Der spirituelle Weg

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1.2 Idiopolis

In der Tat: Wir Menschen leben in einer eigentümlichen Welt. Obwohl wir uns diese idiosynkratische18 Welt selbst unbewusst konstruieren, ist sie dauerhaft, stabil, in sich schlüssig und systematisch. Sie bietet Orientierung und Assoziationen, hat eine gewisse (eigene) Logik, damit irgendwie auch einen (eigenen) Sinn und ist dem Bürger dieser Welt somit verstehbar. Vor allem erleben wir sie als vorgegeben. Denn die Konstruktion dieser eigentümlichen Welt geschieht unbewusst. Zunächst kennt jeder Mensch gar nichts anderes als sie, so dass er sie für die wahre Wirklichkeit halten muss. In Anlehnung an Jonathan Lear nenne ich diese unsere eigentümliche Welt „Idiopolis“19, da sie, wie die griechische Polis, durch Beziehungserfahrungen ihres Bürgers bestimmt ist. Auf der Ebene der Gesellschaft erlauben die individuellen Idiopoleis durchaus eine Verständigung über gemeinsame Belange. Auf diese Weise gehen sie in deren Kultur ein, die umgekehrt den Individuen genügend Spielraum lässt, so dass sie unbehelligt vom Gemeinwesen in je ihrer Idiopolis leben können.

Was macht die Eigentümlichkeit der Idiopolis gegenüber den je eigenen Welten aus, in denen z. B. auch der Pfarrer und der Busfahrer, die Börsenhändlerin und der Handwerker, Mann und Frau leben? Auch in ihnen haben Begebenheiten je unterschiedliche Bedeutung, sind mit unterschiedlichen Assoziationen verbunden und führen zu verschieden interpretierten Wahrnehmungen desselben Gegenstandes und zu unterschiedlichen Orientierungen. Doch sind diese „Eigenwelten“ durch bewusst übernommene gesellschaftliche Rollen konstituiert. Hingegen liegt der Konstruktion der Idiopolis der unbewusst wirkende Mechanismus der Verdrängung zu Grunde.

Verdrängung

Die menschliche Psyche verdrängt Begebenheiten, die ihr „unverträglich“ (Freud) sind, d. h. mit solchen Gefühls- und Erregungszuständen verbunden, dass die Psyche nicht ertragen kann, sie zu durchleben. Solche Erfahrungen schiebt sie ins Unbewusste und sichert so ihr Überleben.

Was sind solch unverträgliche Begebenheiten? Beispielsweise eine schlechte medizinische Diagnose. Es kommt vor, dass Menschen die Praxis verlassen und sich nicht mehr erinnern können, was der Arzt genau gesagt hat. Es ist verdrängt. Sie wissen nur noch, „dass sie Tabletten nehmen müssen“, weswegen es so schlimm ja nicht sein kann. Wenn schon Erwachsene nicht vor Begebenheiten gefeit sind, die ihre psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigen, um wie viel mehr trifft dies auf Kinder und Jugendliche zu! Tod oder Verlust eines Elternteils, von Geschwistern oder sonstwie nahestehenden Personen; Gewaltausbrüche in der Familie: der Vater misshandelt den Bruder vor den Augen der Kleinsten; betrunken schlägt er die Mutter windelweich und die Kinder müssen sie versorgen; Kinder, die für längere Zeit allein im Krankenhaus sind, die in einem Heim untergebracht werden müssen. Neben solchen, zumindest subjektiv katastrophenartigen und oft auch traumatisierenden Ereignissen gibt es die scheiternden Beziehungserfahrungen, die wieder und wieder gemacht werden, ja zum Stil des Familiensystems gehören. „Die psychodynamische Psychotherapie geht von der Grundannahme aus, dass seelische Störungen im Wesentlichen ihre Ursache in biografisch erworbenen Bindungs- und Beziehungsverletzungen haben.“20 Da sind die Eltern, deren gesamte Kraft in die Versorgung und Betreuung eines behinderten Kindes fließt, so dass von seinen Geschwistern erwachsenes Verhalten erwartet wird und diese mit ihren Kinder- und Jugendlichensorgen und -nöten gar nicht mehr wahrgenommen werden. Da ist der kleine Junge, der von seiner gefühlskalten Mutter dauernde Zurückweisung erfährt – oder ein anderer, der von seiner überaus bedürftigen Mutter zu ihrer emotionalen Befriedigung missbraucht wird; ein Vater, Kriegsteilnehmer, emotional unzugänglich, instabil, zu unberechenbaren Gewaltausbrüchen neigend oder dumpf vor sich hinbrütend; überängstliche Eltern, für die vor allem die schulischen Leistungen zählen, alle anderen Bedürfnisse des Kindes werden dafür hintangestellt; ein in seinem Selbstwertgefühl stark verunsicherter Elternteil, der die Achtung, die er sich selbst gegenüber nicht hat, in Abwertung, ja Ablehnung gegen die Kinder wendet….

