Za darmo

Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt

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3. Kapitel

Als Jodie die Küche betrat, rührte die Mutter geschäftig mit einem Stock im Kessel, der über der Feuerstelle hing. Einige Hemden des Vaters kochten darin. Über den Stuhllehnen hingen erlesene Mäntel mit Pelzfütterung, darauf Hüte mit Pfauenfedern. Neben den Sesselbeinen lagen Schuhe mit Perlenverzierung. Sir Menteiths und Comyns Sachen. Die beiden waren in einen heftigen Schneefall geraten und patschnass auf ihrer Burg angekommen. Sofort hatten sie sich von den Überkleidern befreit und sich danach das Hasenfleisch schmecken lassen.

„Kannst du den Würzwein hinüberbringen, Jodie?“ Die Mutter legte den Stock ab und hielt ihr in der nächsten Sekunde den Tonkrug mit dem gebrochenen Schnabel entgegen.

„Wo ist Muriel?“ Sie hatte keine Lust, ihren Vater zu sehen.

„Draußen. Ich habe sie Mary entgegengeschickt. Keine Ahnung, wo unsere Köchin so lange bleibt. Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Und nun geh, die Männer warten.“

„Kannst du das nicht machen?“

„Ich bin beschäftigt.“

„Bitte, Mutter!“

„Du wirst deinem Vater nicht ewig ausweichen können.“

„Aber bisher habt ihr mich meistens auf mein Zimmer geschickt, wenn Besuch da war.“

„Ja, weil wir genug Personal hatten“, erklärte sie trocken. „Also mach schon.“

Verstimmt verließ Jodie mit dem Gefäß in der Hand die Küche. Während sie durch das Gewölbe ging, erblickte sie eine Spinne an der Wand und beschleunigte ihre Schritte. Kurz darauf öffnete sie die Stubentür. Das Gespräch verstummte sofort.

John Comyn III. - Herr von Badenoch - schenkte ihr ein Lächeln. Ein kräftig gebauter junger Mann mit schulterlangem rotgelocktem Haar, olivgrünen Augen, widerspenstigen Wimpern, einem wilden Bartwuchs und hohen Wangenknochen.

„Wie schön Euch wiederzusehen“, begrüßte er Jodie, wobei er sich über den Bart strich.

„Ganz meinerseits, Sir Comyn.“ Sie hatten sich nur einmal vor zwei Jahren kurz gesehen.

„Du kannst einschenken“, forderte der Vater.

„Deine Tochter wird immer hübscher“, lobte Sir Menteith, Burgherr von Dumbarton Castle, und beobachtete sie beim Einschenken. Dann hoben die Männer ihre gefüllten Becher und prosteten sich zu. Dabei zwinkerte Sir Menteith ihr zu. Er war der engste Freund ihres Vaters. Ein gemütlicher Mann mit korpulenter Statur, einem stets freundlichen Ausdruck im wettergegerbten Gesicht und braunen Augen. „Du musst mir dein Geheimnis verraten, Alan.“ Menteith stellte den Becher auf den Tisch und wischte sich mit dem Ärmel über den breiten Mund. „Wie kommt es, dass sich bisher kein Junggeselle Jodie geschnappt hat? Sie ist das Ebenbild ihrer Mutter und du hast damals keine Zeit verloren, wie wir alle wissen. Herrgott, was bist du verliebt gewesen.“

Jodies Vater starrte auf den Weinbecher. „Noch habe ich nicht den Richtigen für Jodie gefunden.“

„Kannst wohl nicht loslassen, was?“ Menteith lachte amüsiert auf.

„Zuerst werde ich mich nach einer Ehefrau umsehen“, ließ John verlauten. Wie eh war er wie aus dem Ei gepellt. Jede Strähne saß am vorgesehenen Platz, wenn nicht jedes einzelne Haar. Inzwischen brauchte er länger als jede Frau, um sich herauszuputzen und badete fast jede Woche. „Immerhin bin ich zwei Jahre älter als Jodie.“

„Tja, ein Schönling wie du wird sich nicht schwertun“, veralberte ihn Comyn. „Gemeißelt wie aus Gottes Hand. Du brauchst tatsächlich eine Frau, die dich auf den Boden der Tatsachen zurückholt.“ Johns Eitelkeit schien bereits Kreise gezogen zu haben. „Aber ein Mann muss nicht schön sein, sondern gut kämpfen können.“

„Mir wurde beides in die Wiege gelegt“, tat John großspurig.

