Kleists Michael Kohlhaas

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Diethelm Brüggemann138 versucht dem Leser jegliche Orientierung in Kleists Texten als Illusion nachzuweisen, indem er sich selbst der Mittel der Boulevardpresse und von diktatorischen Gerichts- und Verhörmethoden bedient, die er Kleists Erzähler unterstellt, der seine Leser manipuliere. Strategie ist bei Brüggemann vornehmlich die jeglichen Kontext ignorierende Zitierweise, die durch Zeit oder Umstände bedingte gegensätzliche Aussagen zu einer Sache – sei es die Aussage einer Person oder der Erzählung – unmittelbar miteinander konfrontiert, um so die sozusagen als Zeugen der Interpretation fungierende literarische Figur oder Erzähleraussage als unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Es sei, so bemüht er sich z. B. nachzuweisen, ein allgemein verbreiteter Irrtum innerhalb der Kleist-Forschung, dass es für die Forderung des Junkers nach einem Passschein auf der Grundlage eines Einfuhrverbots für brandenburgische Pferde keine gültige Rechtsgrundlage gegeben habe. Darum entbehre Kohlhaasens Rache überhaupt jeglicher Berechtigung und die Erzählung führe die Leser an der Nase herum, indem sie ihnen suggeriere, Kohlhaas könne eventuell einen Rechtsgrund gegen Tronka gehabt haben. Denn in ihrer Eingabe an das Gericht in Dresden hätten die Junker Tronka auf ein vor vielen Jahren erlassenes Gesetz hinweisen können. Es ist nun symptomatisch für Brüggemanns Methode, dass er den Verweis auf dieses Gesetz nicht in Relation zum Kontext seiner Vorbringung innerhalb der Verzögerungs- und Verwischungstaktik des dresdener Prozesses gegen Kohlhaas stellt, auch nicht in Relation zu dem Kohlhaas erteilten und öfters wiederholten Gerichtsbescheid, dass ein solches Gesetz derzeit nicht in Geltung sei. Sondern Brüggemann verlangt, dass die Handlung nach diesem veralteten Gesetz beurteilt wird, von dem in ihr niemand etwas weiß und wissen kann, bis es zu seiner rabulistischen Verwendung absichtsvoll wieder ausgegraben wurde. Eine solche methodische Vorgehensweise Brüggemanns hat nicht wissenschaftliche Erkenntnis zum Ziel, sondern ist boshafte Stiftung von Verwirrung, die sich unredlicher Verfahren bedient. Nicht Kleist, sondern Diethelm Brüggemann manipuliert seine Leser.

Hingewiesen sei abschließend und einen Rückblick auf die frühere Forschung ermöglichend, auf den ersten Teil von Bernd Fischers Interpretation des Michael Kohlhaas139 von 1988, die er mit der Diskussion von »vier neueren Deutungen« einleitet, »die repräsentativ für die gegenwärtigen Tendenzen der Germanistik stehen können und sich zudem ihrerseits durch einen kritischen Bezug auf die ältere Kohlhaas-Forschung auszeichnen.«140 Vorgestellt werden dann die Arbeiten von Ellis141, Gallas142, Lützeler143 und Bogdal144. – Fischers eigene, der Intention nach idealismuskritische Deutung des Kohlhaas, deckt sich keineswegs mit der meinigen, da sie nur undialektisch ironisch alles als hypokrise Anmaßung entlarven möchte, was im Kohlhaas an Autonomie erinnert. Bei Fischer werden – ganz auf der Linie der neueren französischen Schule – der »utopische Anspruch der ästhetischen Modelle« mit der idealistischen Generalthese von der »versöhnten Idee« identifiziert. Der »Autonomieanspruch der erzählenden Gattungen« werde von Kleist »in subtilen Engführungen unterwandert« wobei die »Lösungsmodelle der klassisch romantischen Literatur […] ihrer realitätsfernen Mechanismen überführt«145 würden. Dem wird in meiner Arbeit entgegengehalten, dass der Gehalt Kleist’scher Werke darin besteht, die Differenz aufzuzeigen zwischen der ästhetischen Darstellung eines vernünftigen Begriffs von Freiheit und seiner abstrakten idealistischen Verabsolutierung, die seine vermeintliche geschichtliche Erfüllung impliziert. Darum werden die Formen nicht einfach nach dem Maßstab der Realitätsgerechtigkeit unterwandert, sondern es wird immanent durchgeführt, wie sie ihre Grenzen überschreiten.

