Kleists Michael Kohlhaas

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Die Romantik beheimatet konsequent dieses transzendentale Glücksmoment in der Nacht, im Tod und dessen christlichem Bild von der Wiederauferstehung: »selbst dann bin ich die Welt«195. Denn gerade die erfahrene Glückseligkeit in der Liebe schließt jegliche Kompatibilität mit einer Welt, in der die Herrschaft der toten Arbeit über die lebendige sich zur Totalität zusammengeschlossen hat, aus. Der volle Glücksanspruch, den das bürgerliche Zeitalter entwickelt hat und der nach idealistischer Auffassung in ihm sich zu erfüllen habe, weist radikal über dessen Schranken: die seiner Produktionsverhältnisse und deren ideologischen Überbau, in dessen Prokrustesbett sich die Vernunft zu legen habe, hinaus.

Kleist hat den Konflikt ebenso radikal erfasst wie die Romantik, aber konkreter, nicht so zugespitzt, durchgeführt. Die Fremdheit des individuierten ›An-sich‹– seiner Wahrheit – gegenüber dem historischen Sosein des Subjekts, führt zu inneren und äußeren Kollisionen. Die antike Einheit von Autonomie und Heteronomie im Grund der Wende erscheint als antagonistische Einheit beider im Verhältnis des Subjekts zum individuierten ›An-sich‹, das dem historisch bedingten Individuum sowohl als sein wahres Wesen als auch als Fremdheit gegenübertritt. Kleist hat den Amphitryon-Stoff als Medium der paradigmatischen Darstellung dieser Ambivalenz gefunden und ausgestaltet.196 Gelingt es, wie in der Marquise von O… und dem Prinzen von Homburg, das in sich zweideutige ›An-sich‹ in die dramatische Exposition zu legen, dann kann sich die dramatische Form aus sich heraus entfalten und den Stoff als rezeptives Medium des Konflikts durchgestalten. Macht, als Verinnerlichung von Herrschaft im Subjekt, erscheint als Quelle der Fremdheit des Subjekts gegenüber der Wahrheit seiner Zwecke. Außerdem setzen reale Mächte den Zwecken Widerstand entgegen, die die Verstellung und Verwechslung bekräftigen. Wenn Proust sagt, es sei Zufall, ob ein Mensch seines Glückes innewerde, so hat schon Kleist die Bedingungen dieses Zufalls aufgedeckt. Es geht also bei Kleist nicht um die Probe irgendeines Gefühls, sondern um die ästhetische Reflexion der Bedingungen, unter denen den Subjekten ihre Vorstellung des höchsten Gutes oder eines individuell gefassten Vernunftzwecks als Einheit von Freiheit und Heteronomie erscheinen muss.

An den zwei paradigmatischen Werken Kleists seien diese Überlegungen zusätzlich veranschaulicht: am Prinzen von Homburg und an der Marquise von O…, deren Interpretationen sich im Anhang finden.

Die dramaturgische Konstruktion und Durchbildung der Kleist’schen Werke ergibt, vereinfachend gesagt, drei Elemente: 1. Das in sich antagonistische individuierte ›An-sich‹ oder den moralischen Wunsch; 2. Die Verkennung oder Differenzerfahrung; 3. Die Wiedererinnerung (Anagnorisis) des individuierten ›An-sich‹. Man könnte diese Elemente auch als Phasen des dramatischen Prozesses bezeichnen, was aber nur cum grano salis gilt, da ihre Ausgestaltung unterschiedliche Akzente setzt und auch die Reihenfolge nicht fix ist. Darum ist diese Grobeinteilung nicht als eine »Formel«197 oder ein Schema zu verstehen, nach dem die Werke zu rubrizieren wären. Sondern es handelt sich in den einzelnen Werken jeweils um die Erfindung eines spezifischen Motivkomplexes, aus dem sich der gesamte wechselvolle Verlauf stimmig entwickeln lässt. Will man sich dabei auf eine Analogie zur Musik berufen, der Kleist selbst sich verpflichtet fühlte, so wäre Kleists Bemühung der der Ersten Wiener Schule vergleichbar, den dramatischen Verlauf des aus zwei ebenso einander entgegengesetzten wie aufeinander bezogenen Themen in der Sonatenhauptsatzform aus einem spannungsvollen und zugleich einheitlichen thematischen Material abzuleiten198. Der dramatische Verlauf gewinnt bei Kleist seine dialektische Einheit durch die ästhetische Reflexion a) auf das Verhältnis von Zweck und Weltzustand (als näherer Bestimmung des Zwecks und Entfaltung der Umstände seiner Realisierung); b) des Verhältnisses des Subjekts (oder der/des Protagonisten) zu diesem Verhältnis, d. h. zu seinem ganzen Zweck; woraus sich c) die Verhältnisse zu Antagonisten und Nebenfiguren herleiten. Außerdem impliziert d) der Versuch einer integralen Erfüllung des Formverlaufs eine kritische Selbstreflexion der ästhetischen Darstellungsweise, mithin des Scheincharakters der Kunst.