„Reden wir noch von dir oder eher von William?“ Comyn und Menteith lachten schallend. John wurde feuerrot im Gesicht und sah längst nicht mehr so selbstsicher aus. Umso mehr tat er Jodie leid, weil er jemanden darstellen wollte, der er nicht war. Nie sein würde. Denn von einem Mann wurde erwartet, dass er sich wie ein Mann benahm. Etwas, das gegen Johns Natur war.

Plötzlich war ein verschleimtes Räuspern zu hören. Menteith begann zu husten. Comyns Lachen ebbte ab. Hastig holte Menteith ein Mundtuch aus der Jackentasche und spuckte hinein.

„Stell den Krug hin, wir bedienen uns selbst.“ Ihr Vater trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch. „Wir haben einiges zu besprechen. Allein.“

Rasch platzierte Jodie den Krug in die Mitte, huschte hinaus und schnappte sich die Laterne vom Rosenholztischchen im Foyer. Sie hatte keine Lust, wieder in die Küche zu gehen und eilte über die Treppe hinauf.

In ihrem Zimmer stellte sie die Laterne auf den Fenstersims, holte ihr braunes Schatzkästchen unter dem Bett hervor und sank auf die Tagesdecke. Nachdem sie den mit Schnitzereien verzierten Deckel beiseitegelegt hatte, stellte sie die Schatulle auf ihren Schoß. Wenige bescheidene Dinge bewahrte Jodie darin auf, aber für sie waren sie unbezahlbar. Sogar der kaputte Knopf, den sie von John bekommen hatte. Daneben lag der schlichte Goldreif mit einem jadegrünen Glasstein. Die Mutter hatte ihr das Schmuckstück geschenkt, als sie zehn Jahre alt gewesen war. Der Stein hat beinahe die Farbe deiner Augen, hatte sie damals gesagt.

Zärtlich berührte Jodie den Zopf, geflochten aus dem Haar der Mutter und ihrem eigenen … und da war Molly. Das Holz war aufgeraut, das gemalte Gesicht kaum mehr zu sehen, weil unzählige Tränen darauf getropft waren. Aufgewühlt küsste sie Molly, drückte sie dann an ihre Brust und lächelte unter Tränen, weil sie Malcolm lachend vor sich sah. Komm schon, Lowland, sei kein Mädchen!

Aufseufzend griff sie mit der anderen Hand zu Williams Stein. Er hatte ihn angeblich vom ´Old Man of Stoerˋ herausgebrochen. Mit leuchtenden Augen hatte er davon erzählt. Davon, und von so vielem mehr. Dass er im warmen Sand gesessen und auf die See hinausgeblickt habe. Eissturmvögel und Skuas, die Low- und Highlands oder zerklüftete indigoblaue Felsen, die sich in den Lochs widergespiegelt hatten. Mit einem endlosen purpurfarbenen Himmel über sich. Fjorde und Seen, satte grüne Täler und Steppen mit Weidenröschen - durch Williams Erzählungen erwachte Schottland für sie zum Leben. Es gibt kein schöneres Land als unseres. Sogar der schottische Wind ist anders, hatte er oft behauptet, kraftstrotzend und erfüllt vom Duft der Freiheit, als würde ihn der Atem jedes einzelnen Schotten entfachen, der über die verdammten Engländer seufzt. Darüber hatte sie oft gelacht, aber insgeheim beneidete sie William um die vielen Bilder in seinem Herzen und um seinen Glauben an dieses Land, das sie nur vom Hörensagen kannte.

Jodie schaute wieder auf den Sandstein. Ganz fest umschloss sie ihn und Molly.

„Das lasse ich nicht zu!“, hörte Jodie plötzlich ihre Mutter bis in ihr Zimmer herauf. „Was bist du bloß für ein Vater?“ Schnell legte sie Stein und Holzfigur in die Schatulle, die sie an ihren Platz zurückschob. Dann eilte sie zur Tür und schlich sich auf Zehenspitzen in den Gang hinaus. „Du wirst sie nicht unter einem fadenscheinigen Vorwand in ihr Verderben schicken, Alan. Niemals!“

„Beruhigt Euch.“ Das war Menteith.

„Ich werde mich erst beruhigen, wenn Alan diesen haarsträubenden Plan verwirft.“

Nur noch wenige Schritte bis zur Treppe!

„William hat mir vorgehalten, dass mir nichts an Schottland liegt.“ Wie zornig der Vater klang. „Jetzt kann ich beweisen, dass dem nicht so ist.“

„Auf Kosten unserer Tochter? Hör doch auf, dir und mir etwas vorzumachen. Wir wissen beide, worum es in Wirklichkeit geht!“

Hinter der Rüstung am Treppenabsatz versteckte sich Jodie und lugte hinunter.