Es gibt kein Heranwachsen und Leben ohne solche entweder katastrophenartigen Begebenheiten oder anhaltenden, unangemessenen Beziehungserfahrungen. Sie bilden das Fundament jener individuellen Idiopoleis, deren Eigentümlichkeit von der Gestörtheit des „Normalen“ bis zur pathologischen Existenz reicht.

Unbewusste Konstruktion der Welt

Durch Verdrängung verschwindet das Unverträgliche zwar aus dem Bewusstsein der Person, aber nicht aus ihrem Leben. Es äußert sich durch „Übertragung“ (Freud). Übertragung ist der Vorgang, der die Idiopolis auf den Fundamenten des Verdrängten errichtet. Sie vollzieht sich sowohl innerhalb der Psyche (intrapsychisch), als auch in Beziehungen (interpsychisch).

Worum geht es dabei jeweils? In der intrapsychischen Übertragung verbindet die Psyche das Verdrängte mit den Inhalten des Bewusstseins: Erkenntnissen, Erinnerungen, Gedanken, Wünschen usw. Wie tut sie das? Man kann es sich nach Art eines Deckblattes – die Bewusstseinsinhalte – und den darunter gestapelten Seiten eines Manuskripts – das Verdrängte – vorstellen. Das Deckblatt deckt einerseits das Manuskript zu, doch als Deckblatt dieses Manuskripts enthält es auch Hinweise darauf und Elemente davon. M. a. W.: Das Verdrängte ist zwar unbewusst, doch enthält das Bewusstsein Hinweise darauf – so wie ein Traum Hinweise auf verbotene Wünsche enthält. Umgekehrt bekommen die Bewusstseinsinhalte aus dem Verdrängten, ohne dass der Bewohner der Idiopolis von dem Vorgang weiß, eine eigentümliche Bedeutung, einen idiosynkratischen Sinngehalt zugewiesen – so wie der Traum Elemente des draußen Erlebten verfremdet und in einer Weise arrangiert, dass sie einen verbotenen Wunsch repräsentieren können.

Wenn z. B. ein Missbrauchsopfer Todesangst bei rhythmischem Klatschen erleidet, dann erlebt es kaum nur Klatschen: Das Klatschen bekommt unbewusst eine Bedeutung, die auf den Missbrauch hinweist. Wenn ein an sich berechtigter, sogar auch harmloser Wunsch durch rigorose „Moral“ abgewehrt, wenn eine Unflexibilität an den Tag gelegt wird, die weder zur Situation noch zum Handlungsentwurf passt, dann spielt sich im Bewusstsein der entsprechenden Personen „mehr“ ab als das, was das Hier und Jetzt beinhaltet: Die aktuelle Situation rührt irgendwie an Verdrängtes. „Blinde Flecken“ – die Unfähigkeit, manches eigene Verhalten zu erkennen –, Wahrnehmungsausfälle, Konzentrationsstörungen, verstiegene Interpretationen, (Freudsche) Versprecher sind weitere Beispiele für unsere „normale Ver-rücktheit“, in der mittels Einfärbung durch verdrängte Erfahrungen, wovon wir nichts wissen, die wahre Wirklichkeit durch eine eigentümliche Welt ersetzt wird.

Neben diesem Übertragungsvorgang innerhalb der Psyche artikuliert sich das Verdrängte auch in Beziehungen. In der interpsychischen Übertragung weist die Psyche den Personen ihrer Mitwelt unbewusst Rollen und eine Art der Beziehung zu, die den realen Personen und Beziehungen jetzt und hier nicht entspricht. Denn im Grunde wiederholt sie unbewusst eine frühere Beziehungserfahrung, indem sie sie nun reinszeniert. Der Übertragende weiß nicht darum, dass die Gefühle, Wünsche, Erwartungen, die er jetzt und hier hat, ja sein gesamtes Erleben der gegenwärtigen Beziehung cum grano salis genau so ist wie in einer früheren Beziehung mit einer ganz anderen Bezugsperson. Er ahnt nicht, dass er seinem aktuellen Gegenüber eine Rolle aufdrängt, nämlich sich zu verhalten wie die damalige Bezugsperson. Sein Gegenüber hier und jetzt fühlt sich deshalb nicht frei, zu sein, zu reden und sich zu verhalten, wie es ist. Der Übertragende ist, je nach dem Ausmaß seiner Übertragung, unfähig, einer anderen Person offen und unvoreingenommen zu begegnen – somit eigentlich unfähig zu Beziehung. Hinzu kommt, dass jede Infragestellung des aktuellen Beziehungsgeschehens vom Bewohner der Idiopolis direkt als Bedrohung seiner Welt angesehen wird. Deren Fall würde seine verdrängten Gefühle und Konflikte ins Bewusstsein heben. Also verteidigt er die Grenzen seiner Idiopolis so vehement wie die Griechen ihre Polis gegen eine Horde herandrängender „Barbaren“.