Aufgabe der Interpretation kann es nicht sein, »Formeln« aufzustellen, sondern sie muss die Stimmigkeit der Verknüpfung und Ableitung der Motive und Elemente sowie der Handlungsumschwünge en detail aufzeigen. Dies ist nur in einer sorgfältigen Einzelanalyse zu leisten.

Doch zunächst möchte ich zur weiteren Abgrenzung und Erklärung hier ausführlicher auf die Interpretation der Kleist’schen Dramaturgie von Beda Allemann199 eingehen.

Das Formelement, das ich als die dramaturgische Keimzelle des in sich antagonistischen individuierten ›An-sich‹ bezeichne, in der der moralische Wunsch und seine Beziehung auf die Realität spannungsvoll verschränkt sind, ist bei Allemann geahnt (und vielleicht intendiert, aber auch missdeutet) unter dem Begriff der Antizipation, des Antizipationsschemas oder der Antizipations-Formel. Diese Antizipation wird folgendermaßen definiert: »Es spiegelt sich darin die grundlegende Verfassung der Hauptfiguren Kleists. Sie alle tragen immer schon ein Bild künftigen Glücks, künftiger Erfüllung in sich, und weil sie es oft selbst nicht präzis zu benennen wissen, oder jedenfalls einem der Umwelt unverständlichen Gesetz folgen, indem sie diesem Bilde nachstreben und es in die Wirklichkeit einzuholen versuchen, müssen sie nach außen (und manchmal sich selbst) den Anblick von sinnverwirrten, unbegreiflichen Menschen bieten, im Extremfall von Kranken, Rasenden, Verrückten oder Behexten. In dieser Gestalt erscheint der Prinz Homburg dem kurfürstlichen Hof in der Anfangsszene, so das Käthchen von Heilbronn dem eignen Vater, so Penthesilea den kämpfenden Griechen und Trojanern und schließlich auch ihrem eignen Volk.