„Wovor habt Ihr solche Angst?“, mischte sich Comyn ein.

„Mutterliebe“, erklärte der Vater halbherzig.

„Tatsächlich? Da steckt doch mehr dahinter, Alan.“ Nun klang Menteith besorgt.

„Du fällst mir aber jetzt nicht in den Rücken, oder?“

„Schau dir Margarete an. Sie hat eine Heidenangst“, fuhr Menteith unbeirrt fort.

„Könntet ihr uns einen Augenblick alleinlassen?“, bat der Vater. Menteith und Comyn nickten, bevor sie davongingen. Laut hallten ihre Schritte durch die Eingangshalle, dann hörte man das Schließen einer Tür. „Gütiger Himmel, wir haben Gäste“, erboste sich der Vater mit zischender Stimme. „Willst du mich lächerlich machen?“

„Habe ich das nicht längst getan?“

„Ich bin nicht in der Verfassung für eine Diskussion.“

„Keine Angst, du bist der Letzte, mit dem ich mich im Augenblick auseinandersetzen möchte. Aber nur damit du es weißt: Ich wollte Jodie heute alles erzählen. Leider bist du dazwischengekommen.“

„Worüber du froh sein solltest. Sie liebt dich. Willst du das aufs Spiel setzen?“

„Mein Gott, Alan, wie lange willst du noch die Augen verschließen? Bis du uns einen nach den anderen verloren hast?“ Der Vater blieb stumm. „Wir hatten unendlich viel“, sagte sie so leise, dass Jodie sie kaum verstehen konnte, „doch jetzt haben wir weniger als gar nichts. Und das bloß, weil du zu feige bist für die Wahrheit. Zu feige, um sie laut auszusprechen statt sich ihr zu stellen. Nicht er hat unser Leben zerstört, du selbst hast es getan und zugelassen, dass er sein Ziel erreicht hat. Davon abgesehen vertraue ich darauf, dass mich meine Tochter nicht weniger lieben wird, sobald sie alles erfahren hat.“ Die Mutter machte auf dem Absatz kehrt. Jodie trat hinter ihrem Versteck hervor und schaute ihr mitleidig hinterher. Bis sie den Blick des Vaters auffing.

„Wie es aussieht, hatte Mutter einen guten Grund zu schweigen“, ergriff Jodie Partei für sie und es kostete sie Mühe, ruhig zu bleiben. „Willst du mir immer noch weismachen, dass da nichts ist?“

 

„Es gibt Wichtigeres. Komm in die Stube. Menteith, Comyn und ich haben etwas mit dir zu besprechen.“ Seine Stimme duldete keinen Widerspruch und doch hörte sie Unsicherheit heraus.

Kurz danach saß Jodie wie eine Angeklagte vor den Männern. Sechs Augenpaare fixierten sie wie ein Mysterium. Unbehagliches Schweigen lag in der Luft.

„Jodie“, begann Menteith mit gewichtiger Miene zu sprechen, „Schottland braucht dich.“

„Mich?“ Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Was sollte ausgerechnet sie für ihr Heimatland tun können? Außerdem war sie nach wie vor aufgewühlt von den Ereignissen und hatte eine Mordswut im Bauch.

„Ja, Euch.“ Comyn wechselte einen schnellen Blick mit ihrem Vater. „Ihr habt bestimmt von meinem Cousin Robert the Bruce - dem Earl of Carrick - gehört.“

„Ein Gegner Balliols, aber treuer Freund Schottlands.“ Das wusste sie von Muriel.

„Nun, du bist nicht ganz auf dem Laufenden.“ Menteiths Hände rasteten gemütlich auf seinem Bauch, in dem es rumorte. „Wir wissen seit längerem, dass Bruce mit König Edward sympathisiert. Während Comyn unseren König unterstützt, möchte Bruce ihm lieber heute als morgen die Krone abjagen. Um das zu erreichen macht er gemeinsame Sache mit Longshanks.“

„Was hat der englische König mit unserer Krone zu tun?“

Menteiths mildtätiges Lächeln wirkte, als würde er annehmen, dass sie außerstande wäre eins und eins zusammenzuzählen. Aber Jodie verkniff sich jegliche Äußerung. „König Edward hat es auf unser Land abgesehen“, erklärte er mit ernst gewordener Miene. „Der Idiot glaubt tatsächlich, das würde niemand durchschauen. Noch herrscht Waffenstillstand zwischen ihm und Balliol, doch es ist nur eine Frage der Zeit, wann der Krieg ausbricht. Unser König ist nicht länger willens, vor England zu kuschen. Edward hat nämlich vor, Schottland unter die englische Krone zu stellen.“

