Der spirituelle Weg

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Und doch riecht der Begriff „Sünde“, der mit dem des Leidens das Übermächtigende und Schmerzliche teilt, auch ein wenig nach dem Gemisch von Versagen und Schuld. Auf Seiten der frühen Bezugspersonen verursacht dieses Gemisch die Entstehung der Idiopolis des Kindes. Wirklich schuldig sind die Bezugspersonen dafür nicht: Sie tragen die Wunden ihrer eigenen Idiopolis, noch dazu die der nationalen Geschichte.32 Dennoch könnte es Situationen gegeben haben, wo die primären Bezugspersonen sich hätten anders verhalten können und es nicht taten. Auch der Umgang mit der eigenen Idiopolis atmet dasselbe Gemisch von Verhängnis und Schuld. Vielleicht hätte man selbst ja mehr zu ihrer Aufarbeitung tun können, als man getan hat. Manches Unrecht, das an andern verübt wurde, ist nicht allein Ausdruck des Verhängnisses der Idiopolis, sondern auch eigene freie Tat. Vom Täter-Opfer-Täter-Reigen wurde schon gesprochen.

Noch ein dritter Aspekt des Phänomens Sünde ist zu nennen. Wahrscheinlich wird kein Mensch von den Spuren seiner Idiopolis ganz frei. Es ist viel, wenn das idiosynkratische Handeln von seiner Starre verliert und besprechbar ist, sobald es zu Störungen führt. Ein solcher Mensch wird zufriedener durchs Leben kommen. Viel wichtiger ist jedoch, dass an den Fundamenten der Idiopolis, im Unheil der Sünde, der Geburtsort eines Lebens ganz anderer Art liegt; eines Lebens, das zu seinem wahren Selbst erwacht ist und aus keinem „etwas“ mehr lebt, das ewiges Leben ist. An Ostern jubelt die Kirche über die „glückliche Schuld des Adam“, die in Christus ihren Erlöser gefunden hat. Christi freiwillige Annahme der Sünde bewirkt Erlösung. Sein Grab ist der Ort der Auferstehung. Im Überschwang wird der verlorene Sohn (Lk 15) zu Hause empfangen und neu als Sohn eingesetzt, nachdem der frühere Schweinehirt in der Stunde seiner tiefsten Not in sich gehen, seiner selbst bewusst werden und umkehren konnte. Christliche Erlösung ist nicht die Vollreparatur der Idiopolis, sondern Beginn von etwas vollständig Neuem. In der Sünde/Idiopolis liegt die Chance zu erfahren, dass der Mensch einer anderen Wirklichkeit angehört, dass sein Grund von einem Strom ewiger Liebe gespeist, erhalten und erfüllt wird, der sein verkrampftes Leben und Streben löst. Sünde wird zum Katalysator dieser Transformation.

1.3 Die Wende nach Innen

Die Idiopolis erklärt, wieso Menschen sich im Allgemeinen schwertun, sich ihrer inneren Wirklichkeit bewusst zu werden. Mit innerer Wirklichkeit sind alle wahrnehmbaren Phänomene unseres Inneren gemeint: seelische Phänomene wie Wünsche und Begehren und die ganze Palette von Gefühlen wie Interesse, (sexuelle) Erregung, Freude, Überraschung (Schreck), Kummer, Ärger, Zorn, Ekel, Geringschätzung, Furcht, Scham, Schuldgefühl usw. Darin drückt sich auch der Geist einer Person aus: Ist sie misstrauisch und verschlossen, wird sich das eher in Unruhe, Langeweile, Müdigkeit, Unzufriedenheit, Widerwillen, Ärger, Zweifel äußern. Der entgegengesetzte Geist der Offenheit zeigt sich in Interesse, Freude, Hochgemutheit, Zuversicht, Liebe und Vertrauen. Auch diffuse innere Zustände, die nicht einzuordnen sind, weil sie verschleiert, wie von Nebel eingehüllt erscheinen, gehören zur inneren Wirklichkeit. Und schließlich rechne ich auch körperliche Phänomene zur inneren Wirklichkeit hinzu, also Frieren oder Schwitzen, Verdauungstätigkeit, Hunger, spontane Muskelkontraktionen, Zittern, Verspannungen, Pochen, Brennen, Stechen, Klopfen, Kribbeln, Fließen usw., auch Schmerzen : Sie erweisen sich oftmals als somatisierte seelische Regungen. Ein spiritueller Weg, der zur Ganzheit führt, kann nicht die Welt des Inneren außen vor lassen. Wenn der spirituelle Weg auf die wahre Wirklichkeit zielt, wird er die Idiopolis entlarven. Wenn er, wie im Buddhismus, zur „unerschütterlichen Befreiung des Geistes“33 hinleitet, im Hinduismus „den Frieden und das unendliche Glück“34 erlangt, im Christentum zur Neuschöpfung des Menschen führt : „Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden“ (2 Kor 5,17), und diese Ziele und Verheißungen nicht in der Idiopolis verwirklicht sind, dann verläuft der spirituelle Weg durch die Idiopolis hindurch in das, was jenseits von ihr liegt: in nicht selbst gemachte, sondern wahre Wirklichkeit.