Ich entsinne mich einer Frau, die ihre Verletztheit wie das Allerheiligste in der Monstranz vor sich hertrug und den Mitmenschen die Rolle von Katholiken zuwies, die in ehrfürchtigem Staunen und anbetendem Niederknien zu verharren hatten. So werden die Personen der Mitwelt hier und jetzt in gewisser Weise zu „Denkmälern“ für problematische Beziehungserfahrungen in der Vergangenheit gemacht. Treffen Bürger und Bürgerin der Idiopolis auf ein solches „Denkmal“, geraten sie in ihren alten Film und erwarten von ihrem aktuellen Gegenüber das Verhalten, das sie aus diesem Film kennen.

Das Phänomen Übertragung findet nicht nur im therapeutischen Setting statt, sondern überall. Wie gesagt, handelt es sich dabei um eine merkwürdige, eigentümliche Welt, in der man lebt, ohne selbst darum zu wissen. Besonders zum Tragen kommt sie im Umgang mit Autoritäten, in Teams und überall dort, wo Menschen einander häufig oder nahe erleben. Auch Lebenspartner wissen ein Lied in vielen Variationen davon zu singen. Mühsam müssen sie durch viele Konflikte hindurch lernen, dass der Partner oder die Partnerin nicht wie z. B. der eigene Vater oder die eigene Mutter ist ; dass er oder sie die eigenen unausgesprochenen Erwartungen nicht kennt; dass man selber Verantwortung für sich und seine Wünsche übernehmen muss usw. Normalerweise verstärkt sich das Phänomen Übertragung bei Stress, also bei Prüfungen, Arbeitseinstieg und -verlust, Heirat und Scheidung, in Krankheit, Alter, Verlusten …

 

Platos Höhlengleichnis

In der Geistesgeschichte taucht immer wieder die Intuition auf, dass wir Menschen die Wirklichkeit letztlich nicht erkennen. Da ist Kants „Ding an sich“ : unerkennbar, da menschliches Erkennen die Vorstellung von Raum und Zeit sowie bestimmte Kategorien an die Wirklichkeit heranträgt ; immerhin reiche, so Kant, unser Erkennen aus für (Natur-) Wissenschaften. Schopenhauer wird das „Ding an sich“ als Lebenswille postulieren. Andere psychologische Schulen als die Freudianer sehen die Idiopolis nicht nur oder nicht vor allem durch das perönliche Unbewusste geprägt; nach Jung spielen in ihr auch das kollektive Unbewusste und die Archetypen eine Rolle. Buddha erkennt als Ursache des Leidens die durch Gier, Hass und Ignoranz entstellte Wahrnehmung des Menschen, in der er die wahre Natur der Dinge nicht sehen kann.21 Jesus redet zu den Volksscharen deshalb in Gleichnissen, „weil sie sehen und doch nicht sehen, weil sie hören und doch nicht hören und nichts verstehen. … Denn das Herz dieses Volkes ist hart geworden“ (Mt 13,13.15). Die Erkenntnis der Wirklichkeit hängt am Herzen des Menschen.

In die Reihe solcher Intuitionen gehört auch Platos Höhlengleichnis (Der Staat, VII. Buch). Es kommt der Sache nach der Idiopolis frappierend nahe und vermag sie zu veranschaulichen. Deshalb soll es jetzt in Auszügen wiedergegeben werden:

„Stelle dir nämlich Menschen vor“, sagt Sokrates, der das Gleichnis erzählt, zu seinem Gesprächspartner, „in einer höhlenartigen Wohnung unter der Erde, die einen nach dem Lichte zu geöffneten und längs der ganzen Höhle hingehenden Eingang habe, Menschen, die von Jugend auf an Schenkeln und Hälsen in Fesseln eingeschmiedet sind, so dass sie dort unbeweglich sitzen bleiben und nur vorwärts schauen, aber links und rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen vermögen; das Licht für sie scheine von oben und von der Ferne von einem Feuer hinter ihnen; zwischen dem Feuer und den Gefesselten sei oben ein Querweg; längs diesem denke dir eine kleine Mauer erbaut, wie sie die Gaukler vor dem Publikum haben, über die sie ihre Wunder zeigen.