Der Zwiespalt, der sich zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit in all diesen Fällen zwangsläufig ergibt, hat seit langem im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Kleist-Forschung gestanden. Man hat versucht, diesen Zwiespalt auf bestimmte Begriffe zu bringen, die dann eine Grundpolarität der Kleist’schen Welt schlechthin bezeichnen würden.«200 »Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Antizipations-Formel bei Kleist eine allgemeine und gattungspoetologisch-formal beschreibbare Verfahrensweise, die als Vorwegnahme und Vorausdeutung mindestens dem Drama der geschlossenen, d. h. tektonischen Form seit jeher unentbehrlich ist, ausdrücklich (und darin liegt die entscheidende Innovation) in der ganzen Grund-Verfassung des Helden thematisiert und zur zentralen inhaltlichen Bestimmung seines Agierens wie seiner Passion macht. Damit aber ergibt sich eine Problematisierung der Heldenhandlung und ihrer dramaturgischen Funktion innerhalb der Gesamthandlung. Mit andern Worten: Kleists Spielanlagen reflektieren von Grund auf die Bedingungen der Möglichkeit antizipatorischen Handelns. Der Kleist’sche Held wird dadurch zum potenziert dramatischen Helden, daß die dramatische Form selbst, in ihrer Zielgerichtetheit, zur Substanz seiner Bühnenrolle wird. Zwar handelt zweifellos, und nicht nur bei Kleist, jeder dramatische Held zielgerichtet und konsequent – jedenfalls solange, als nicht der Begriff des dramatischen Helden selber fragwürdig wird, und davon kann bei Kleist, trotz aller Befremdlichkeit seiner Helden, kaum schon die Rede sein. Aber nicht alle Helden, sondern nur die Kleist’schen sind so angelegt, daß die Antizipation des Zieles als solche zum thematischen Grundzug ihres Bühnencharakters wird, unabhängig davon, ob sie ihr Ziel erreichen oder nicht und ob sie sich zu seiner Erreichung zunächst aktiv übereilen wie Penthesilea und wie der Prinz Homburg oder sich so fast völlig passiv verhalten wie das Käthchen.«201 Trotz vieler Worte gelingt es Allemann nicht, seinen Befund der Antizipation sprachlich davon abzugrenzen, dass der Held die Verkörperung eines höheren Prinzips sei. Zwar macht er sich die Mühe, Antizipation von Vorausdeutung abzugrenzen, versäumt es aber, den spezifischen Charakter der »antizipatorischen« Zwecksetzung Kleistscher Protagonisten gegenüber den Verkörperungen allgemeiner sittlicher Prinzipien, die als Ziele von Handlungen notwendig antizipatorischen Charakter haben, herauszustellen. Dabei vermag er sehr trefflich am Text die Charakteristik des höchsten Gutes herauszuarbeiten: »Penthesilea kann die Welt selbst, den Zusammenhang der Dinge, nur im Hinblick auf Achill wahrnehmen und verstehen.«202 »(V 2186) ›Pelide! Mein ewiger Gedanke, wenn ich wachte, / Mein ewger Traum warst du! Die ganze Welt / Lag wie ein ausgespanntes Musternetz / Vor mir; in jeder Masche, weit und groß, / War deiner Taten eine eingeschürzt.‹«203 Die Neigung Penthesileas und die Glückswürdigkeit Achills sind fraglos vorhanden und auch an göttlichem Einfluss fehlt es nicht: »Daß der Gott selbst der Penthesilea im Kampf den Achill als Gegner erscheinen lassen wird, von dieser Gewißheit war auch die sterbende Königin erfüllt, als sie ihrer Tochter sagte: (V 2137) ›Mars ruft dich! Du wirst den Peleiden dir bekränzen.‹ Tatsächlich ist eine Antizipation im Sinne Kleists kaum denkbar ohne eine geradezu göttliche Gewalt, die hinter ihr steht.«204 Allemann führt dies im Kapitel 1.2 Die Grundverfassung Kleistscher Helden sowie im Verlauf seiner Interpretation noch an weiteren Beispielen aus.

 