„Warum erzählt Ihr mir das, Sir Menteith?“

„Weil du mit uns gemeinsam für die gute Sache kämpfen kannst, Jodie“, antwortete der Vater an dessen Stelle. „Zu diesem Zweck wirst du in einigen Tagen abreisen.“

Jodie starrte durch ihn hindurch. Ihr Herz hämmerte gegen die Brust. „Wohin?“

„Nach Angus.“ Sie hatte keine Ahnung, wo das war und wollte nachfragen, doch der Vater machte eine herrische Handbewegung. „Das ist keine Bitte.“

„Dann hoffe ich“, entgegnete Jodie und hörte das Zittern in ihrer Stimme, „dass es die letzte Entscheidung ist, die du für mich getroffen hast. Andererseits kannst du es vermutlich kaum erwarten mich loszuwerden.“ Ein verblüffter Ausdruck huschte über Menteiths Gesicht. Comyn zog die rechte Augenbraue hoch, ihr Vater wirkte betroffen. Eigentlich hatte sie genau das erreichen wollen, aber die Schadenfreude blieb aus. Im Gegenteil, sie fühlte sich unendlich leer und hatte große Angst vor dem Ungewissen.

„Wie es aussieht, liegt einiges im Argen bei euch“, stellte Menteith fest.

„Das kommt in den besten Familien vor“, wiegelte der Vater ab.

„Wie auch immer“, Comyn zupfte an seinem Bart herum, „Ihr werdet nach Glamis Castle aufbrechen, Jodie. Genauer gesagt schicken wir Euch zu Robert the Bruce.“

„Zu Bruce?“, entfuhr es ihr. „Was soll ich ausgerechnet bei Bruce?“

„Ganz einfach“, ihr Vater fuhr sich über die Stirn, „du wirst dich in seinen Haushalt einschleusen und ihn auskundschaften. Über jeden seiner Schritte möchten wir informiert werden. Ein Knappe von Sir Comyn wird sich in deiner Nähe niederlassen und fungiert als Mittelsmann.“

„Und wenn ich mich verrate?“, hielt Jodie dagegen.

„Sieh zu, dass du es nicht tust.“

„Ich bin eine Wallace, Vater. Jeder weiß vermutlich, dass du ein Freund von Sir Comyn bist. Von Williams Abscheu den Engländern gegenüber ganz zu schweigen. Bruce wird sich hüten, mich zu beschäftigen.“

„Erstens habe ich die Ragman Roll unterschrieben und zweitens wird dir Muriel ihre Papiere aushändigen, womit keine Spur zu uns führen wird. Außerdem hast du stets auf deine Freiheit gepocht. Nun koste von ihr.“

„Auf diese Weise? Bei Gott, ich habe sie mir anders vorgestellt.“

„Willkommen im Leben.“ Ihr Vater machte eine kurze Pause. „Wenn wir genug Informationen haben, entbinden wir dich von deiner Aufgabe. Und jetzt kannst du gehen. Wir haben bis zu deiner Abreise am Samstag einiges vorzubereiten.“ Das war in drei Tagen! „Der Knappe wird dich bis in die Nähe des Castle bringen. Und, Jodie“, er schaute auf seine Hände, „viel Glück.“

Aufgewühlt verließ sie den Raum und stürmte die Treppe hoch. Als sie fast oben war, stand plötzlich die Mutter vor ihr, als hätte sie auf sie gewartet. Jodie blieb stehen.

„Ich wünschte, ich könnte deine Abreise verhindern.“ Die Augen der Mutter füllten sich mit Tränen, während sie die Haube etwas zurückschob und mit hängenden Schultern die wenigen Stufen zu ihr herabstieg. „Angus ist weit entfernt.“

„Wir können uns ja schreiben“, ließ sich Jodie zu einer Häme hinreißen.

„Ich habe dir viel abverlangt.“ Die kalten Hände der Mutter fassten nach Jodies, deren Wut verrauchte. Ihre Mutter konnte nichts für die Pläne des Vaters. „Lass uns in dein Zimmer gehen. Ich muss dringend mit dir reden.“

Wenige Augenblicke darauf saß Jodie auf dem Bett. Ihre Mutter stand am Fenster, mit dem Rücken zu ihr. „Lange vor deinem Vater lernte ich … einen Mann kennen. Sein Name war George“, begann sie mit tränenerstickter Stimme. „Ich habe mich in ihn verliebt. Doch leider merkte ich zu spät, was für ein Scheusal er ist. Denn eines Tages hat er mich … er hat mich vergewaltigt.“

„Was sagst du da?“, stammelte Jodie und war wie vom Donner gerührt. „Du wurdest …“, sie konnte nicht weitersprechen, weil sich ihr Mund wie ausgetrocknet anfühlte.

