Ein fast perfekter Winter in St. Agnes

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„Schwierig und schön zugleich.“ Wieder erstrahlte ein Lächeln. Der Trotz eines jungen Mädchens umspielte Doris’ volle Lippen. „Wir gingen auf Bälle, tanzten zu Swing-Musik, lasen mit Herzklopfen Liebesbriefe, warteten voller Aufregung auf den nächsten und vor allem auf den ersten Kuss. Ich bin froh, dass ich im vorigen Jahrhundert geboren bin. Heutzutage ist nichts mehr gut genug und man trifft sich auf diesem Facebook.“ Doris schüttelte den Kopf. „Das wahre Leben spielt sich draußen vor unseren Fenstern und Türen ab, nicht auf Bildschirmen.“ Als ob sie sich selbst zur Raison bringen wollte, klatschte sie in die Hände. „Himmel, ich texte Sie zu, als wären Sie meine Biografin. Haben Sie Lust auf ein Gläschen Sekt? Ich hätte welchen im Kühlschrank.“

Emma sah sich mit der Flasche auf der Dachterrasse stehen und fragte sich, was der Unbekannte heute machte. Feierte er mit seiner Familie? Mit Freunden? Einer Frau? „Ein Glas trinke ich gerne mit Ihnen, obwohl ich Alkohol nicht gewöhnt bin.“

„Tatsächlich?“ Doris’ ungläubiger Augenaufschlag verwirrte Emma. „Oh, wie schön“, rief ihre Vermieterin im nächsten Moment aus. „Everybody loves somebody“, zitierte sie das nächste Lied, erhob sich schwerfällig und schwang die Hüften umso jugendlicher im Takt. Plötzlich streckte sie Emma die Hand entgegen. „Kommen Sie. Lassen Sie uns in die Küche swingen.“

„Ich kann nicht tanzen“, wehrte sich Emma und sank tiefer in den weichen Stuhl.

„Unsinn. Jeder kann tanzen. Vor allem zu einem Evergreen. Da geht es wie von selbst.“

Nach kurzem Zögern nahm Emma die warme Hand und erhob sich. „Aber Sie swingen voraus, damit Sie meine hölzernen Verrenkungen nicht sehen.“

Doris legte den Kopf zurück und lachte lauthals. Gleichzeitig tanzte sie los und war schon halb im Korridor. Emma folgte ihr und versuchte die fließenden Bewegungen zu imitieren. Schnippte mit den Fingern, bewegte die Arme im Einklang mit den Hüften, blieb stehen, schwang vor und zurück, bis sie in der Küche waren. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie sie ausgesehen haben musste. Allerdings hatte es Spaß gemacht. So sehr, dass sie kurz danach auf dieselbe Weise - diesmal mit einem Glas Sekt in den Händen - den Rückweg antraten. Dabei lachten sie und Emma fühlte sich, als wäre sie tatsächlich in einem anderen Leben. Ergriffen von den Evergreens, die durch die Räume schwebten. Mit einer Frau vor sich, die alte Zeiten in ihren Erzählungen zum Leben erweckte. Und zum ersten Mal mit dem Gefühl, dass der Heilige Abend nicht nur schlechte Seiten hatte.


Roger starrte zu Doris’ Haus hinüber. Hinter den zugezogenen Wohnzimmer-Vorhängen tanzten dunkle Schatten. Bis zu seinem Cottage konnte man Dean Martin hören. Eines dieser Schmachtlieder, bei denen Frauen ihres Alters in Verzückung gerieten und verträumt vor sich hinlächelten. Für Emma galt vermutlich dasselbe, obwohl sie seiner Generation angehörte. Aber wer sonst sollte drüben zu den Liedern herumhopsen?

Entschlossen drehte er sein Radio auf dem Fenstersims lauter. AC/DC - Thunderstruck. Das Gitarrensolo hallte durch die Küche und übertönte Dean Martin. Den Gedanken an Emma in Reddys Armen konnte die Musik zu seinem Leidwesen nicht verscheuchen. Reddy. Was war das überhaupt für ein Name? Und wieso waren nur zwei Schatten zu sehen? Lag Doris bereits im Bett, um das Paar alleine zu lassen? Wie auch immer, sie schienen sich wie zuhause zu fühlen.

Mondlicht fiel in die dunkle Küche, als Roger nach dem Glas Milch griff. Das fünfte, seitdem er einen Bissen seines Thai-Hühnchens probiert hatte. Ihm brannten jetzt noch Kehle, Zunge und Mund. Vom fehlenden Geschmackssinn ganz abgesehen. Nun wusste er zumindest, dass er künftig auf den Rat eines Fernsehkochs hören würde.