Auch damit, dass Allemann die Reflexion der Zwecksetzung in den Kleist’schen Dramen anspricht, ahnt er die ästhetisch durchgeführte Reflexion auf die Dialektik von Zweck und Verwirklichung mit der besonderen Rolle des ambivalenten Scheins darin. Aber er erkennt nicht, dass in diese Reflexion eine Kritik des Opfers eingeschlossen ist, da der dramatische Konflikt zwar wirklich, aber nicht substanziell ist. Darum muss bei Kleist allerdings (schon) davon gesprochen werden, dass »der Begriff des dramatischen Helden selber fragwürdig wird«205. Das hat aber nun nichts mit der unangefochtenen Unbedingtheit von dessen Zwecksetzung zu tun, die aus der spezifischen Erfüllung des moralischen Wünschens folgt, sondern aus der Konfliktkonstellation, die aus dessen Kollision mit einer nur scheinbar und ihrem eigenen Selbstverständnis nach vernünftigen, der Sache nach aber gemäß einer abstrakten, verdinglichten Allgemeinheit organisierten Realität erwächst. Diese ist falscher Schein, der nach seiner wirklichen Seite so mächtig ist, dass er das unbedingt wünschende Subjekt auch gegenüber sich selbst in die Selbstverkennung treibt. Davor schützt die Unbedingtheit den Helden keineswegs und aus den daraus den Stoff entwickelnden Bestimmungen ergibt sich der dramaturgische Verlauf. In ihn ist der Held substanziell eingebunden und er steht nicht, wie Allemann es schauspieltechnisch pointiert, im Mittelpunkt eines stationären Helden-»Über-Drama(s)«206, das mit dem Handlungsdrama letztlich nicht zu vermitteln sei. Allemanns zentraler Fehler ist, dass er die Antizipation, wenn ich sein Wort einmal aufnehme, nicht in ihrer antagonistischen Struktur erfasst. Das bedeutet dramaturgisch, dass er nicht erkennt, dass sie als solche exponierenden Charakter hat. Aus Kleists Werken lässt sich erschließen, dass Kleist das Ideal eines dramatischen Stoffes vorschwebt, bei dem, wie Goethe formulierte, »die Exposition schon ein Teil der Entwicklung ist«207. Darum muss die Exposition, die dadurch ihre Eigenständigkeit verliert, anstatt ein selbständiges statisches Heldendrama zu initiieren, nicht nur die Wende begründen, sondern auch die Verwicklung der Personen, ihre Verstrickung in Konflikte und Selbstzweifel und -missverständnisse. Allemanns Konzentration auf den angeblich zentralen Helden, verwehrt ihm die Einsicht in die ästhetische Integration, die die Kleist’sche Exposition durch das antagonistische individuierte ›An-sich‹ leistet. Der Anschein der Eigenständigkeit erwächst aus der Nähe zum Ideendrama. Denn Kleists Stücke reflektieren die beim Thema Glück unvermeidliche Dialektik von Unmittelbarkeit und Reflektiertheit. In deren Zentrum steht etwa im Amphitryon allerdings Alkmene, aber sie kann mit dem gleichen Recht als zweckerfüllte Heldin angesehen werden wie Jupiter oder die titelgebende Figur. Für Allemann scheidet Jupiter aus, da sich Allemann in liebevoller Mimesis an die Verkörperung eines Prinzips und an die Form des Lustspiels dazu verleiten lässt, Jupiter als einen Verführer und Nebenbuhler des Amphitryon anzusehen (»Intrigant«; »der göttliche Betrüger«208). Daraus aber wäre, zumal er schon in der ersten Szene erfolgreich war, nicht verständlich, warum er mit Alkmene so insistierend um seine Anerkennung als Geliebter kämpft, den er vom Gatten unterschieden wissen will (II, 5). (Vgl. zur näheren Ausführung der Dialektik von Unmittelbarkeit der Einheit im Schein und Bewusstsein von der Unterschiedenheit seiner Momente im Amphitryon die Interpretationsskizze im Anhang C 03).