„Dieser Mann kam zurück, Jodie“, flüsterte die Mutter mit erstickter Stimme.

Plötzlich war jene verhängnisvolle Nacht gegenwärtig wie nie zuvor. Die Qual der Mutter in den folgenden Tagen. Die ständige Traurigkeit. „Oh Gott!“ Wie in Trance erhob sich Jodie, ging zu ihrer Mutter und nahm sie in die Arme. Während ihre Mutter haltlos weinte, strich sie ihr über den Rücken. Es dauerte, bis sie sich beruhigte. „Er kam in der Nacht zurück, als mich Vater in den Keller sperrte“, presste Jodie schließlich hervor.

Die Mutter löste sich ein wenig von ihr und blickte sie an. Sie sah genauso verzweifelt aus wie damals. „Ja, so ist es.“

„Hat er dich …?“ Jodie konnte kaum atmen. Als die Mutter nickte, fühlte sie sich, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen.

„Wir hätten es dir viel früher sagen müssen.“ Ihre Mutter wischte sich mit dem Ärmelsaum über das Gesicht. „Stattdessen habe ich dich eingesperrt. Aus Angst, dass dir dasselbe widerfahren könnte.“

„Du wolltest mich schützen.“ So vieles bekam nun eine völlig andere Bedeutung. „Was ist mit Vater?“ Jetzt wollte sie alles wissen. „Hat sein Verhalten mir gegenüber auch mit dieser Nacht zu tun?“

„Er hat die Sache bis heute nicht verwunden.“ Die Mutter senkte den Kopf. „Du bist aufgewacht und aus dem Haus gekommen. Im selben Moment habe ich mich dazu bereit erklärt“, sie schüttelte den Kopf, „im Stall hat mich George schließlich vergewaltigt.“

Jodie schluchzte auf. „Es war meinetwegen?“

„Nein!“, rief die Mutter aus und umfasste Jodies Schultern. „Nicht deinetwegen. Auch deine Brüder waren in Gefahr. Ich wollte meine Familie beschützen, aber im Grunde habe ich das Gegenteil erreicht. Unser Leben bricht auseinander. Mit jedem Tag etwas mehr.“

„Und doch war es meinetwegen“, beharrte Jodie. „In Vaters Augen bin ich die Schuldige, nicht wahr?“ Ein bitterer Geschmack lag auf ihrer Zunge.

„Du bist zwar nicht der einzige Grund, aber ein sehr wesentlicher. Leider“, bestätigte die Mutter und obwohl Jodie darauf vorbereitet war, hatte sie nicht damit gerechnet, wie erschüttert sie darüber sein würde. „Oft habe ich ihm ins Gewissen geredet, doch dein Vater ist nicht davon abzubringen. Das ist kein Trost für dich, ich weiß. Trotzdem bitte ich dich, ihm eine Chance zu geben, sollte er sich eines Tages besinnen. Ich kenne deinen Vater. Vor allem den Alan, der er vorher gewesen ist. So wie du deinen Vater kanntest, bevor das Unheil über uns hereingebrochen ist. Glaub mir, im Grunde ist er genauso unglücklich wie wir. Aber es ist einfacher, anderen die Schuld zu geben. Sogar wenn es die eigene Tochter ist. Etwas, das ihm auch William vorgeworfen hat.“

„Ich ahnte, dass mein Bruder mehr weiß als er zugab“, murmelte Jodie.

Die Mutter löste sich von ihr und lehnte sich gegen den Sims. Tränen traten in ihre Augen. „Nicht immer sind die Dinge so wie sie scheinen, mein Kind. George ist das beste Beispiel dafür. Ein Wolf im Schafspelz.“ In ihrer Stimme lag nichts als Verachtung. „Manchmal hat er seinen kleinen Neffen mitgenommen. Nie hätte ich gedacht, dass ein kinderlieber Mann so abgrundtief schlecht sein könnte. Charlie hieß der kleine Junge und er hing abgöttisch an George. Er muss drei, vier Jahre alt gewesen sein. So unschuldig wie du damals.“ Jodie starrte zum Dorf hinunter. Hinter den Fenstern mancher Häuser brannte Licht. „Ich weiß, dass dich Alan liebt. Er hat es mir selbst gesagt“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter und spürte ihren Atem in ihrem Haar. „Bedauerlicherweise steht er sich selbst im Weg. Alan ist ein stolzer Mann.“

„Es ist bewundernswert, dass du ihn trotz allem in Schutz nimmst. Aber von mir kannst du nicht dasselbe erwarten.“