AC/DC verklang. Auch drüben war es leiser geworden. Dafür hallten die Kirchenglocken umso deutlicher über die Küste. Genervt schaltete Roger das Radio ab. In knapp zwei Stunden war der Heilige Abend Gott sei Dank vorbei, wie ihm die rote Digitalanzeige auf dem Herd zeigte. Leider waren Menschen wie er dazu verdammt, die Stunden förmlich zu zählen, weil ihnen dieser ach so überirdische Abend nichts gab. Alle scharten sich um kitschig geschmückte Weihnachtsbäume und sangen lächerliche Lieder im Kreis ihrer Familien, um danach über die Geschenke herzufallen. Ähnlich wie bei einer Raubtierfütterung.

Die Bank knarrte, als er sich zurücklehnte und wieder aus dem Fenster blickte. Die Wipfel der Bäume bewegten sich sanft im Meereswind und ragten in den Vollmond. Der Himmel war klar und mit Sternen übersät. Auch heuer würde der Schnee auf sich warten lassen, sofern er überhaupt kam. Im Grunde war es meistens ein kurzes Intermezzo. Ein paar Flocken hier, ein paar Flocken da, als ob der Winter die Menschen auf die Schnelle daran erinnern wollte, dass es ihn gab. Und bevor man sich freuen konnte, zog er weiter.

Grimmig schaute Roger auf das Kuvert, über dem das milchige Mondlicht lag. Gleich morgen würde er Trish anrufen und ihr seine Meinung sagen. Ebenso wie Lance, der zu seinem Sohn stehen sollte, statt sich freizukaufen. Emma hingegen würde er so gut es ging aus dem Weg gehen, bis sie und ihr Reddy wieder abreisten. Obwohl ihm dieser Gedanke auch nicht passte. Was war nur los mit ihm?

Vermutlich war es besser schlafen zu gehen. Bis morgen hatte er diese Frau bestimmt vergessen und würde nicht einmal mehr wissen, wie sie aussah. Oder sich an den Klang ihrer Stimme erinnern. Daran, wie sie lachte und dass sich dabei süße Grübchen an ihren Wangen zeigten. An die Art, wie sie ständig über ihren Dutt tastete, als wollte sie überprüfen, ob er noch da war. Nein, Emma war keine Frau, an die man sich dauerhaft erinnerte. Trotzdem konnte Roger sie weder unter der ausgiebigen Dusche noch beim Einschlafen abschütteln und schaute um drei Uhr morgens zum letzten Mal auf die Uhr.

Umso schneller war er am nächsten Tag hellwach. Weil die Motorsäge - die sich Auto nannte - in aller Herrgottsfrüh an seinem Haus vorbeirauschte. Wütend schlug er die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Dabei fragte er sich, ob Emma in den Ort hinuntergefahren oder abgereist war. Das wiederum ärgerte ihn noch mehr.

Hatte er sich nicht vorgenommen, keinen einzigen Gedanken an diese Frau zu verschwenden, die sein Leben durcheinanderbrachte wie ein Hurrikan? Und das nur wegen einer einzigen Begegnung! Gut, genau genommen waren es zwei gewesen. Vernünftig betrachtet trotzdem zu wenig, um sämtliche Synapsen in seinem Gehirn für sich alleine zu beanspruchen. Er hatte weiß Gott andere Dinge zu bedenken. Zum Beispiel die Frage, was er frühstücken sollte!

Zornig über sich selbst schlüpfte Roger in die Jeans und ging nach unten. Ein paar hartgekochte Eier, dann würde die Welt sicher anders aussehen. Doch kaum in der Küche angekommen, klopfte es an der Tür. Das konnte nur Doris sein! Wahrscheinlich wollte sie ihm erzählen, wie sehr sie sich gestern amüsierte. Zu viel des Guten auf nüchternem Magen. War nur zu hoffen, dass sie den Schlüssel vergessen hatte.

Leider ließ die alte Dame nicht locker. Roger warf den Kühlschrank zu und holte einen Topf aus dem Schrank. Während er ihn mit Wasser füllte, klopfte es im Sekundentakt. Fluchend drehte er den Hahn ab, stellte den Topf beiseite, ging zur Pforte und riss sie mit Schwung auf.

Emma zuckte zusammen, während sein Blut durch die Adern jagte, als wäre es auf der Flucht.

„Ach du liebes bisschen …“, entfuhr es Emma, durch deren Körper ein Ruck ging. Der Teller in ihrer Hand zitterte bedenklich. „Watson?“ Ein Lächeln huschte über ihr zartes Gesicht.