Ich stelle mir das vor, sagte er.

So stelle dir nun weiter vor, längs dieser Mauer trügen Leute allerhand über diese hinausragende Gerätschaften, auch Menschenstatuen und Bilder von anderen lebenden Wesen aus Holz, Stein und allerlei sonstigem Stoffe, während, wie natürlich, einige der Vorübertragenden ihre Stimme hören lassen, andere schweigen.

Ein wunderliches Gleichnis, sagte er, und wunderliche Gefangene!

Leibhaftige Ebenbilder von uns!, sprach ich. Haben wohl solche Gefangene von ihren eigenen Personen und voneinander etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, die von dem Feuer auf die ihrem Gesichte gegenüberstehende Wand fallen?


Abbildung: Die Einrichtung von Platos Höhle 22

Unmöglich, sagte er, wenn sie gezwungen wären, ihr ganzes Leben lang unbeweglich die Köpfe zu halten.

Ferner, ist es nicht mit den vorübergetragenen Gegenständen ebenso?

Allerdings.

Wenn sie nun miteinander reden könnten, würden sie nicht an der Gewohnheit festhalten, den vorüberwandernden Schattenbildern, die sie sahen, dieselben Benennungen zu geben?

Notwendig.

Weiter: Wenn der Kerker auch einen Widerhall von der gegenüberstehenden Wand darböte, sooft jemand der Vorübergehenden sich hören ließe, glaubst du wohl, sie würden den Laut etwas anderem zuschreiben als den vorüberschwebenden Schatten?

Nein, bei Zeus, sagte er, ich glaube es nicht.

Überhaupt also, fuhr ich fort, würden solche nichts für wahr gelten lassen als die Schatten jener Gebilde!

Ja, ganz notwendig, sagte er.“

Das „wunderliche Gleichnis“ und die „wunderlichen Gefangenen“ sind „leibhaftige Ebenbilder“ der Menschen und ihrer Lage. Für die Bewohner von Platos Höhle besteht die Wirklichkeit ausschließlich aus den Schatten der Objekte auf der Wand ihnen gegenüber, die den Horizont ihrer Welt darstellt. Sie kennen nichts anderes. Wie sollten sie auf die Idee kommen können, dass es sich lediglich um Schatten handelt, nicht um die Objekte selbst?

Idiopolitischer Alltag

So grau, wie die Verhältnisse in Platos Höhle, ist auch das Leben in der Idiopolis. „In einer Idiopolis können die Ereignisse des täglichen Lebens keinen Einfluss erlangen, weil sie in ihr schon eine feste Bedeutung zugeteilt bekommen haben.“23 Ein farbloses, unlebendiges Leben ist die Folge. Wie der Höhlenbewohner ist auch der Bürger der Idiopolis gefangen in starren Verhaltensmustern und eigentümlichen Riten, denen schablonenhafte, nicht anpassungsfähige Wahrnehmungsmuster zugrunde liegen. Der Fremde, der bei jemandem Händewaschen im Abstand weniger Minuten erlebt, wird dies als Zwangshandlung verstehen. Dazu befragt, wird der Bewohner der Idiopolis jedoch eine Erklärung abgeben können, inwiefern sein Handeln sinnvoll ist. Oder der viel zu große und für den eigenen Geldbeutel viel zu teure Daimler muss es sein, „in keinem anderen Wagen finde ich Platz“! Starre Verhaltens- und Kommunikationsmuster steuern das Leben, so dass sich bei mehr als einer Tischgesellschaft der Gedanke aufdrängt, man könne ohne Verlust die Anwesenden durch Grammophone ersetzen: Jeder spielt seine Platte! Beispiele: Mareike nimmt Kontakt stets über Konflikt auf. Peter kommt verlässlich zehn Minuten zu spät. Dennis spielt den Clown, sobald die Stimmung heikel wird. Wolfgang macht jeden bei jeder Gelegenheit zum Schüler, Fabian gibt atem- und endlos Allgemeinplätze von sich. Rigidität und Mangel an Flexibilität prägen das Verhalten in der Idiopolis.