Ken Wilber, bisweilen als Philosoph des New Age tituliert, beklagt die Vernachlässigung der spirituellen und emotionalen Erfahrung in den modernen Zivilisationen. „Ergebnis sei ein spirituelles ‚Flachland‘ in den westlichen Industriegesellschaften. Um dem zu entkommen, reiche es aber eben nicht aus, ‚jahrelang auf dem Meditationskissen‘ zu sitzen. Immer wieder weist Wilber darauf hin, dass meditative Techniken zwar der Königsweg für die Weiterentwicklung des Bewusstseins seien, aber auch zur Flucht aus der Wirklichkeit missbraucht werden können. Ja, selbst fortgeschrittene Meditierende und spirituelle Lehrer würden oft von der eigenen ‚Psychopathologie verfolgt, während ihre Schatten sie zur Erleuchtung hetzen und wieder zurückholen und überall am Weg Opfer hinterlassen. … Die Arbeit mit dem eigenen Schatten oder unterdrückten Unbewussten ist eine absolut wesentliche Komponente jeder transformativen Lebenspraxis‘, schreibt er.“35

Die Gefahr, „jahrelang auf dem Meditationskissen zu sitzen“, ist für den traditionellen Gläubigen der monotheistischen Religionen zwar im Allgemeinen nicht sehr groß. Doch müssen auch die monotheistischen Religionen prüfen, ob Momente ihrer Praxis nicht letztlich die Schatten der regelmäßig Praktizierenden verfestigen und die Gläubigen damit kleinhalten, schwächen, abhängig und womöglich krank machen.

Die Bedeutung der äußeren Wirklichkeit für die Erkenntnis des Innern

Innere und äußere Welt eines Menschen bedingen einander, stehen miteinander in Wechselwirkung, ja bilden einander ab. Solange wir als BürgerInnen unserer Idiopoleis uns selbst als Opfer und die anderen als die bösen Barbaren begreifen, wenn wir wieder einmal unzufrieden, unruhig, öde und leer sind, bleibt diese Einsicht verschlossen. Auf dem spirituellen Weg geht es jedoch darum, eine andere Sichtweise zu erlernen und das Geschehene aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: nämlich dem, das Außen als mögliche Reaktion auf die eigene Idiopolis anzusehen. Diese Umkehr des Gewohnten ist keineswegs unzutreffend: Da die Idiopolis die Wahrnehmung mit unsachgemäßem „Eigensinn“ verfälschen kann, hat das Verhalten und Handeln ihrer Bürger große Chancen, missverständlich und erfolglos zu sein oder sogar Schaden anzurichten. Im Sozialen, wo anderen durch die „ausagierende Wiederholung“ der Vergangenheit geradezu Gewalt angetan wird, produziert das idiosynkratische Verhalten zwangsläufig Konflikte und Kontaktabbrüche. Die erfolglosen Handlungen und die unbefriedigenden Beziehungen wirken zurück auf den Bürger der Idiopolis. Es werden unangenehme innere Bewegungen sein, die dadurch ausgelöst werden. Doch enthalten gerade sie, insofern sie Reaktionen des Außen auf die eigene, eigentümliche Welt sind, Hinweise auf diese. Sie können zu ihrer Erkenntnis beitragen. Und in der Tat geschieht dies auch, wenn die Wende nach innen vollzogen, die Wirkung des Außen auf das Innere im Bewusstsein zugelassen und ihr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dann helfen die Geschehnisse außen zur Entlarvung der Idiopolis.

Wer dagegen bei sich ist, Vertrauen hat, löst in der Regel Offenheit bei den anderen aus, die ihn somit bestätigen. Insofern entsprechen sich Innen und Außen, innere und äußere Welt eines Menschen und spiegeln sich ineinander.