„Genau, Sherlock“, fuhr er sie an. Wenigstens klebte der dicke Reddy nicht an ihr. „Sie machen Ihrem Namen alle Ehre. Wie haben Sie mich so schnell gefunden?“

Ihre Miene wurde feindselig. „Wie kommen Sie darauf, dass ich Sie gesucht habe?“

„Sie stehen vor meiner Tür. Der Verdacht liegt nahe, finden Sie nicht auch?“ Sie trug wieder den abgetragenen grauen Mantel, eine Jeans und ausgelatschte Turnschuhe. Nur das Haar war diesmal offen. Es stand ihr hervorragend, was seine Wut schürte, weil ihn diese Frau verarscht hatte. Vermutlich lachte sie sich im Nachhinein tot über ihn. Weit entfernt von der hilflosen Emma, die er unter der bezaubernden Hülle vermutet hatte. Damit ließ sich auch erklären, dass sie auf Teufel komm raus wild mit ihm herumgeknutscht hatte. Trotz Ehemann samt Lover!

„Doris hat mich gebeten, ihrem Nachbarn Kekse zu bringen und so lange zu klopfen, bis er … ich hatte keine Ahnung, dass Sie das sind, Mister …“ Sie schaute auf seinen Postkasten in Form eines kleinen Häuschens. „Nirgends steht Ihr Name.“

„Da steht er doch: Post.“ Er zeigte auf die vier goldenen Buchstaben über dem Schlitz, bevor er auf sich deutete. „Aber um Ihre Neugierde zu stillen: Mein Name ist Roger Sanders. Zufrieden?“

„Roger Sanders?“, wiederholte sie schrill, als wäre sie auf Fischabfälle gestiegen.

„Genau der. Haben Sie ein Problem damit?“

„Ich nicht, aber man bezeichnet Sie als …“ Ihr Blick huschte verlegen zu seinem nackten Oberkörper, blieb an seinen Tätowierungen auf den Oberarmen hängen und kehrte zu seinem Gesicht zurück. „Ziemlich attraktiv.“ Ihre Lippen pressten sich aufeinander und sie schaute ihn an, als würde sie hoffen, dass sie das nicht laut gesagt hatte. „Äh, hab ich … aufgeschnappt und so“, fand sie ihre Sprache wieder. „Im Allgemeinen gelten Sie als …“

„Casanova, schon klar“, beendete er ihren Satz. „Und Sie glauben das natürlich.“ Ohne es zu wollen, war er enttäuscht. Natürlich eilte ihm sein Ruf voraus, doch Menschen konnten sich ändern. Wieso sprach sich das nicht endlich im Ort herum?

 

„Ich habe keinen Grund, es nicht zu tun.“

„Schon mal davon gehört, dass man sich selbst ein Bild über Menschen machen sollte? Oder wirkte ich in London wie einer, der jede Frau abschleppt?“ Gespannt harrte er auf ihre Antwort, die auf sich warten ließ.

„Vermutlich war ich nicht Ihr Typ.“ Ihre Feststellung klang eher wie eine Frage.

„Das wird es wohl gewesen sein“, beließ er es dabei und ignorierte ihr betrübtes Gesicht. Wie jede Frau hatte sie bestimmt mit einer anderen Antwort gerechnet. Darauf konnte sie lange warten. „Ist Ihr Reddy eigentlich mit Vollgas ins Dorf hinuntergefahren?“

„Reddy kann nicht allein …“ Sie stockte, bevor sie trotzig das Kinn reckte. „Doris ist mit Reddy zur Bäckerei gefahren. Die beiden haben sich von Anfang an blendend miteinander verstanden.“

„Schön“, hielt sich Roger knapp. „Sonst noch was?“

Statt einer Antwort hielt sie ihm den Teller unter die Nase. „Die Kekse. Sie schmecken wunderbar. Genießen Sie jeden Bissen. Um sich daran zu erinnern, dass sie besonders bei den Frauen im Ort einen Stein im Brett haben.“

Roger nahm den Teller und schob die Tür weiter zurück. Er brauchte Abkühlung, weil ihm heiß war. Plötzlich stutzte er und starrte perplex auf den scheußlichen Weihnachtskranz, der an einer pinken Wollschnur hing, die haufenweise mit Malerkrepp an seiner Tür klebte. Doris!

„Sie haben ein Händchen fürs Dekorieren“, schien Emma seinem Blick gefolgt zu sein, „die zwei Rollen Malerkrepp bringen den Kranz erst richtig zur Geltung.“

„Habe ich schon erwähnt, dass ich Sarkasmus hasse?“, gab er ihr eine Retourkutsche.