Auch wenn ein Bewohner der Idiopolis spürt, dass es ihm nicht wirklich gut geht, auch wenn er ahnt, dass er Probleme hat, geht er diesen Spuren nicht nach. Er überprüft dieses wissende Unwissen nicht, verschafft sich keine Klarheit. Statt sich seinem Inneren zuzuwenden, lebt er lieber im Halbdunkel weiter – solange es geht.

Gefesselt, wie sie sind, gibt es für die Gefangenen in Platos Höhle als „Gegenüber“ nur die Schatten der wirklichen Objekte, so wie die Mitmenschen für den Bewohner der Idiopolis lediglich Schatten, „Denkmäler“ von Personen aus der Vergangenheit sind. Letztlich sollen sie ihm durch ihr Verständnis bestätigen, dass – entgegen seinen Ahnungen – doch alles gut bestellt ist in seiner Welt. Zu einem eigenständigen, unabhängigen Kommentar werden sie weder eingeladen noch ist er erwünscht, und noch viel weniger willkommen sind Initiativen oder Ansprüche. „Schattenhafte“, oberflächliche Kontakte: ja! Doch echtes Gegenüberstehen, Konfrontation, persönliche Auseinandersetzung, wirkliches einander Spüren – Begegnung eben –, womöglich Konflikt und Klärung: nein! Daher sind echte Beziehungen nicht oder nur eingeschränkt möglich. Aus dieser Quelle können dann dem Bewohner der Idiopolis auch keine Energie, kein Leben, keine verlässliche Orientierung zufließen. Wie in der Höhle herrschen in seiner eigentümlichen Welt Isolation und Unklarheit.

Was bleibt also den jeweiligen Bewohnern ihrer Idiopolis? Ein in Gedanken Kreisen um sich selbst: in endlosen Schleifen und Wiederholungen; in Phantasien, die nicht überprüft werden können – sie könnten! Da dies jedoch riskant ist, unterbleibt es – in nicht verstummenden Gedankenströmen aus Kommentaren, Beschwerdeführungen, unhaltbaren Vorsätzen; Planungen, was man alles tun könnte, wenn dies oder jenes der Fall wäre; in immer wieder neuen Analysen von Situationen und Tatfolgen; in der skrupulanten Überprüfung von Wünschen auf ihre Erlaubtheit, von Szenarien auf die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens; in immer neuen Deutungsversuchen von mit anderen erlebten Szenen, deren Ergebnisse immer wieder neu verworfen werden, wodurch die nächste Runde dieser Selbstbeschäftigung eingeläutet wird.

Kein Wunder, dass auch die Weltanschauung des Bewohners der Idiopolis dessen „Pathologie“ widerspiegelt und zugleich legitimiert. Mit „Weltanschauung“ meine ich die Gesamtheit der Bedeutungen, die eine Person „Gott und der Welt“, also allem, was in ihrem Leben vorkommt, beimisst. Insbesondere der Eifer, mit dem Normen durchgesetzt werden und Anfängen gewehrt wird, die Radikalität von Maßnahmen, die zur Abwehr von Gefahren stets angezeigt erscheint, der doktrinäre Umgang mit Regeln und Prinzipien, die Rigorosität in der Einteilung der Welt in gut und böse, der Taten in richtig und falsch, der Menschen in Freunde und Feinde, Zugehörige und Eindringlinge: Das alles weist darauf hin, dass es nicht wirklich um Vernunft, Maß, Ethos, Hochhalten eines Wertes um dessentwillen in Freiheit geht. Vielmehr amtet hier ein strenges Über-Ich als Anwalt der eigenen Innenwelt. Seine Aufgabe ist es, die eigene Person vor starken, konfliktbesetzten Impulsen zu schützen, indem es alles verbietet, was an das Verdrängte und die mit ihm verbundenen schlimmen Gefühle zu rühren droht. Unten muss zugleich auch die Wut gehalten werden, die als Folge der Abwehr von Wünschen entsteht. „In der Idiopolis … ist ein glückliches Leben nicht möglich, weil sie in sich prinzipiell von Konflikten beherrscht ist.“24

Auch die Sprache des Bewohners der Idiopolis ist beeinträchtigt: Das unbewusste Ausstatten der Wirklichkeit mit idiosynkratischer Bedeutung und idiosynkratischen Assoziationsnetzen macht sie tendenziell zum „Idiolekt“. Sie ist nicht in dem Sinn Privatsprache, wie Kinder manchmal einen eigenen Wortschatz erfinden und andere damit ausschließen. Sondern: An vollständigen, grammatikalisch richtigen Sätzen, perfektem Deutsch geschieht es, dass der Zuhörer sich daran abarbeitet, deren Bedeutung zu verstehen. Nachfragen, wenn man es überhaupt wagt, lösen einen neuen, meist länglichen Erklärungsschwall gleichen Zuschnitts aus. Er stürzt den Zuhörer in umso größere Verwirrung, je mehr dessen Verständnisansätze und Unterscheidungen einfach ignoriert werden.