Da die Idiopolis die Grundstrukturen und -entscheidungen unseres Lebens prägt, z. B.: welchen Beruf wir wählen, wen wir heiraten oder ob wir alleine bleiben, können auch Ereignisse schicksalhaften Ausmaßes, ähnlich wie alltägliche, an der Dekonstruktion der Idiopolis mitwirken, wenn wir sie annehmen: Verliebt sich beispielsweise jemand, kann dies sein ganzes Leben durcheinanderbringen. Im glücklichen Fall durchläuft er einen Prozess der Selbstwerdung durch alle Höhen und Tiefen, mit aller Lust und Schuld. Ein Kind mutet sich seinen Eltern in seiner ganzen Schutzlosigkeit und Bedürftigkeit zu, nimmt sie in die Pflicht und verschafft ihnen Erkenntnisse ihrer selbst, die sie sonst nicht gewinnen könnten. Aber auch Krisen, Krankheit, Verlust, Tod konfrontieren uns mit uns selbst und halten uns einen Spiegel vor, in dem wir auch unsere Idiopolis erblicken lernen. Man könnte in diesem Sinn sagen, dass das Außen eine therapeutische Wirkung entwickelt, wenn wir es an uns heranlassen und auch den in ihm enthaltenen Tod annehmen. Beispiele dazu finden sich S. 109 ff und S. 234.

Annehmen, was ist

Auf dem spirituellen Weg kommt es also darauf an, die Wirkungen anzunehmen, die das Außen im Inneren, vor allem in Form von Gefühlen, auslöst. Da das Wort „annehmen“ missverständlich ist, soll seine Bedeutung hier geklärt werden.

Wenn man „Das musst du annehmen!“ hört, ist in der Regel gemeint: Füg dich, unterwirf dich, steck eine eingetretene Situation weg ohne Protest. Dabei ist ausschließlich das Außen im Blick. Solches Annehmen stellt einen Lösungsvorschlag auf der Handlungsebene dar.

Wenn jedoch in diesem Buch von „annehmen“ gesprochen wird, ist gemeint, dass das Äußere nach innen genommen wird, und zwar so, dass die gefühlsmäßigen Auswirkungen der Situation außen auf das eigene Innere ins Bewusstsein kommen und in der Aufmerksamkeit gehalten werden.

Eine Frau beispielsweise, die von ihrem Mann geschlagen wird, dies aber beschönigt und sich vertröstet, nimmt ihre Situation gerade nicht in dem hier gemeinten Sinn an. Sie würde sie im hier gemeinten Sinn annehmen, wenn sie sich ihre Lage zu Bewusstsein kommen ließe und die mit ihr verbundenen Gefühle wie Schmerz, Angst, Wut, schließlich vielleicht Zweifel, ob sie das weiter hinnehmen soll, muss oder darf, durchlebte, d. h. im Bewusstsein dieser Gefühle, im Kontakt mit ihnen ihre Alltagstätigkeiten verrichtete. Es ist offen, welche konkrete Lösung sich dadurch schließlich finden wird.

 

Dies Beispiel zeigt, dass „Annehmen, was ist“ einen Weg bedeutet, der im Allgemeinen durch unterschiedliche Gefühle und Gedanken hindurchführt, wie sie jeweils mit den verschiedenen Momenten einer Krisenbewältigung einhergehen: Verdrängung, Depression, Aggression und Aufstand, Verhandeln, die Lösung entdecken. Aufs Ganze gesehen, ist „Annehmen, was ist“ der Weg sowohl zu einer wirklichen Versöhnung des Herzens als auch zu einer Lösung der problematischen Situation außen, einer Lösung, die eine gereifte Antwort aus der Mitte der Person darstellt.