„Dasselbe sagte ich in London zu Ihnen.“ Wie vorwurfsvoll sie klang. Als hätte sie ein Patent auf diesen Satz angemeldet.

„Echt?“, tat er unwissend, „warum beherzigen sie dann nicht Ihre eigenen Worte? Oder haben Sie sie vergessen? Ah, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie waren ja sturzbesoffen.“

Binnen Sekunden war ihr Gesicht rot wie eine Tomate. Zugegeben, die Verlegenheit schmeichelte ihr. „Von dem Piccolo-Fläschchen? Das glaube ich kaum.“

„Piccolo? Das war ein ganzer Liter. Wollen Sie es nachprüfen? Nur zu, die Magnum-Flasche steht auf meinem Wohnzimmertisch.“

Ihr rotes Gesicht besaß tatsächlich die Fähigkeit, noch dunkler zu werden. „Sie haben die Flasche nicht weggeworfen?“

Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie das klingen musste! Am Ende dachte sie, dass er die Flasche absichtlich behalten hätte. Wie ein verliebter Trottel, der er nun wirklich nicht war. Sicher, eine gewisse Schwäche für Emma ließ sich nicht leugnen, aber er hatte vieles überbewertet. Immerhin war Weihnachten. Da waren Menschen wie er empfindsamer. Nebenbei befand er sich in seiner schwierigsten Lebensphase. Midlife, ständig nüchtern und enthaltsam. Wer würde da nicht eine simple Flasche vergessen? „Mir fehlte bisher die Zeit, sie zu entsorgen. Also kein Grund, sich etwas darauf einzubilden.“

„Einbildung fällt eher in Ihr Ressort“, fauchte sie ihn an. „Was stresst Sie denn so? Die vielen Frauen, die bei Ihnen ein- und ausgehen?“

„Ihre Kombinationsgabe verblüfft mich immer wieder, Sherlock.“

„Ach, Sie können mich mal.“ Emma wirbelte herum, stapfte davon und schnaufte dabei wie eine Dampflok. „So ein Arsch“, hörte er sie leise fluchen, doch nicht leise genug. „So viel zu meiner Menschenkenntnis, dabei dachte ich …“

Leider wurden die restlichen Worte vom Käfer verschluckt, der mit Doris am Steuer an ihm vorbeifuhr. Lachend winkte sie ihm aus dem heruntergekurbelten Fenster zu. Ihr weißer Seidenschal flatterte, den sie wie ein Kopftuch trug. Die weiße ovale Retro-Brille im Stil der Fünfziger Jahre erinnerte ihn an Katzenaugen. Ihre Vollbremsung neben Emma an eine Massenkarambolage und als diese ins Auto stieg, zweifelte er an seinem Verstand. Nach einem ganzen Meter Fahrt - exakt von der Einfahrt auf den Parkplatz - stieg sie wieder aus und flitzte ins Cottage. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen.


Gegen Mittag duftete es im ganzen Haus nach frischen Backwaren. Emma hatte sich mit Doris’ Erlaubnis in der Küche ausgetobt, die zwar winzig klein war, doch das hemmte sie nicht in ihrem Eifer. Roger hatte ihre Nerven überstrapaziert und das musste sie irgendwie kompensieren. Was bildete sich dieser Mistkerl eigentlich ein? Sie so zu behandeln! Ausgerechnet er, der einen Ruf hatte wie Adonis höchstpersönlich. So fühlte er sich vermutlich auch mit den Lederarmbändern am Handgelenk, seinem Six-Pack, den muskulösen Oberarmen und diesen bescheuerten Tätowierungen, die nach Höhlenmalerei aussahen.

„Denken Sie nicht, dass wir genug Eclairs haben?“, gab Doris zu bedenken, die am weiß lackierten Küchentisch saß und sich ein Glas Rotwein genehmigte. Zur Blutverdünnung, wie sie betonte.

„Es ist die letzte Portion“, versprach Emma, die die Masse mit dem Spritzsack aus der Steinzeit im Eiltempo auf das Backblech beförderte, das exakt so groß war wie der Arbeitstisch. Daneben befanden sich Herd und Backofen. Dahinter die rustikale Wandvertäfelung mit einer breiten Ablage an der Oberseite, auf der sich Gewürze aneinanderreihten. An den langen Nägeln, die kreuz und quer ins Holz geschlagen waren, baumelten Kellen in allen Größen, Pfannenwender und sonstige Küchenutensilien. Auf der Fensterbank stapelte sich Geschirr - das in den zwei Schränken über der Spüle keinen Platz gefunden hatte - nebst Wollresten, Postkarten, Schreibblöcken, Geschenkbändern, gefühlten hundert weiteren Kugelschreibern und einigen Rollen Malerkrepp. Im amerikanischen Kühlschrank hingegen fand man alles, was ein Konditoren-Herz begehrte. Außerdem war er der einzige Ort, der seinem Zweck entsprechend genutzt wurde. „Ich zahle Ihnen die Waren natürlich, Doris.“