Widerstand gegen die Befreiung

Nein, glücklich ist diese triste, beziehungslose, unfreie, starre, unter Dauerspannung stehende Welt keineswegs. Doch ihr Bewohner ist an sie gewöhnt. Er kennt sich in ihr aus, kommt einigermaßen mit ihr zurecht, hat sich arrangiert. Sie entsteht ja als Ort des Überlebens gegenüber einer Wirklichkeit voll „unverträglicher Begebenheiten“ oder dauernder Beziehungsfrustrationen. So ist der Preis zu ermessen, den der Bewohner der Idiopolis bezahlt für das von ihm aufrechterhaltene Leben in der Höhle. Man könnte versucht sein zu meinen, mit fliegenden Fahnen verlasse er seine Schattenwelt und ziehe voll Freude in die wahre Wirklichkeit, sobald man ihn darüber aufklärt, wo er sich befindet. Mitnichten! Um welch langwierigen, schmerzvollen Prozess es sich beim Verlassen der Höhle (Idiopolis) handelt, wie viel Unverständnis, Verwirrung, Desorientierung er auslöst, auf welch große Schwierigkeiten er trifft, dies macht Plato seinem Gesprächspartner am Ende seines Gleichnisses klar:

„Betrachte nun, fuhr ich fort, wie es bei ihrer Lösung von ihren Banden und bei der Heilung von ihrem Irrwahne hergehen würde, wenn solche ihnen wirklich zuteil würde: Wenn einer entfesselt und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzudrehen, herumzugehen, in das Licht zu sehen, und wenn er bei allen diesen Handlungen Schmerzen empfände und wegen des Glanzgeflimmers vor seinen Augen nicht jene Dinge anschauen könnte, deren Schatten er vorhin zu sehen pflegte: Was würde er wohl dazu sagen, wenn ihm jemand erklärte, dass er vorhin nur ein unwirkliches Schattenspiel gesehen, dass er jetzt aber dem wahren Sein schon näher sei und sich zu schon wirklicheren Gegenständen gewandt habe und daher nunmehr auch schon richtiger sehe? Und wenn man ihm dann nun auf jeden der vorüberwandernden wirklichen Gegenstände zeigen und ihn durch Fragen zur Antwort nötigen wollte, was er sei, glaubst du nicht, dass er ganz in Verwirrung geraten und die Meinung haben würde, die vorhin geschauten Schattengestalten hätten mehr Realität als die, welche er jetzt gezeigt bekomme?

Ja, bei weitem, antwortete er.

Und, nicht wahr, wenn man ihn zwänge, in das Licht selbst zu sehen, so würde er Schmerzen an den Augen haben, davonlaufen und sich wieder jenen Schattengegenständen zuwenden, die er ansehen kann, und würde dabei bleiben, diese wären wirklich deutlicher als die, welche er gezeigt bekam?

 

So wird’s gehen, meinte er.

Wenn aber, fuhr ich fort, jemand ihn aus dieser Höhle mit Gewalt den rauen und steilen Aufgang zöge und ihn nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne herausgebracht hätte, würde er da wohl nicht Schmerzen empfunden haben, über dieses Hinaufziehen aufgebracht werden und, nachdem er an das Sonnenlicht gekommen, die Augen voll Blendung haben und also gar nichts von den Dingen sehen können, die jetzt als wirkliche ausgegeben werden?

Er würde es freilich nicht können, sagte er, wenn der Übergang so plötzlich geschähe.

Also einer allmählichen Gewöhnung daran, glaube ich, bedarf er, wenn er die Dinge über der Erde schauen soll.“