Das Beispiel meiner ersten Bekehrung

Schon Jahre vor dem Abitur hatte ich den Wechsel auf die Universität kaum erwarten können. Raus aus dem Mief der Kleinstadt mit ihrer Enge und verlogenen Kleinbürgerlichkeit der 1960er Jahre. Raus aus der Religiosität eines äußerlichen Mitlebens mit der Kirche. Raus aus den elterlichen Beziehungsverboten um des guten Funktionierens in der Schule willen. Doch schon nach wenigen Semestern ertappte ich mich bei ähnlichen Gedanken wie zu Hause in der Zeit vor meinem Abitur: ‚Wenn ich nur einmal meinen Abschluss habe, wenn ich nur erst einmal berufstätig bin, wenn ich nur erst einmal eine Frau habe …‘, so dachte ich wieder und wieder. Ich vertröstete mich, wie damals als Schüler, bis ich es merkte und darüber erschrak: So weiterleben, Erfüllung und Sinn immer vom nächsten Lebensabschnitt erhoffen, aber nie hier und jetzt erfahren, das heißt in der Konsequenz, unerfüllt zu sterben nach einem als sinnlos empfundenen Leben. So durfte es nicht weitergehen. Also suchte ich eine Lösung. Ich las, ich dachte nach, ich sprach mit Kommilitonen und gelangte schließlich zu der Überzeugung, dass angesichts des Todes nicht Geld, Ansehen, Erfolg, Lusterfüllung usw. dem Leben bleibenden Sinn geben können, sondern, wenn überhaupt, höchstens die Liebe. Das sehe ich heute noch genauso. Stolz, wie ich auf die Lösung war, die ich gefunden hatte, krankte sie jedoch daran, dass ich sie nicht leben konnte! Ich hatte keine Ahnung, wie eine Liebe, in der der Blick auf den anderen nicht von eigenen Interessen oder Bedürfnissen getrübt ist, die quasi selbst-los ist, ohne Heuchelei zu leben sein könnte. Also unterließ ich jeden Versuch. Ich hatte eine Lösung, die nichts löste, außer dass ich etwas entspannter in die Prüfungen gehen konnte.

Doch in Wahrheit begann etwas Neues. Ich lernte, „sinnlos“ zu leben: Die Unerfülltheit meines Lebens wegschieben konnte ich nach allem, was geschehen war, nicht mehr; mein Leben mit Sinn erfüllen konnte ich aber auch nicht. Mich umzubringen kam mir nicht ernsthaft in den Sinn. Ich kapitulierte. Ich ließ es geschehen, dass das Bewusstsein von Unerfülltheit und Sinnlosigkeit alle meine Lebensvollzüge begleitete. Da meine Anstrengungen zu keiner Veränderung geführt hatten, wurde ich offener für Anregungen von außen und innen. Zum Beispiel begann ich wieder, Klavier zu spielen, was mir inmitten meiner Trostlosigkeit und Ohnmacht damals unerwartet erfüllte Momente schenkte: die strahlenden Klänge von Beethovens fünftem Klavierkonzert, die ich unter Tränen dem etwas ausgespielten Flügel im Studentenhaus entlockte, sind mir noch heute im Bewusstsein.

Das Erschrecken darüber, das Leben zu verfehlen, wenn man von Vertröstung zu Vertröstung lebt, war es, was mich veranlasste, mich meinem als sinnlos empfundenen Leben zu stellen. Da mein Versuch, eine Lösung herbeizuführen, scheiterte, nahm ich mein Leben so sinnlos, wie es eben war. Nach einer solchen Kapitulation, ähnlich derjenigen der Teilnehmenden an einem Zwölf-Schritte-Programm36, ist es wie bei einem Todesfall. Plötzlich hat man Zeit. Alles vermeintlich wichtige Gerenne und Getue hört auf. Es hat sich ohnehin als unnütz entlarvt. Nun können Stille und Verweilen einkehren. Da das Schlimmste bereits eingetreten ist – in meinem Fall: ein Leben, das ich nicht mit Sinn zu erfüllen vermochte –, kann man alles nüchterner betrachten und Vorstellungen lassen, die dabei nicht standhalten.

Und tatsächlich sind einige meiner Illusionen gestorben: Ich musste einsehen, dass die Lebensreise nicht zu bewältigen ist, wenn man nur nach außen schaut; dass ich die Sinnlosigkeit meines Lebens aus eigener Kraft und Anstrengung nicht würde wegschaffen können; und dass ich jetzt in diesem Bewusstsein meiner Sinnlosigkeit und Hilflosigkeit weiterzuleben hatte.

Wohin mich das Leben Schritt für Schritt geführt hat, indem es mir mögliche Alternativen verlegte, nämlich im Bewusstsein meines Inneren, meiner Sinnlosigkeit und Leere zu leben, das legt, wie ich heute sehe, dem Christen sein Gaube nahe. Christen gibt ihr Glaube eine starke Motivation, nach innen zu gehen. Immer wieder lausche ich gerne der Weisheit Salomos, der von Gott glaubt: „Du hast mit allem Erbarmen, weil du alles vermagst, und siehst über die Sünden der Menschen hinweg, damit sie sich bekehren. Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre?“ (Weish 11,23–25).