„Nicht nötig. Wenn alles fertig ist, können wir ganz St. Agnes damit beliefern. Die werden sich nach Minnies Keksen sicher freuen.“ Doris hievte sich schallend lachend ein Eclair auf den Teller, brach mit der Gabel ein Stück ab und schob sich den Bissen begleitet von einem hingebungsvollen Stöhnen in den Mund. „Köstlich“, hauchte sie kauend. „Nie zuvor habe ich so ausgezeichnete Eclairs gegessen.“

„Das freut mich.“ Emma schob das Blech in den Ofen. Erschöpft lehnte sie sich danach an den Kühlschrank. Vor Doris standen Teller mit Bergen von Eclairs. „Kennen Sie jemand, dem wir damit eine Freude machen könnten?“

„Wie wäre es mit meinem Nachbarn? Sie haben bisher kein Wort darüber verloren, wie Ihre Begegnung war. Er ist nett, oder?“ Ihr erwartungsvoller Blick machte Emma kurz misstrauisch. Wüsste sie es nicht besser, hätte man meinen können, dass sie die Begegnung forcieren wollte. Mitsamt der sinnfremden Anweisung, so lange an seine Tür zu klopfen, bis er aufmachte. Wer tat denn so was? Außer sie, weil sie es gewohnt war, Instruktionen auszuführen. Etwas, woran sie dringend arbeiten musste. „Nun sagen Sie schon. Wie finden Sie Roger?“

„Der Höflichkeit wegen verkneife ich mir eine Antwort.“ Ihre Vermieterin mochte ihn. Allein deshalb hatte sie kein Recht, schlecht über ihn zu reden.

„Roger ist oberflächlich, arrogant, selbstherrlich“, zählte Doris auf, „sarkastisch und ein Frauenheld.“

„Das sind genau die Worte, die mir auf der Zunge lagen“, bekannte Emma überrascht. Sollte sie sich getäuscht haben was Doris und Roger betraf?

„Diese Dinge erzählt man im Ort über ihn und gewiss ist der Junge nicht unschuldig an seinem Ruf. Dennoch mag ich ihn, weil er sich rührend um mich kümmert“, lief Doris zum Feind über. „Außerdem hilft er mir bei Reparaturen, behält meine Finanzen im Auge und kauft einmal die Woche für mich ein. Glauben Sie mir, der selbstverliebte Sonnyboy war einmal. Roger ist erwachsen geworden.“

„Sicher. Den Eindruck hatte ich auch.“ In hundert Jahren würde der nicht erwachsen sein! „Nun, wo sollen wir die Eclairs hinbringen? Ist Ihnen schon etwas eingefallen? Danach könnten wir etwas unternehmen, wenn Sie Lust haben.“ Vielleicht lief ihr ein Mann über den Weg, dem sie frappant ähnlich sah. Am besten wie eine Tochter dem Vater. Nebenbei konnte sie Doris befragen. Aus dem Telefonbuch hatte sie sämtliche Männer mit dem Anfangsbuchstaben R herausgesucht und notiert. Es waren knapp hundert, die sie im Ausschlussverfahren durchackern musste. Zuerst würde sie die unverheirateten von der Liste streichen. Doris kannte bestimmt viele in St. Agnes. Oder sollte sie ihre Vermieterin bitten, ihr alle Single-Männer über fünfzig aufzuzählen? Nein, das war kein guter Plan! „Ich würde mir gerne St. Agnes ansehen, die Bewohner kennenlernen, das Leben hier, die Bräuche …“

„Toll. Dasselbe wollte ich Ihnen gerade vorschlagen und am besten wäre es, wenn wir die Leckereien unserem geschätzten Pater Jeremy vorbeibringen“, ging Doris auf ihr Angebot ein. „Am Weihnachtstag gibt er immer eine Kuchenparty für seine Gläubigen.“

Viele Menschen auf einem Haufen. Das schrie förmlich nach dem Startschuss für ihre Mission. „Oh je, glauben Sie, dass die Menge reichen wird?“

„Dahingehend habe ich keine Bedenken.“

„Super. Bis das letzte Blech fertig ist, lade ich alles ins Auto. Danach können wir losdüsen. Sagen wir in zehn Minuten?“

Doris schob den Stuhl zurück und stand mit einer Miene auf, als hätte sie ihr gerade vorgeschlagen, sämtliche CDs von Dean Martin aus dem Fenster zu werfen. „Schauen Sie mich an“, forderte sie mit frostiger Stimme, „und dann sagen Sie mir noch einmal, dass wir in zehn Minuten fahren.“

Emma war durcheinander. „Tun wir nicht?“

„Meine Haare sehen fürchterlich aus!“

„Ist mir nicht aufgefallen. Nun, wie wäre es in fünfzehn Minuten?“, wagte sie einen weiteren Vorschlag. Sich zu kämmen würde kaum Stunden dauern.