Am Prinzen von Homburg lässt sich die integrale Bedeutung des Expositionsmotivs leicht zeigen. (Vgl. aber auch dazu die ausführliche Interpretation im Anhang). Allemann erkennt zwar en passant, dass der Handschuh von Bedeutung ist, er erfasst aber nicht wirklich dessen Bedeutung: nicht nur »ihm«, dem Prinzen, sondern auch nicht die, die sie für den Kurfürsten gewinnt. Denn im Verlauf des Stücks weiß der Kurfürst nicht um den Handschuh; als er davon erfährt, weiß er dessen Sinn und seinen Anteil daran zu würdigen; das wechselvolle Verhalten des Prinzen aber ist ohne den Bezug auf den Sinn, den er dem Handschuh entnimmt, nicht verständlich: weder sein blind übermütiges Vertrauen in der Schlacht, noch seine Verzweiflung, als er alles als Trug auffassen soll, noch die realitätsgerechte Selbstrestitution. Allemann verwickelt sich auf Grund seiner unzureichenden Begriffe bei der Interpretation des Homburg zwangsläufig in Widersprüche: a) die zentrale dramaturgische Folge der Antizipation ist nach Allemann ein stationäres Heldendrama. Nun ist aber eine Eingangsszene noch kein Drama. Dass dieses darüber hinaus als Antizipationsschema eine Erfüllung fordere, ist Allemanns Setzung; b) am Prinzen von Homburg zeigt sich, wie willkürlich diese fixierten Bestimmungen sind. Der Antizipationsheld hat nach Allemann keine Wahl. Nun kann keinem Leser des Stückes entgehen, dass sich der Prinz mehrfach umentscheidet, etwa, wenn er in synonymer Verwendung des Wortes »Wendung« als ›Formulierung‹ und ›Wende‹ = Peripetie sagt: »Ich denk’ mir eine andere Wendung aus.«209 Allemann selbst spricht dem Prinzen die Möglichkeit zu, sich für eine positive oder negative ›Erfüllung‹ seines Zweckes auszusprechen. Und als er nun die der »Unsterblichkeit«210 gewählt hat, braucht Allemann noch einen weiteren Grund, der die Wende verständlich macht, die der Kurfürst bewirkt. Ihre Motivation soll nun darauf beruhen, dass das Handlungsdrama wieder in das Heldendrama zurückgeführt werden müsse, obwohl dies doch durch die durch die »Unsterblichkeit« angeblich gegebene Erfüllung schon als geleistet anzusehen wäre. Dies sei notwendig und berechtigt, weil das Antizipationsschema aus der Einleitungsszene seine ›Erfüllung‹ fordere211. Der Widerspruch zwischen den beiden unvereinbaren ›Erfüllungen‹ des Schemas entgeht Allemann, weil er den zweiten Umschlag der Handlung als durch die von ihm angenommene Lustspielform der theatralischen Eingangsszene motiviert begreift.

Das von Allemann an den Dramen gewonnene Antizipationsschema hat eine Abwertung der Erzählungen zur Folge. Es müsse festgestellt werden, »daß sie nicht immer jene volle Konsequenz in ihrem Aufbau zeigen«.212 Das habe seinen Grund zum einen darin, dass den Erzählungen der Charakter von Gelegenheitsarbeiten anhafte; zum anderen teilt Allemann mit der Goethezeit die Auffassung vom höheren Rang des Dramas. Kleists Produktionen sind aber – wenn auch wider sein eigenes Denken – das beste Beispiel dafür, dass diese aus der normativen Gattungspoetik stammende formale Subsumtion und Hierarchisierung den Kunstwerken unangemessen ist. Von Allemann wird dagegen den epischen Werken Kleists eine Laxheit geradezu wohlwollend eingeräumt, was den Vorteil abwirft, den Interpreten davon zu entlasten, genau hinzuschauen. Das hat z. B. zur Konsequenz, dass Allemann, anstatt an der Beschränktheit seines Antizipationsschemas irre zu werden, die Ambivalenz im Glücksmotiv, die er an der Verlobung in St. Domingo sorgfältig herausstellt213, lediglich zum Beweisgrund für den »grundsätzlich […] freieren Gebrauch des Schemas in den Erzählungen«214 nimmt.

Die in den Erzählungen sehr viel diffiziler als in den Dramen ins Material eingebettete Begründung des ambivalenten Glücksmotivs wird von Allemann abgewertet zu einer Umkehrung der »antizipatorischen Fixierung aus der Vergangenheit heraus«215. Aber die auch dem Drama zwanghaft auferlegte Orientierung an der Zeitdimension der Zukunft, erweist sich als unfruchtbar. (Sie gilt z. B. überhaupt nicht für Amphitryon, wo es gar nicht um die Realisierung von Zwecken geht, sondern um die i. w. S. dialektische Begriffsbestimmung von sich in alle Zeitdimensionen erstreckenden habituellen Handlungen oder Empfindungen). Kohlhaas sei »kein völlig spezifischer Antizipationsheld, sondern wird [es, B. W.] erst durch die Fixierung auf ein geschehenes Unrecht […]«, denn »antizipatorisch ist lediglich der Gedanke der Rache um jeden Preis für die ihm widerfahrene Unbill.«216