Wenn Gott alles liebt, was da ist, dann liebt er auch das vom Menschen so oft vermiedene Innere, dann haben in dieser Liebe auch die unangenehmen Gefühle Platz, die Enttäuschungen, die Kränkungen, die verbotenen Wünsche, eben alles, was im eigenen Inneren hier und jetzt so da ist. All das kann dann nicht unter jeder Rücksicht schlecht sein. Wenn also Gott alles liebt und anschaut, was ist, dann sind Juden und Christen eingeladen, gleichfalls alles da sein zu lassen, was ist, Äußeres und eben auch Inneres, und es in ihrer Aufmerksamkeit zu halten. Insbesondere der Christ weiß, dass Gott sich speziell dem Bürger der Idiopolis zuwendet: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten“ (Lk 5,31–32). Die „Umkehr des Sünders“ besagt den Auszug aus der Idiopolis.

Auch die islamischen Mystiker kennen das Geheimnis der Liebe Gottes, die den Menschen sucht. So singt Rumi:

„Liebe,

wenn ich nach dir Ausschau halte,

merke ich, dass du mich suchst.

Wenn ich meine Blicke schweifen lasse,

finde ich die Locken deines Haars

in den eig’nen Händen wieder.

Ich glaubte stets,

von deinem Wein berauscht zu sein,

und merke nun,

dass er von mir betrunken ist.“37

Wieso es also nicht wagen, der Bewegungen des eigenen Inneren gewahr zu werden?

Du fragst nach den Sternen – lauf vor der Nacht nicht davon.

Du fragst nach einer Rose – lauf vor den Dornen nicht davon.

Du fragst nach der Liebe – lauf vor der Enttäuschung nicht davon.

Du fragst nach dem Leben – lauf vor dem Sterben nicht davon.

Du fragst nach dem Geliebten – lauf vor dir selbst nicht davon.

Dschalal ad-Din Muhammad Rumi

2. In die Tiefe – zweites Moment des Schritts auf dem spirituellen Weg

Gewahrwerden des Inneren in Form eines schnellen Blicks auf die Bewusstseinsinhalte genügt nicht. Das „Gehörte“ ginge zum einen Ohr hinein und beim andern wieder hinaus, ohne dass es zum Aufnehmen des Gehörten käme. Der Weg des Hörens braucht ein Durcharbeiten des Gehörten im Inneren. Er steigt in die Tiefe dieses Inneren hinab, möglicherweise zu den Fundamenten der Idiopolis. Gewiesen wird er letztlich von der Sehnsucht und beschritten vom Vertrauen. Doch stehen dabei drei mächtige Helfer zur Verfügung:

1. die spirituelle Übung

2. das begleitende Gespräch und die Gemeinschaft

3. eine reflektierte Weltanschauung

Die spirituelle Übung soll im Alltagsleben vollzogen werden können und mit Innehalten und innerer Einkehr zu tun haben. Da der Weg die Basis der Idiopolis aufdeckt, ist es eine Frage der spezifischen Übungsmethode, das Niveau von Angst und Frustration so zu regeln, dass es für den Übenden erträglich ist. Er soll nicht entmutigt werden und abbrechen. Unterfordert er sich allerdings, verläuft sein Weg im Sande. Die konkrete Methode des Übens ist ein Hilfsmittel, das dem spirituellen Ziel zu dienen hat, so dass es auf seine Tauglichkeit hin immer wieder einmal überprüft und auch gegen liebe Gewohnheiten angepasst werden muss.