Seine Fesseln kann der Höhlenbewohner nicht alleine lösen. Selbst wenn er es könnte, ohne Begleitung von außen ist er nicht in der Lage, sich aus der Höhle hinauszubewegen in das schmerzhafte Licht. Er leistet Widerstand. Geradezu „nötigen“ und „zwingen“ muss ihn Sokrates’ Befreier, „mit Gewalt“ zum Höhlenausgang ziehen. Nicht umsonst bewertet Freud die Übertragung als „stärksten Widerstand“25 gegenüber dem Fortschritt in der Therapie. „Das Freudsche Konzept … sieht den Patienten auf die Befriedigung infantiler Wünsche fixiert. Diese Befriedigung will er aufrecht erhalten und somit auch seine Psychopathologie. Der Behandlung wird heftigster Widerstand entgegengebracht, um die infantilen Wünsche nicht aufgeben zu müssen. Die unbewusste Wiederholung kindlicher Beziehungserfahrungen in der Übertragung wird vom Lustprinzip und dem Wiederholungszwang bestimmt und dient dem Festhalten am Vertrauten.“26 Was ist unter den „infantilen Wünschen“ zu verstehen? Kinder möchten ausgefüllt sein, satt, sich rundum wohl fühlen, Unterhaltung und Abwechslung haben, versorgt werden, ohne Verantwortung dafür zu tragen, Lust genießen und Spaß haben, sich vergnügen, ausreichend Beachtung finden, ja im Mittelpunkt stehen, möglichst immer der Bestimmer sein, der Sieger, bewundert, anerkannt, beachtet, der Liebste, Beste, Schönste. Und sie wehren sich dagegen, jeglichen Mangel, Schmerz oder Entbehrung zu erleben. Kommt das Streben nach solcher Erfüllung dem Ideal des Lebens in unserer Gesellschaft nicht erschreckend nahe? Wie, wenn auch dieses Ideal in Wahrheit Widerstand gegen das Erwachen zur wahren Wirklichkeit wäre, kollektive Wirklichkeitsflucht?

Die Dekonstruktion der Idiopolis

An kritischen Hinweisen und Enttäuschungen, die dem Bewohner und der Bewohnerin der Idiopolis das Gefühl geben müssen, dass in ihrer Welt nicht alles gut ist, dass sie nicht glücklich ist, wird es vermutlich nicht fehlen. Dunkel ahnen sie, dass manche ihrer Überzeugungen falsch sind und sie hemmen. Daher haben sie – bei allem Widerstand gegen eine Veränderung – auch eine starke innere Motivation, dass das Leben sich zum Besseren, Glücklicheren wandelt.27 Der Angst vor der Veränderung kann dann begegnet werden, wenn die Bedürfnisse nach Sicherheit und nach Vermeidung von Gefahr anerkannt und akzeptiert werden und ihnen hinreichend Rechnung getragen wird.28 Ohne eine andere Person, die Annahme und Halt gewährt, können kaum Einsichten erworben und Verhaltensweisen entwickelt werden, die denen geradezu entgegengesetzt sind, die das Leben in der Idiopolis bestimmen: Gefühle und Wünsche nun zulassen, statt sie zu unterdrücken; Gedanken und Phantasien überprüfen, statt in ihnen zu kreisen; Misserfolge, Scheitern, kritische Hinweise an sich heranlassen und ernst nehmen, statt sie ins idiosynkratische System einzuordnen; Konflikte austragen, statt sie zu verleugnen oder den Kontrahenten aus dem Weg zu gehen. „Wollte jemand diese Konflikte weiterverfolgen, so schmerzhaft sie auch sein mögen, würde er sich letzten Endes durch sie durcharbeiten und eine bessere Ausgangsposition erreichen als vorher – näher am Ausgang der Höhle.“29 Das bedeutet, dass die Fähigkeit, sich auch des Unangenehmen bewusst zu werden und ihm standzuhalten, eine Kernkompetenz ist bei diesem Exodus aus der Unfreiheit. Das ist das Gegenteil des bisher selbstverständlich Praktizierten, nämlich Unangenehmem auszuweichen und Kompensationen außen zu erstreben. Die notwendige Umkehr könnte fundamentaler nicht sein!