„Das verstehe ich.“ Sanft strich ihr die Mutter über das Haar, bevor sich Jodie ihr zuwandte. „Ich habe keine Ahnung, wie ich die Zeit ohne dich überstehen soll. Doch ich bin davon überzeugt, dass du deine Aufgabe meistern wirst. Umso mehr vertraue ich darauf, dich bald wieder in meine Arme schließen zu können. Und wer weiß, vielleicht tut euch der Abstand gut - dir und deinem Vater. Denn es gibt da noch etwas, das ihm zu schaffen macht: Dein Sturz. Als du das Bett hüten musstest, wollte ich eines Abends zu dir. Alan saß an deinem Bett. Du hast geschlafen und er hat geweint. Ich denke, das solltest du wissen. Verzeih ihm irgendwann, wenn du kannst, damit er sich selbst verzeihen kann.“

„Ich wünschte, ich hätte dein Verständnis.“

Liebevoll legten sich die Hände der Mutter an ihre Wangen. „Wenn ich eins gelernt habe, dann ist es die Erkenntnis, dass man nichts erzwingen kann. Entweder löst sich etwas von selbst oder es soll nicht sein. Alles was ich dir wünsche ist ein glückliches Leben. Einen Mann, der dich auf Händen trägt. Denn es gibt sie tatsächlich, die schlechten Männer. Aber es gibt auch die guten.“

Iverness

Die Schrift auf dem Dokument verschwamm. Müde rieb sich Ian die Augen und massierte seinen Nacken. Obwohl er sich vorgenommen hatte etwas zeitiger ins Bett zu gehen, hatte er es wieder einmal nicht geschafft. Die Verwaltung des riesigen Familienbesitzes war einfach zu zeitraubend und die Tage oftmals zu kurz. Manchmal fühlte er sich regelrecht erschöpft. Vor allem, seit sich sein Vater von den laufenden Geschäften zurückgezogen hatte, um sich politisch noch mehr zu engagieren.

Gähnend schob Ian die Dokumente zusammen und erhob sich, um in die Küche zu gehen. Wie erwartet fand er auf dem Arbeitstisch zwei Scheiben Brot vor, seinen Lieblingskäse Cheshire und Oliven. Drei Kerzen brannten auf dem Fenstersims und spiegelten sich im Glas, hinter dem die Dunkelheit wie ein schwarzer Samtmantel lag.

Lächelnd griff Ian zum Brot und dankte seiner Schwester im Stillen. Isabella kannte seine nächtliche Angewohnheit und sorgte jeden Abend dafür, dass das Küchenpersonal diese kleine Aufmerksamkeit nicht vergaß.

An die Kante gelehnt ließ es sich Ian schmecken, auch wenn die Brotrinde bereits hart geworden war. Dabei fragte er sich wie so oft, ob es das gewesen war mit seinem Leben, weil es abgesehen von seiner Arbeit keinen wesentlichen Inhalt hatte. Natürlich war er dankbar dafür, dass er keine finanziellen Sorgen hatte. Doch seine Tätigkeit erfüllte ihn nicht mit Stolz. Vor allem, wenn er an die vielen Männer dachte, die sich um Andrew de Moray scharten. Oder um diesen Wallace, von dem man immer öfter hörte. Sie taten wenigstens etwas Sinnvolles und verbrüderten sich, um Englands Pläne zu vereiteln.

„Hast du einen Geist gesehen?“

Ian schrak hoch. „Isabella! Was machst du um diese Zeit in der Küche?“

„Ich wollte nachsehen, ob du schon gegessen hast.“ Das weiße lange Nachthemd flatterte um ihre schmalen Fesseln, als sie barfuß zu ihm tapste und sich neben ihn stellte.

 

Er lachte gutmütig. „Sicher.“

„Dir kann ich wohl nichts vormachen.“ Ihr ansonsten ansteckendes Lachen wirkte aufgesetzt. „Nun ja, in letzter Zeit schlafe ich schlecht“, informierte sie ihn dann.

„Sicher wegen deiner bevorstehenden Hochzeit mit Bruce“, frotzelte er. „Da würde ich auch Albträume bekommen.“

„Wie lange wollt ihr euren Kleinkrieg noch weiterführen, Ian?“ Ihr brünettes Haar glänzte im Kerzenschein.