Allen Religionen ist eine regelmäßige spirituelle Übung wichtig. Ein im Christlichen bewährtes Prinzip geistlichen Lebens empfiehlt, die Alltagsgeschäfte an jedem Tag eine Stunde, in jedem Monat einen Tag und jedes Jahr eine Woche für geistliche Übungen zu unterbrechen. Der Islam hat für seine Gläubigen täglich fünf Gebetszeiten institutionalisiert, jährlich den Fastenmonat, einmal im Leben die große Wallfahrt. Der Buddhismus mahnt: „Unentwegt und mit großer Ausdauer übe dich in der Vertiefung der Meditation, erreiche so das Nirwahn, die Freiheit von allen Fesseln.“38 Ähnlich die Bhagavadgita: „So übend immerdar sein Selbst, gelangt der Meditierende gezügelten Geistes zum Frieden …“39 Ignatius von Loyola erwartet von seinen Jesuiten täglich neben dem zweimaligen Gebet der liebenden Aufmerksamkeit, in dem es um ein Innehalten bei sich selbst vor Gott mittags und abends geht, eine volle Stunde persönlicher Betrachtung und die Heilige Messe, insgesamt etwa zwei Stunden geistlicher Übung. Allen Religionen ist bewusst: Ohne Zeiten des Innehaltens und der Sammlung ist der Mensch den Regimes seines Ego und seiner Mit- und Umwelt hilflos ausgeliefert, ja sie können ihm nicht einmal zu Bewusstsein kommen, geschweige denn kann er sich darüber erheben und frei von ihnen werden.

Erforderlich ist außerdem das begleitende Gespräch, in dem der Übende sein Erleben zur Sprache bringen kann. Allein gelassen, ist die Gefahr groß, dass er sich im Wust der Phänomene verirrt und an ihrer Oberfläche bleibt, statt sie tatsächlich an sich heranzulassen. Er gibt auf, weil ihm Deutung und Ermutigung fehlen. Er kommt nicht voran, weil seine Idiopolis bestimmte Wahrnehmungen nicht zulässt und, wie gewohnt, Störendes sich gleich einverleibt und damit verhindert, in Frage gestellt zu werden. Selbst wer grundsätzlich bejaht, auch den störenden Lebenswahrheiten Raum zu geben, und daher bereit sein muss, Leiden auf sich zu nehmen, hat dies damit noch lange nicht in seinem Alltag vollzogen. In der Lebenspraxis stöhnt und flucht man über die Härte der Wand, gegen die man anrennt, und kommt nicht auf die Idee, dass es jetzt gilt, innezuhalten und sich dem Leiden im Leben zu stellen. Deswegen sind Resonanz und Feedback auf dem geistlichen Weg notwendig.

Neben der Begleitung erfährt der Einzelne in der Gemeinschaft der Pilger Solidarität und Bestärkung. Eine besondere Qualität haben gemeinsam vollzogene spirituelle Übungen oder Riten und Liturgien. In dem Maße, in dem die Einzelnen sich darauf einlassen, kann dabei eine Atmosphäre des Friedens und des Bejahtseins entstehen, die deutlicher als sonst erfahren lässt, dass das Ersehnte keine Fiktion ist.

Vonnöten ist schließlich auch ein vernünftiges Lehrsystem, in dem die Erfahrungen vieler zu Thesen oder „Lehrsätzen“ verdichtet sind. Dieses zu kennen ist nicht das Gehen des Weges selbst, sondern quasi die Landkarte. Sie erlaubt, den eigenen Weg einzuordnen, zu deuten und zu verstehen. Unverstandenes, wie emotional bewegend der Auslöser dafür auch gewesen war, wird über lang oder kurz vergessen, ohne weitere Spuren im Leben zu hinterlassen.40 Das Vorliegen eines solchen Systems und seine Vernünftigkeit bieten eine gewisse Gewähr dafür, nicht einer wirren, rational kaum nachvollziehbaren Ideologie verfallen zu sein. Außerdem entstehen mit dem Interesse am spirituellen Weg wie von selbst im weitesten Sinn „religiöse“ Fragen, die ein solches Lehrsystem klären und in einen größeren Zusammenhang einordnen kann. Doch genügen Lesen und Nachdenken allein nicht: Das Gelesene muss meditiert, „im Herzen bewegt“, immer und immer wieder bedacht werden, damit es sich verinnerlicht. Hier sehe ich den Ort der Meditation heiliger Schriften. Doch auch sie verweist weiter, nämlich auf das Gehen des Weges selbst. Ich erinnere nochmals an die bereits auf Seite 31 zitierte Begegnung des Gelehrten Nârada mit dem Weisen Sanatkumâra: Ans „andere Ufer des Leidens“ kommt man nicht durch Wissenschaft und Gelehrsamkeit, sondern nur, wenn man sich selbst in den Strom des Lebens und Leidens hineinbegibt: Man darf „vor der Nacht, den Dornen, der Enttäuschung, vor dem Sterben und sich selbst nicht davonlaufen“ (Rumi). Doch dazu bedarf es der Hilfe eines Weisen, der aus eigener Erfahrung und Reflexion weiß, wie das geht.