„Machen Sie Witze? Ich trage immer noch das Chanel-Kostüm von heute Morgen.“

„Es ist hübsch und steht Ihnen hervorragend.“ Das war nicht gelogen. Der schmale Rock und das dazu passende gelbe kurze Jäckchen ließen sie um Jahre jünger wirken.

„Darum geht es nicht, Kindchen. Ich kann mich nicht an einem Tag zweimal mit demselben Outfit sehen lassen. Mein Ruf wäre ruiniert.“

„Von wie vielen Stunden reden wir?“, gab sich Emma geschlagen.

„Zwei, eventuell drei. Wie bei den meisten Frauen platzt mein Schrank aus allen Nähten. Das macht die Auswahl schwierig, denn im Grunde habe ich überhaupt nichts anzuziehen.“

„Kann mir nicht passieren. Ich bekomme meine Kleidung locker in zwei Schubladen unter.“

Doris zwängte sich hinter dem Tisch heraus, der viel zu groß für die Puppenküche war, und stand somit automatisch vor Emma. „Gehen Sie denn nie shoppen?“

„Sicher.“ Was war das denn für eine Frage? „Auf Küchenmessen bin ich oft.“

„Küchenmessen?“ Doris lächelte nachsichtig. „Was ist mit Boutiquen?“

„Ich bestelle lieber im Internet.“

„Vermutlich immer beim selben Shop?“

Woher wusste sie das? „Ja, die führen seit Jahren die gleichen Sachen. Da weiß man wenigstens, dass sie passen.“

„Ach, Kindchen. Was ist mit Kino? Sind Sie regelmäßig mit Freunden ausgegangen? Welche Hobbys haben Sie? Schwimmen? Radfahren? Reisen?“

„Dafür blieb neben der Arbeit keine Zeit.“

„Und was ist mit der Liebe? Haben Sie eigentlich je richtig gelebt, Emma?“

„Natürlich, ich habe Brandon geheiratet …“ Emma senkte den Kopf. Selbst ihr wurde klar, dass sie tatsächlich kein Leben hatte. „Wir lassen uns scheiden.“

„Verstehe. Vermutlich einer der Gründe, warum Sie hier sind. Nun, in diesem Fall sollten wir einiges ändern, denn das Leben ist es wert. Es gibt mehr zu entdecken, als Sie glauben. Und nirgends könnte ein Neubeginn besser sein als hier in St. Agnes, weil Gott uns Frauen zu attraktiven Evas geformt und uns zufällig einige hübsche Adams dagelassen hat.“

„Sie meinen Singles?“, nahm Emma sofort die Gelegenheit beim Schopf.

„Genau. Roger ist beispielsweise einer.“

„Äh, der wäre mir zu jung. Ich stehe eher auf ältere Semester.“

Doris hob eine Augenbraue. „Über welches Alter reden wir?“

„Ab fünfzig aufwärts“, preschte Emma weiter vor und ignorierte Doris’ offensichtliches Entsetzen. „Sagen Sie stopp.“

„Stopp“, tat Doris ihr den Gefallen und rechnete vermutlich damit, dass gleich jemand mit einer Zwangsjacke in die Küche kommen würde. Doch das verdrängte Emma. Für die Suche nach ihrem Dad würde sie weit mehr riskieren als nur dumm dazustehen.

„R“, sagte Emma. „Super. Während der Fahrt könnten Sie mir alle Junggesellen aufzählen, deren Name mit einem R beginnt.“

 

„R wie Roger. Da hätten wir schon einen.“

„R wie raus. Er ist nicht mein Typ.“

„Schade“, stellte Doris fest. „Dann haben Sie nie einen jungen Mann wie Roger geküsst?“

„Natürlich.“ Emma spürte Hitze in sich aufsteigen. „Aber das ist Ewigkeiten her.“

„Ist das so?“ Doris lächelte. „Tja, die liebe Vergangenheit. Hin und wieder scheint einiges Jahrzehnte zurückzuliegen und manches ist gegenwärtig, als wäre es erst vor wenigen Tagen geschehen …“


Zwei Stunden später parkte Emma ihren Käfer vor dem Pfarrhaus. Der einstöckige Steinbau wirkte nüchtern, was man von dem Mann mittleren Alters nicht sagen konnte, der in Pilotenuniform um die Ecke torkelte, als sie mit der großen Silberplatte voller Eclairs in den Händen und Doris hinter sich auf das Gebäude zuging.

