Post auf, ihm das Glas zu füllen. Groß gewachsen, mit dem Glas in der Hand, stand er vor ihm. Den Vater neben sich ignorierte er, als ob er gar nicht anwesend wäre. »Aber ich will keine Ehefrau. Ich kann jedes Weib haben. So ein faules, fettes Luder will ich mir nicht noch einmal in mein Haus holen. Ich habe Freudensprünge getan, als der Herrgott mich endlich von diesem Ehedrachen erlöste. Auch wenn der Herrgott mich dafür bestrafen wird. Denn seitdem lebe ich in der Furcht, mein Weib könnte als Leiche wiederauferstehen und mir das Leben erneut zur Hölle machen. Aber dieser verbohrte alte Herr«, er wies mit dem Finger anklagend auf den Vater, »erdreistet sich und will mich mit aller Macht zu einer neuen Heirat zwingen.«

»Und wie ich dich zwingen werde, du Säufer!« Heinrich Miltenberg war bei den letzten Worten aufgesprungen und machte Anstalten, sich erneut auf den Sohn zu stürzen. Doch von Post war schneller. Er hatte dem jungen Miltenberg ruhig zugehört und dirigierte ihn nun mit den Worten »Um was für eine interessante Ehe handelt es sich denn, um die hier so eifrig gestritten wird?« sanft auf den Stuhl zurück. Sein Interesse an den Neuigkeiten bewirkte, dass sich die beiden Miltenbergs gemeinsam an den Tisch setzten und Heinrich sogleich begeistert loslegte: »Es ist die Jungfer Timm, die mir in Gedanken vorschwebt. Sie ist schön und tugendhaft, und ihr geht der beste Leumund voraus. Außerdem soll sie sehr arbeitsam und in vielen Künsten bewandert sein. Sie wäre die rechte Ehefrau, um die gräuliche Unordnung in unserem Hauswesen wieder zu ordnen. Zumal mein liederlicher Sohn der Jungfer schon begegnet ist und sie ihm sehr gefallen hat.«

»Übertreibe nicht, Vater«, fiel ihm Gerhard ins Wort. Doch von Post sah sehr wohl, dass dem Sohn diese Verbindung nicht missfallen würde.

»Sie müssen verstehen, Herr Magister«, redete der Vater weiter, »dass ich mich schäme, für meinen Sohn als Brautwerber aufzutreten.«

»Ich würde mich dem Mädchen schon gern vorstellen, aber wie? Auf dem Korporalsball ist sie mir angenehm aufgefallen. Aber es war kein Herankommen. Die Schöne wurde von ihrer Familie bewacht wie ein seltenes Kleinod. Sie tanzte nicht einmal, obwohl es viele Männer gab, die das Glück gern gehabt hätten. Stattdessen drehte sie sich immerfort nur mit Marie im Kreise, der einzigen Tochter des Klavierlehrers.«

»Die beiden Familien sind miteinander befreundet. Ich kenne das Mädchen«, ergänzte von Post den jungen Miltenberg. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, meine Herren. Wie wäre es, wenn ich in Gerhards Namen als Freiwerber bei dem Schneidermeister Timm vorspreche, damit das mörderische Streiten endlich ein Ende hat und wieder Frieden in dieses schöne Haus einzieht. Ich schließe mich da ganz Ihrer Meinung an und finde auch, dass die liebliche Gesche Timm der Retter für das Miltenberg’sche Hauswesen ist. Ihr Vater ist ein einfacher Schneidermeister. Er gilt als arm, aber nicht unbedingt als gänzlich unvermögend. Allerdings würde ich Ihnen, Gerhard, raten, die Jungfer näher kennenzulernen. Denn nichts gedeiht ohne Liebe. Vielleicht mag Sie die Jungfer ja gar nicht und weist Ihr Werben zurück.«

»Das Mädchen wird doch nicht so dumm sein, ein Vermögen auszuschlagen.« Heinrich Miltenberg vermochte sich nicht vorzustellen, dass irgendjemand die Armut dem Reichtum vorziehen könnte.

»Eben sagten Sie noch, dass der finanzielle Ruin näher rücke?«, grinste von Post und winkte Gerhard heran. Wie Verschwörer steckten sie nun die Köpfe zusammen. »Ich würde vorschlagen, dass Sie das Kleid, welches Ihre verstorbene Ehefrau einst bei dem Schneidermeister Timm hat anfertigen lassen, der Jungfer Timm verehren und sie gleichzeitig mit zwei Theaterkarten beglücken. Dort sollte es Ihnen nicht schwerfallen, mit der schönen Gesche ein Gespräch über die Kunst und das Theater zu beginnen«, riet er dem Sohn und fasste ihn scharf ins Auge. »Danach bleibt Ihnen noch eine ganze Woche Zeit, um ihre Gunst zu buhlen, was Euch Schwerenöter ja nicht schwerfallen dürfte. Ich werde mich dann am kommenden Sonntag, Anfang Februar, als Freiwerber bei dem Schneidermeister Timm vorstellen.« Rasch streckte er die Hand aus und sagte abschließend: »Ihre Hand darauf, meine Herren. Machen wir eine Wette, dass schon im nächsten Monat März die jungen Leute vor dem Traualtar stehen werden.«

Die eben noch miteinander verfeindeten Herren Miltenberg erinnerten sich plötzlich wieder, dass sie Vater und Sohn waren. Ihre Gesichter glühten, und beide lobten ziemlich redselig die Vorzüge der schönen Gesche. Nachdem sie in die Hand des Magisters einschlugen, umarmten sie sich unter Tränen in nie gekannter Einigkeit, bis von Post, um nicht zu stören, sich leise auf Zehenspitzen rücklings mit einem verschmitzten Lächeln aus dem Zimmer schlich.

Mit klopfendem Herzen, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, schritt Gesche die breiten, mit Teppichen ausgelegten Stufen zu den Rängen hinauf. Die kleinen Füße versanken in dem weichen dunkelroten Flor und vermischten sich im Licht der Foyerbeleuchtung mit dem Rot ihrer Wangen, während ihre Augen neugierig die festlichen Roben der Besucher betrachteten. Dabei senkte sie bei jedem bewundernden Blick der anwesenden Herren verlegen die Lider. Insgeheim jedoch genoss sie die Aufmerksamkeit, die ihr, je näher sie dem Saal kam, zuteilwurde.

»Ich bin so aufgeregt«, flüsterte sie der Freundin zu, die beruhigend ihre Hand drückte.