„So lange es nötig ist. Ich kann den Burschen nicht ausstehen. Zumal Bruce die Roll erneut unterschrieben haben soll.“

„Viele Familien sind wegen der politischen Lage zerstritten. Lass nicht zu, dass das auch mit uns geschieht. Ich liebe Robert - mit allen Konsequenzen - aber über kurz oder lang wird deine Feindseligkeit ihm gegenüber zwischen uns stehen. Willst du das?“

„Natürlich nicht, und das weißt du.“

„Dann miss nicht mit zweierlei Maß. Unser Vater ist ebenfalls kein Unschuldslamm in politischen Dingen oder was König Edward betrifft.“

„Was ich zuletzt gutheiße.“

Ihr Vater war der Earl of Mar. Ein Ritter des Hochadels und einer der sieben Hüter Schottlands. Ein hohes Amt, das einer Regentschaft gleichkam. Aber vor kurzem war bekannt geworden, dass sein Vater mit König Edward gemeinsame Sache gemacht hatte. Nur deshalb war es Edward vermutlich gelungen, Schottland unbemerkt zu unterwandern.

Davon abgesehen spielte der Vater ein doppeltes Spiel. Zwar drängte er Bruce dazu, die Krone einzufordern, hielt sich aber nach wie vor König Edward warm.

Die Kehrseite des Ganzen war indes die Tatsache, dass sein Vater stets gut für sie gesorgt hatte und ein warmherziger Mensch war. Es fiel ihm daher schwer, ihm dasselbe Unverständnis entgegenzubringen wie Bruce. Außerdem hatte die Aversion gegen seinen zukünftigen Schwager einen weitaus triftigeren Grund.

„Unser Bruder Gartnait bemüht sich übrigens um Christina“, ließ Isabella ihn wissen und kratzte sich auf der Nase. „Sie hat es mir gestern erzählt.“

„Vater wird sich freuen, dass unser Bruder keine Zeit verliert.“ Seit kurzem forcierte der Vater die Verbindung zwischen Gartnait und Bruces Schwester Christina. Das zeigte umso mehr, wie sehr er insgeheim darauf hoffte, dass Bruce tatsächlich eines Tages schottischer König werden würde. Gartnait unterstützte die Pläne des Vaters. „Wie steht Christina dazu?“

„Nun ja, du kennst sie. Ihr gefallen Männer wie Andrew de Moray. Verwegen und mutig. Allerdings scheint Gartnait die richtige Taktik gefunden zu haben, um ihr Herz zu erobern. Sie hat regelrecht von ihm geschwärmt.“ Isabella war gut mit Christina befreundet und drückte Ians Hand, bevor sie sie zurückzog und mit den Bändchen am Ausschnitt spielte. „Ist es nicht wunderbar, wenn man aus Liebe heiraten darf? So wie ich“, meinte sie mit verklärtem Blick.

Isabella war schon immer hoffnungslos romantisch gewesen. Streit und Zwist waren ihr hingegen ein Gräuel. Ian kannte niemanden, der so war wie sie. Egal wie seine Schwester behandelt wurde, sie glaubte unbeirrt an das Gute in jedem Menschen. „Ich gönne dir dein Glück, aber muss es ausgerechnet Bruce sein?“

„Sina?“, stellte sie eine Gegenfrage und brachte ihn damit aus dem Konzept. „Es ist Jahre her, Ian. Du solltest die alten Geschichten endlich vergessen. So lange du das nicht tust, wird keine Frau je eine Chance bei dir haben.“ Ihr kokettes Lächeln erreichte ihn nicht. „Dabei himmeln sie dich reihenweise an und ich habe jede Menge damit zu tun, ihre neugierigen Fragen zu beantworten. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Liebesbriefen, die ich horten muss. Aber dank dir kann ich mich wenigstens vor Einladungen kaum retten.“

„Na siehst du, dann genieße das und erspare mir die ständigen Verkupplungsversuche.“

„Ach Ian, so kann es nicht weitergehen. Willst du ewig alleine bleiben? Und was ist mit Kindern? Du hast dir immer eine Familie gewünscht.“

„Vorerst habe ich von Frauen die Nase gestrichen voll. Sollte sich das ändern, wirst du es als Erste erfahren.“

Sie rollte mit den Augen. „Wann soll das sein? In zwanzig Jahren? Einen alten Tattergreis will keine mehr haben, glaub mir.“ Der Schalk blitzte aus ihren Augen. „Dabei könnte ich dir auf Anhieb einige Damen nennen, die dich mit Kusshand nehmen würden.“

„Welche denn? Reingunde?“

Isabella lachte herzlich auf. „Roberts Köchin würde dich tatsächlich sofort heiraten. Aber keine Sorge, an sie habe ich nicht gedacht.“ Ihre Heiterkeit verschwand so schnell wie sie gekommen war. „Bitte denk wenigstens darüber nach. Du musst endlich damit aufhören, dich einzuigeln. Ich mache mir Sorgen.“