„Die feiern im Gartenhäuschen“, informierte der Mann sie lallend und lüftete seine Kappe. Allerdings erst beim dritten Versuch. Die ersten beiden Male hatte er danebengegriffen. „Viel Spaß, die Damen.“ Dass Gott diesen Adam vergessen hatte, wunderte Emma nicht im Geringsten, mit deren Laune es nicht zum Besten stand. Doris hatte während der ganzen Herfahrt mit Minnie telefoniert. So toll Handys waren, jetzt verfluchte Emma die Dinger.

„Den werden wir haben, George Mason. Und nun geh lieber heim zu Josie“, forderte Doris ihn mit einem Lächeln auf. „Für heute hast du genug.“

Das war Josies Mann?

„Ja, Ma’am. Normalerweise trinke ich keinen Tropfen. Aber stellen Sie sich vor: Ich werde schon wieder Vater! Das musste ich mit Jeremy begießen.“

„Meinen Glückwunsch, George. Ist der Pfarrer in ähnlichem Zustand wie Sie?“

„Ich denke schon. Die ganze Truppe hat den Messwein ausgetrunken.“

„Wer ist die ganze Truppe?“, hakte Doris nach.

„Na der Pfarrer und ich.“ Erneut lüftete er die Kappe, bevor er in die Seitengasse bog.

„Wunderbar“, empörte sich Doris. „Wir sollten zusehen, dass wir die Eclairs abliefern und schnellstmöglich verduften.“

„Ganz Ihrer Meinung.“ Emma sah weitere Chancen schwinden. Das hatte sich angehört, als wäre tote Hose auf dieser Party. Frustriert ließ sie Doris vorausgehen, die sich besser auskannte. Schließlich standen sie vor einem Pavillon, den sie durch die windschiefe Holztür betraten, an der ein mit Tannenzweigen geschmücktes Kreuz hing.

Ein korpulenter Mann in Soutane erhob sich von einer Bierbank und wirkte ziemlich mitgenommen - allerdings nüchtern. „Doris, dich schickt der Himmel! Ich befürchtete schon, dass George zurückkommt.“

„Der Gute kann froh sein, wenn er den Weg nach Hause findet“, gab sie trocken von sich und richtete sich den Kragen ihres roten Mantels mit den Schulterpolstern. Dazu trug sie eine schwarze Hose und ein passendes Kopftuch. Soviel zu ihrer Frisur!

„Meine Herren, der Junge hat getankt wie ein Flugzeug. Doch es sei ihm vergönnt.“ Der Pfarrer fuhr sich durch das beinahe ergraute Lockenhaar. „Du bist nicht allein, wie ich sehe.“

„Emma. Sie wohnt zurzeit bei mir.“

„Eigentlich meinte ich das Gebäck.“

Wie nett! Als wäre sie Luft.

„Ach so. Das sind Eclairs. Musst du unbedingt probieren. Stellen Sie bitte alles dorthin, Emma.“ Doris deutete zum Tisch, auf dem einige Kuchen standen. „Wie geht es Annie?“

„Ausgezeichnet. Sie ist glücklicher denn je. Jack tut ihr gut und trägt sie auf Händen.“

Emma stellte das Mitgebrachte wie gewünscht auf den wackeligen Tisch. Viele Gläubige schien der Priester nicht zu haben. Kein Wunder. Wenn er mit all seinen Schäfchen so freundlich umging, dann gute Nacht.

„Dein Coffee-to-go, Jeremy“, hörte Emma plötzlich jemanden sagen und wurde von einer dunklen Ahnung beschlichen. Das klang ganz nach R wie Roger! Schnell sandte sie ein Stoßgebet gen Himmel, dass sie sich hoffentlich täuschte und wandte sich um. Leider wurde sie nicht erhört. Roger ging mit einem braunen Becher auf den Pfarrer zu und widmete ihr nur einen Seitenblick. Er genügte jedoch, um heiße Wangen zu bekommen. Der Typ regte sie sowas von auf!

„Was machst du denn hier, Roger?“, erkundigte sich Doris lächelnd.