 

2.1 Verweilen in der Wahrnehmung der inneren Wirklichkeit hier und jetzt

Alle tiefer liegenden spirituellen Übungen verlangen eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf einen Punkt – ob das ein Wort, ein Mantra, ein Chakra, ein Bild, ein Atemzug oder was immer ist. Ich werde hier auf eine Übung näher eingehen, die die Aufmerksamkeit auf die eigene innere41 Wirklichkeit richtet und darin verweilt. Sie entspricht der buddhistischen Vipassana-Meditation.42 Ich wähle sie aus, weil sie als Methode meiner Intuition vom Beten, die ich am Ganges hatte (siehe S. 18), besonders entspricht. Darüber hinaus sehe ich in ihr folgende Vorteile:

– Sie fördert die Sammlung, die jede Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf einen Punkt braucht. Denn Sammeln geht grundsätzlich so, dass alles Zerstreuende und Ablenkende (innerer Wirklichkeit) angeschaut und angenommen wird. Konzentration auf ein vorgegebenes Objekt allein unter Abwehr von Störungen steht in der Gefahr, zur Verkrampfung zu führen und – à la longue – dem scheinbar Störenden seinen Platz zu verweigern.

– Sie macht es dem Übenden einfach, indem er sich von seinem Interesse für sein Inneres leiten lassen darf – und nichts meditieren muss, wozu er keine Lust hat.

– Sie definiert nichts als Störung der Aufmerksamkeit, die sie abweisen muss, wie das bei der Ausrichtung auf einen Gegenstand, wie einem Mantra, dem Atem usw. der Fall ist, und kann alles annehmen, was je jetzt da ist.

– Dadurch fördert sie die Kenntnis der inneren Wirklichkeit und ihrer Prozesse und vergrößert damit die Chance, die eigene Idiopolis zu enttarnen und zu ihren Fundamenten zu gelangen.

– Sie ist offen dafür, dass sich im Laufe der Übung und des Weges überhaupt das Interesse des Übenden und seine möglichen Meditationsgegenstände verlagern, etwa von leiblichen zu seelischen Phänomenen, weiter zu geistigen Gegebenheiten, bis schließlich „nichts“ seine Sehnsucht stillt.

Verweilen in der Wahrnehmung der inneren Wirklichkeit bedeutet ein Leben in Achtsamkeit, das umso mehr der Entschleunigung bedarf, je mehr die Achtsamkeit sich verfeinert. In der Wahrnehmung der inneren Wirklichkeit zu verweilen entspricht außerdem nicht dem üblichen menschlichen Verhalten. Die gravierendsten Unterschiede seien kurz genannt:

– Im Alltagsleben bekommen Aufmerksamkeit nur ungewohnte, auffallende oder besonders intensive innere Impulse. Gewohnte oder leise Impulse schaffen es nicht über die Schwelle der Bewusstheit. Hier aber wird Sensibilität für alle Regungen des Inneren regelrecht trainiert.

– Gewöhnlich wird von inneren Bewegungen, die bewusst werden, nur eine Stichprobe genommen. Sie werden, wenn überhaupt, eben registriert – und dann lenkt man sich ab oder grübelt nach. Hier geht es aber darum, während der Dauer der Übung (und darüber hinaus) bei dem inneren Impuls selbst zu verweilen, ihn im Kegel der Aufmerksamkeit zu halten, solange er da ist.

– Üblich ist, unangenehme innere Wirklichkeit zu vermeiden oder irgendwie wegzu„kriegen“, wenn sie doch ins Bewusstsein dringt, und umgekehrt Angenehmes herbeizuschaffen und festzuhalten, wenn es das Bewusstsein verlassen will. Hier ist zu lernen, diejenige Wirklichkeit, die hier und jetzt da ist, anzunehmen und da sein zu lassen, ohne sie zu manipulieren oder wegzukonzentrieren, gleich, ob sie angenehm oder unangenehm ist.

– Gelobt wird, sich um andere zu kümmern, um Familie, Freunde, Bedürftige. Hier aber geht es darum, sich auch um sich selbst zu kümmern, möglichst achtsam, gelassen und liebevoll; Zeit mit dem Menschen, der man selbst ist, zu verbringen, ihn zu erleben; quasi sich selbst zu besuchen, wie man seinen Freund oder seine Freundin besucht. Solches Verhalten wird oft mit dem Verdikt des „Kreisens um sich selbst“ belegt. Dieses Urteil übersieht, dass jeder Bürger der Idiopolis dies tut und Familie, Freunde und Bedürftige dabei benutzt. Hier geht es aber nicht um Kreisen um sich selbst, sondern im Gegenteil darum, sich der Wirklichkeit zu stellen, die dem Kreisen zugrunde liegt, um davon frei zu werden.