„Das musst du nicht.“

„Doch, das muss ich. Umgekehrt würde es dir nicht anders gehen.“

Ian stopfte sich eine Olive in den Mund. Das Gespräch lief wieder in eine Richtung, die ihn störte. Weil er sich zum einen genierte, dass er der Sache mit Sina immer noch eine so große Bedeutung beimaß, und zum anderen ärgerte er sich über Isabella. Darüber, dass sie scheinbar vergessen hatte, was Bruce für ein Schwein sein konnte. „Hat dein Verlobter wenigstens einen Hochzeitstermin festgelegt?“

„Noch nicht, aber er hat uns nach Glamis eingeladen.“ Ians Laune sank noch tiefer. Zaghaft legte Isabella ihre Hand auf seinen Arm. „Bitte, vertragt euch.“

„Dir zuliebe werde ich mich zusammenreißen“, gab sich Ian geschlagen, „und Bruce weder erwürgen noch erdolchen oder zerstückeln. Nur schade, dass er nicht wie angekündigt zu uns kommt. Deswegen werde ich das ausgehobene Loch wieder zuschütten, hole den Strick vom Baum und befestige die losen Bretter auf der Zugbrücke. Zufrieden?“

Neckisch zog sie an seinen Haarspitzen. „Versprochen?“

„Mein Ehrenwort.“ Ian hob die Hand zum Schwur.

Mit einem gutmütigen Blick ließ sie sein Haar los. „Übrigens, dein Lieblingsonkel lässt dir Grüße ausrichten.“

„George? Hast du ihn getroffen?“

„Er hat uns geschrieben. Ich gebe dir den Brief morgen“, jetzt grinste sie, „Charlie.“

Ian lachte. „Den Namen habe ich lange nicht mehr gehört.“

„Ich weiß.“ Kurz blickte Isabella auf den silbernen Fürspan, der sein Tuch an der Schulter zusammenhielt. Sie hatte Ian die Brosche zum letzten Geburtstag geschenkt. „Schön, dass du sie ständig trägst“, lobte sie ihn, stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Gute Nacht.“

Als er wieder alleine war, starrte er eine Weile zum Tonnengewölbe hoch. Mit Sinas Gesicht vor sich, die sich erneut in seine Gedanken drängte. Wut packte ihn und er wünschte sich die Fähigkeit, sich das Herz aus der Brust reißen zu können.

Du bist der einzige Mann, den ich liebe.

Lächelnd hatte sie ihm ständig dieses Märchen aufgetischt und er hatte es nur allzu gerne für bare Münze genommen. Obwohl er immer wieder Gerüchte hörte, dass Sina und Bruce eine Affäre hätten. Doch das hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können und nur darüber gelacht. Immerhin wusste Bruce von der Verlobung mit Sina, und zu diesem Zeitpunkt machte er Isabella bereits den Hof. Aber irgendwie schien das Ganze mehr an ihm genagt zu haben als er es sich eingestanden hatte Kurzerhand erzählte er Sina eines Abends von den Gerüchten - das war genau heute vor drei Jahren gewesen.

Wie lächerlich, Liebster, hatte Sina ausgerufen. Du glaubst das doch hoffentlich nicht. Robert ist ein Windhund. Außerdem der Verlobte deiner Schwester und absolut kein Mann, bei dem ich schwach werden könnte. Aber wer weiß, womöglich hat er die Gerüchte selbst in die Welt gesetzt, eingebildet und verlogen wie er ist. Da bist du Gott sei Dank ganz anders. Es ist deine Ehrlichkeit, die mich so maßlos anzieht, und deine Zärtlichkeiten bringen mich zum Beben. Also was soll ich mit einem verlogenen Bübchen, wenn ich einen ganzen Kerl haben kann?

Mit besagtem Bübchen war sie im Bett gelandet. Ian hatte die beiden in flagranti erwischt. Ein Anblick, den er nie vergessen würde. Sina hatte Bruce mit unverhohlener Leidenschaft geküsst und ihren nackten Körper an seinen gepresst. Seitdem hasste er Bruce abgrundtief, Sina nicht weniger, die er seitdem nie wiedergesehen hatte. Die beiden waren für ihn gestorben. Auch, weil sie damit Isabella zutiefst verletzt hatten, die natürlich irgendwann davon erfuhr. Völlig verstört hatte sie ihn nach der Wahrheit gefragt, die er ihr so behutsam wie möglich beibrachte. Wut, Enttäuschung, Tränen - alles hatte er danach erwartet - aber nicht, dass sie Bruce in der nächsten Sekunde verzieh statt sich von ihm zu trennen.