Das fragte sich Emma auch. Ebenso, welchen Typ Frau er bevorzugte. Sie entsprach ihm anscheinend nicht, sonst wäre seine Antwort anders ausgefallen. Das mit der Flasche war ein weiterer Affront gewesen und sie auf ihren Mini-Schwips anzusprechen extrem unter der Gürtellinie. Umso mehr hatte sie seinen Irrtum mit Reddy ausgekostet. Das Gesicht würde sie gerne sehen, wenn er die Wahrheit erfuhr!

„Roger hat ein Spendenkonto für uns eingerichtet.“ Jeremy klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter, bevor er ihm den Becher aus der Hand nahm.

„Ein Spendenkonto? Für wen? Die Kirche?“, wollte Doris pikiert wissen.

„Diesmal nicht“, erwiderte der Pfarrer allen Ernstes.

„Aber beim nächsten Mal, oder wie?“, regte sich Doris weiter auf.

„Du klingst angesäuert. So dick hat es die Kirche auch nicht. Woher glaubst du stammt der Spruch: Arm wie eine Kirchenmaus?“

„Sicher aus euren eigenen Reihen!“

„Da bin ich überfragt. Jedenfalls ist das Spendenkonto für einen anderen Zweck gedacht. Manchmal muss auch die Kirche zum Wohle aller den Gürtel enger schnallen.“ Jeremy deutete sich auf den Wohlstandsbauch. Doris’ Zweideutigkeit musste er auf ganzer Linie überhört haben. „Das Konto ist für das Tierheim. Roger war so nett, mich zu beraten. Obwohl ich ihn bis vor einigen Wochen am liebsten ungespitzt in den Boden gerammt oder am nächsten Galgen aufgehängt hätte. Von den geschliffenen Messern in meiner Küche will ich gar nicht erst anfangen.“

Rogers Gesicht hatte sich zusehends verdüstert.

„Umso erfreulicher, dass du einen Schritt auf ihn zugegangen bist“, lobte Doris den Pfarrer. „Also hat meine Beichte Früchte getragen?“

Jeremy trank einen Schluck Kaffee. „Oh, der Monolog über Roger war eine Beichte? Tja, es ist so“, zog er seine Worte in die Länge, „die Sache mit Trish spricht sich langsam rum.“

Doris griff sich erschrocken an die Brust. „Du liebe Zeit, wie konnte das geschehen? Dabei bist du eklatant verschwiegen.“ Der Pfarrer nickte bedächtig und machte eine zufriedene Miene wie ein Cowboy, der in den Sonnenuntergang ritt.

„Darf man fragen, worüber ihr sprecht?“, wandte sich Roger an sie. „Hast du irgendetwas herumerzählt, Doris?“ Auch der letzte im Raum schien endlich zu kapieren, dass dem so war. Doris hatte geplaudert. Und wie. Allerdings wäre das Worüber noch interessanter gewesen.

„Ich bin nur zur Beichte gegangen“, verteidigte sich Doris halbherzig.

„Und ich verschwiegen, wie du weißt. Beichtgeheimnis. Es muss uns jemand belauscht haben.“ Der Pfarrer - der scheinbar lügen konnte wie gedruckt - hob den Becher in Rogers Richtung. „Du bist in Ordnung, Sanders. Das müssen wir nur den anderen verklickern. Aber das wird dauern. Wieso hast du das mit Trish eigentlich nicht gleich erzählt?“

Roger zögerte. Als kämpfe er mit sich, ob er sauer oder erleichtert sein sollte über Doris’ Einmischen. „Hättet ihr mir denn geglaubt?“

„Natürlich nicht“, antwortete Jeremy und schielte auf die Eclairs.

„Siehst du.“ Rogers Bitterkeit war nicht zu überhören und fast tat er Emma leid. Bis er sie in Augenschein nahm. Mit einem Blick, als hätte der Cowboy soeben umgedreht. Inklusive Colt in der Hand. „Vielen Dank, dass du dir selbst eine Meinung über mich bildest, Jeremy. Es soll ja Menschen geben, die lieber nachplappern was andere sagen.“

Emma tastete sich über den Dutt und kochte innerlich, denn im Gegensatz zum Pfarrer erkannte sie eine Anspielung, wenn ihr eine begegnete. „Wie bitte? Ohne die Fürsprache von Doris - ich sage nur Beichte - würden Sie jetzt tatsächlich am Galgen baumeln.“

„Unser Pfarrer ist keiner von der brutalen Sorte“, ereiferte sich Roger. „Das war lediglich eine Metapher.“

„Die er sicher tausendmal in Gedanken durchgespielt hat.“

„Woher wissen Sie das, Emma?“, war Jeremy baff.

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