Der Bewohner der Idiopolis versteht sich vorwiegend als Opfer. Schuld an seiner unbefriedigenden Situation sind die anderen: die Eltern und andere für ihn wichtige Personen, die Gesellschaft, die Umstände, das Schicksal, Gott. Natürlich haben sie alle Einfluss auf ihn genommen. Damit muss er sich auseinandersetzen. Er soll betrauern und beweinen dürfen, was ihm faktisch an Liebe und Zuwendung vorenthalten und an Unrecht, Unbarmherzigkeit, Härten und Wunden zugefügt wurde. Und nicht nur betrauern. Unter der Trauer soll er auch den Schmerz und die Wut durchleben. Ins Licht seines Bewusstseins tritt außerdem nach und nach die Einsicht, wie seine starre, idiosynkratische Welt nicht nur Misserfolge und Scheitern in seinem Leben verursacht, sondern auch Leiden im Leben anderer Menschen verschuldet. Er ist Opfer, das zudem zum Täter geworden ist. So gelangt er über Jahre und Jahrzehnte zu einer gerechteren Beurteilung seiner früheren wichtigen Bezugspersonen. Er kann den Unheilszusammenhang erkennen, in dem diese ihrerseits stehen oder standen, und ihr Verhalten besser verstehen. Er wird des „Täter-Opfer-Täter-Reigens“ inne, den die Menschen miteinander tanzen, bis die Opfer beginnen, ihren Tätern zu vergeben.30 Notwendig ist eine Versöhnung mit dem eigenen Geschick. Denn in dem Maße, in dem man ja sagen lernt zu dem Menschen, als den man sich bei nüchterner Betrachtung vorfindet; in dem Maße, in dem man die Verantwortung für sein Lebensglück nicht mehr bei anderen sucht, dem Partner etwa oder dem Chef, sondern sie selbst übernimmt, verliert die Idiopolis an Macht über das eigene Leben, und es wird frei.

Wie kommt der Bewohner einer Idiopolis auf diese Fährte, wie kann er die grundlegende Lebenswende vollziehen? Er braucht die Hilfe anderer Menschen. Ohne sie vermag er nicht einmal zu bemerken, dass er sich in einer eigentümlichen Welt befindet. So sieht das schon Plato in seinem Höhlengleichnis. Es braucht Außenstehende, Mann oder Frau, die Erfahrung haben mit solchen Prozessen, die den Kampf um die Befreiung selbst gekämpft haben und in der Lage sind, den Höhlenbewohner der Wirklichkeit, wie sie ist, entgegenzuführen. Dies umso mehr, als man ihm das Ziel nicht anpreisen kann. Wie soll er, der nur Schatten kennt, ermessen, was Leben in der wahren Wirklichkeit bedeutet, was Begegnung in Wahrheit ist? Das alles sind nur Worte, deren wirklicher Sinn ihm langsam aufgehen wird. Die haltende und ernst nehmende Beziehung mit den hilfreichen anderen wird lange Zeit das Ferment sein, das ihn den Weg weitergehen lässt.

Sünde

Wenn für die Religionen Asiens die grundlegende Problematik ist, „ans andere Ufer des Leidens“ zu gelangen, so besteht sie für Juden und Christen in der Erlösung von der Sünde. Zu diesem schwierigen und oft missverstandenen Begriff möchte ich hier ein paar Anmerkungen machen; das Thema „Idiopolis“ legt sie nahe. „Sünde“ bedeutet das Leben in der Idiopolis. Das mag überraschen, weil wir gewohnt sind, das Phänomen Sünde – hier im Singular und so theologisch gleich Erbsünde – von Seiten der Sünden (Plural) anzugehen: der kleinen und großen Fehler; der mehr oder weniger frei und bewusst begangenen bösen Taten: Wir begreifen Sünde vom Standpunkt der Schuld her. Sünde ist aber viel grundsätzlicher die Verfehlung des Ziels des Menschen.31 Dieses Ziel wird erreicht, indem der Mensch sich öffnet, indem er hört. Sünde wäre dann ein Sich-Verschließen gegenüber allem, was zur Veränderung aufrufen könnte – so wie sich die Idiopolis gegenüber der wahren Wirklichkeit und gegenüber anderen, die ihr potenzielle Barbaren sind, verschließt. Sünde ist – wie die Idiopolis – eine unheilvolle Grundverfasstheit des Lebens, in der der Mensch sich vorfindet. Wie die Idiopolis kennt Sünde die Neigung zu Kompensationen und Mustern: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!“; die Feinde müssen gehasst, Böses muss vergolten werden (Mt 5); Sieg, Gewinn, Wachstum müssen erstrebt, der eigene Vorteil muss genutzt, Unangenehmes muss abgewehrt werden; ändern müssen sich die Verhältnisse, die andern, die Welt – nicht man selbst; Religion ist Handel zwischen Mensch und Gott; zwischen „uns“ und „denen“ muss unterschieden werden. Wer sein Ziel verfehlt, lebt so unerlöst wie der Bewohner der Idiopolis. Sünde verbirgt sich, widersetzt sich der Entdeckung – so wie die unbewusst errichtete Idiopolis. Sünde macht zu Sünden geneigt – wie auch die Idiopolis zur Schuld: Wer vor allem außen die Erfüllung sucht, kann durchaus hier ein wenig Gewalt, dort ein wenig Betrug ausüben, hier bestechen, dort Konkurrenten aus dem Weg räumen – um sein Ziel zu erreichen.