Bevor ich die einzelnen Elemente von „Verweilen in der Wahrnehmung der inneren Wirklichkeit hier und jetzt“ schildere, sei als Beispiel dafür eine kuriose Begebenheit aus einem ganz anderen Kontext berichtet: Paul Watzlawick schildert den Fall eines „unverheirateten Mannes mittleren Alters, dessen sehr zurückgezogenes Leben durch seine Agoraphobie – Angst vor Menschenansammlungen – kompliziert wurde. Da sich sein angstfreies Territorium dauernd verkleinerte, war es ihm schließlich nicht nur unmöglich, seiner Arbeit nachzugehen, sondern er fand sich auch von seiner unmittelbaren Nachbarschaft und damit von den alltäglichsten Erledigungen und Einkäufen abgeschnitten. Jeder Versuch, die immer engere Einkreisung zu sprengen, führte zu buchstäblicher Todesangst. In seiner Verzweiflung entschloss er sich, Selbstmord zu verüben, stieg in seinen Wagen und fuhr während der rush hour in Richtung auf einen 50 km entfernten Aussichtsberg los – überzeugt, dass schon nach kurzer Fahrt ein Herzschlag oder dergleichen seinem Elend ein Ende setzen würde. Zu seinem unbeschreiblichen Erstaunen kam er nicht nur lebend auf dem Berggipfel an, sondern fand sich zum ersten Mal seit vielen Jahren angstfrei.“43 Dieser Mann wusste nichts von „Verweilen im Bewusstsein des Inneren“. Sein Leben brachte ihn in unmittelbaren Kontakt mit seinem heillosen Inneren, und seine Autofahrt in der rush hour nötigte ihn, seine Angst für eine Weile annehmen und bei ihr aushalten zu müssen, und so fand er Befreiung. Doch hatte er den schweren Weg angetreten in der verzweifelten Hoffnung auf Erlösung aus seinem Elend.

Verweilen im Wahrnehmen

Die innere Wirklichkeit ist ein lebendiges Gewebe und Gewoge, kein starrer Monolith. Der Übende macht diejenige Facette seiner inneren Wirklichkeit zum Gegenstand seiner Meditation, die sein Interesse zu wecken vermochte. Nun verweilt er in ihrer Wahrnehmung, d. h., die Tätigkeit, die er sich auszuüben bemüht, ist Empfinden, Spüren, Fühlen, Erleben, Gewahren, Innewerden, Merken, nicht aber Denken oder Grübeln. Das wird ihm nicht so einfach gelingen, weil das Auftauchen einer solchen Facette im Bewusstsein sogleich Gedankentätigkeit auslöst. Sobald er dieser jedoch gewahr wird, hört er mit der Tätigkeit des Denkens auf und wendet die Aufmerksamkeit wieder jener inneren Wirklichkeit zu, die den Gedankenstrom evozierte. Übt er in dieser Weise, so wird über kurz oder lang eine andere Facette innerer Wirklichkeit aus dem Hintergrund hervortreten und anfangen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während ihm sein gegenwärtiger Meditationsgegenstand verblasst. Der Übende lässt dies geschehen und wendet sich, sobald er des Vorgangs inne wird, jener neuen Facette zu. Die Gegenstände seiner Wahrnehmung wechseln, die Tätigkeit des Wahrnehmens bleibt.

Diesen inneren Prozess betrachtet er wie ein Zuschauer, aufmerksam und gelassen. Er steuert ihn nicht, er interveniert nicht. Er beobachtet ihn, was umso besser gelingt, wenn gelassen, wach und liebevoll geübt wird. Auch innere Wirklichkeit, die nicht ist wie gewünscht oder vorgestellt, sollte liebevoll betrachtet werden, denn schließlich handelt es sich um einen Teil der eigenen Person hier und jetzt. So lernt der Übende seine inneren Prozesse kennen und unterscheiden. Er erfährt, dass Gefühle, Impulse, ob angenehm oder unangenehm, kommen und auch wieder gehen. Er versteht die Rhythmik der inneren Vorgänge und wie sie auseinander hervorgehen.

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