Allemanns Fetischisierung der Zukunftsorientierung kulminiert darin, dass das Antizipationsschema als Zu-Erklärendes selbst zum Erklärenden deklariert wird: Zunächst nimmt Allemann die Zigeunerin aus dem Kohlhaas ganz äußerlich nur nach der Seite, dass sie über Zukunftswissen verfüge. Über das Wahrsagemotiv werde das Antizipationsschema drastisch versinnlicht und, da die Zigeunerin über Antizipation verfüge, dem Publikum von Kleist die Zukunftsgewissheit schlicht zugemutet. Der Allemann’sche Schluss lautet also: weil es bei Kleist Antizipation gibt, erklärt sich innerhalb der Handlung alles aus der Antizipation. Damit nun dieser Zirkelschluss nicht in der Luft schwebt, werden ihm biographische Verankerungen untergeschraubt. Allemann zitiert Kleists briefliche Äußerung: er empfinde »die gänzliche Unfähigkeit, mich anders, als durch die Zukunft auszusprechen.«217 Doch knicken trotz der argumentativen Schwerelosigkeit der Tautologie selbst diese Pfeilerchen weg, wenn man das herausgebrochene Zitat im Zusammenhang liest. Denn der Sinn des Sich-durch-die-Zukunft-Aussprechens ist es: »mich wegen des Vergangenen mit Ihnen auszusöhnen«, wie Kleist weiter an Marie von Kleist am 17. 09. 1811 schreibt. Die eindimensionale Fixierung auf die Zukunft ist verschränkt mit der Blindheit gegenüber der Bedeutung der Ambivalenz und Antithetik des ›An-sich‹-Themas. Das von Allemann analysierte angebliche Zerfallen der Handlungseinheit in eine statische Heldenhandlung und ein dynamisches Handlungsdrama ist eine künstliche Stilisation, da Allemann die im antagonistischen ›An-sich‹ liegende dynamische konstruktive Kraft übersieht und abwertet.

Weil er eine gewisse Nähe zu den Überlegungen Allemanns und den meinen aufweist, sei hier noch ein Beitrag von Clemens Lugowski218 erwähnt. Allerdings ist zu sagen, dass, wenn er seinem Vorbild Fricke nachweist, dessen Interpretation werde durch vorgefasste Begriffe in die Irre geleitet, so zeigt sich auch bei ihm, dass seine lebensphilosophisch gefärbten Begriffsraster die Sache nicht wirklich fassen können. »Fricke hätte sich selbst besser verstanden, wenn er durch den quälenden Formalismus seiner Terminologie, die seine Aussagen oft geradezu verfälscht, zu der Erkenntnis durchgestoßen wäre, dass sein ›Ich‹ gar kein Ich sondern eine andere Wirklichkeitsanschauung bedeutet.«219 Lugowski baut seine lebensphilosophisch geprägte Interpretation auf a) die Wirklichkeitsanschauung der »Unmittelbarkeit«, b) die Form des Kriminalromans und c) die Wirklichkeitsauffasung der isländischen Saga. »Die eigentliche Lebenskategorie Kleists ist die Unmittelbarkeit. Sein Wort dafür ist ›Gefühl‹. Sich richtig in der Welt verhalten, das heißt, unmittelbar zur Wirklichkeit sein, die immer im geschichtlichen Sinn meine und unsere Wirklichkeit ist. Kleists Helden wollen weder, noch können sie aus diesem unmittelbaren Verhältnis heraustreten. Wo ein Mensch das tut, da verdirbt er in der Luft des von Kleist übersteigerten Antimärchens. […]. Der Mensch setzt sich in den unbedingten Haltungen des Vertrauens, der Offenheit, der Liebe, des einfachen Tätigseins und im besinnungslosen Ergreifen seiner Bestimmung ein. Sie alle sind Wendungen des »Gefühls«. […]. Was in dichterischer Darstellung als wirklich gelten soll, überzeugt nicht durch kausale Bündigkeit, sondern ist von der Zeugenschaft des unmittelbaren Dabei- und Darinnenseins getragen.«220 Enthalten ist hier im Begriff der Unmittelbarkeit das, was Allemann die Unbedingtheit Kleistscher Helden nennt. Lugowski kennzeichnet sie noch näher: »In diesen ›Momenten tiefsten Beisichselbstseins‹, wie Fricke (106) sie nennt, in denen der Mensch nicht mehr Subjekt zu Objekten, sondern unmittelbar zu sich selbst ist, hält er seine schöpferische Pause im antigraven Ergriffensein durch das Leben.«221 Dies sind jedoch scheinkonkret bleibende Versuche, zusammenfassend dem näher auf den Grund zu kommen, was ich das »in sich antagonistische ›An-sich‹« genannt habe und das lieber so lange abstrakt bleiben muss/ soll, so lange es nicht im bestimmten Kleist’schen Werk auf den jeweiligen moralischen Wunsch oder die individuell aufgefasste Vernunftidee bezogen und in seiner spezifischen dramaturgischen Bedeutung entfaltet wird. Denn sonst besteht die Gefahr, wie bei vielen Interpreten, für die Fricke und Lugowski nur exemplarisch stehen, dass das »Gefühl« bloß intentional, subjektivistisch und letztlich irrational gefasst wird. – Enthalten ist in der zitierten Passage auch das Moment der Selbstverwirrung des Protagonisten. Aber diese wird nicht aus dem Problem der Zweideutigkeit der Realisierung des moralischen Wunsches innerhalb einer »Welt von Sachverhalten«222 oder des »Mittelbaren«223, wie Lugowski das verständige (kausale, indiziengläubige, juridische) Denken nennt, entwickelt. Darin widerspricht sich Lugowski selbst, denn es ist gerade die Form des Kriminalromans, die Lugowski in Anspruch nimmt, um den Weg des Protagonisten aus der Verwirrung darzulegen: »Im ersten Teil des Schemas ist das Wirkliche als kausalobjektiver Zusammenhang den jeweiligen Helden der Dichtung verhüllt. Diese Verborgenheit gilt aber nur für die allgemeingültige Erkenntnis. Dem kämpfenden Menschen aber ist seine Lebenswirklichkeit als einfaches Geschehen unwidersprechlich da. Kleist zwingt ihn dann mit den furchtbarsten Mitteln, in seinem Kampf ganz und gar und überhaupt auf allen Halt objektiver Erkenntnis zu verzichten; oder vielmehr, dieser vermeintliche Halt erweist sich in der Lebenswirklichkeit als schlimmster und verderblichster Irrwisch. Wenn nun dem Helden aus der Tiefe der Verzweiflung der Sprung in die Gewissheit des Unmittelbaren gelungen ist, dann wird die Weltordnung in jeder Beziehung wieder hergestellt: der ursächliche Zusammenhang wird erkannt.«224 Dies klingt so, als wäre damit die Einheit der Welt der Kausalbeziehungen wieder geschlossen, das Unbedingte integriert. Eben dies ist nicht der Fall, sondern es ist lediglich gezeigt, dass und warum in einer Weltordnung, die auf Verständigkeit gebaut ist, ein lebendiger Zweck sich nur zur Geltung bringen kann, wenn er nach dem Maßstab dieser Welt die Ungeheuerlichkeit nicht scheut. Und nicht nur im Falle des Prinzen von Homburg, sondern immer bei Kleist ist es gerade die Ungeheuerlichkeit der Selbstmissverständnisse, in die der/die Protagonist/en getrieben wird/ werden. Gleichwohl finden sich bei diesen Formüberlegungen Lugowskis ähnliche Befunde wie bei Allemann und hier in dieser Interpretation.