I 02) Methodische Positionierung meines Forschungsansatzes

Meine Arbeit bildet methodisch einen Beitrag zur Diskussion über eine an die Kritische Theorie anschließende kritische Hermeneutik146. Dabei geht sie von der Annahme aus, dass es einer philosophischen Theorie, deren Anliegen es ist, das Unzureichende der gleichwohl zur philosophischen Selbstreflexion notwendigen Reflexionsbegriffe darzutun, aufzuzeigen obliegt, dass eine kontingente, und darum aus dem philosophischen Selbstbewusstsein nicht ableitbare Bestimmtheit, gleichwohl systematisch für die Erfüllung der Konstruktion, d. h. eben ästhetisch notwendig ist. Nur in dieser negativen Dialektik erweist sich der Stoff als eigenständig und nicht als bloß durch die Form beliebig bestimmbares Material. In diesem Sinne wird das in der Negativen Dialektik von Adorno als »Vorrang des Objekts«147 und in der Ästhetischen Theorie als »Sprache der Dinge«148 Bezeichnete als Idealismuskritik verstanden. Da aber der allgemeine Begriff eines Kontingenten ebensowenig ein Bestimmtes bezeichnet wie der Hegel’sche Begriff der Bestimmtheit in der Logik149, sondern nur die Forderung nach einem aus dem Begriff aber nicht ableitbaren Bestimmten, geht eine bloß allgemeine methodische Darlegung notwendig an der Sache vorbei. Diese kann nur in einer modellweisen Einzelanalyse vorgeführt werden. Für die Kleist’sche Dramaturgie wird das in dieser Arbeit am zwangsläufig sich als widersprüchlich erweisenden Begriff des höchsten Gutes aus der Kant’schen Kritik der praktischen Vernunft sowie, speziell dann auf die Erzählung Michael Kohlhaas bezogen, an der Begründung des Rechts im Verhältnis zur Moral aufgezeigt. Die kontingente Rechtsverletzung auf der Grundlage des kontingenten adligen Großgrundbesitzes wird im Prozess des Handlungsverlaufs als ein ästhetisch Notwendiges erwiesen, das den falschen Schein der Vernunft bürgerlicher Verhältnisse aufdeckt. Die Möglichkeit, ein Kontingentes als ästhetisch Notwendiges zu entwickeln, beruht in der Literatur auf der Realisierung der poetischen Formbestimmungen im Stoff. Darum ist der Gehalt eines Werkes nach Adorno dadurch bestimmt, dass die Form, oder moderner ausgedrückt, die Konstruktion, am Stoff Bestimmungen entwickelt, die er für sich so nicht hat und durch die sowohl die Form zur Erscheinung kommen kann wie auch das Material zum Sprechen gebracht wird150. Dieser wechselweise Prozess von stimmiger Formänderung und Stoffentwicklung wird in dieser Arbeit am Handlungsverlauf des Michael Kohlhaas offengelegt. Solch ein Prozess macht dann »die Logik der erzählerischen Konstruktion«151 aus, wie Helga Gallas fordert, und auf die auch – unter dem Namen einer »Logik des Textes«152 – die Theorie des »erschöpfenden Interpretierens« von M. Niehaus die Deutung literarischer Werke verpflichtet. Anders als in meiner Arbeit zeigt sich aber sowohl bei H. Gallas als auch bei M. Niehaus eine nominalistische Ausweitung des Formbegriffs. Denn es werden dort – sei es die subjektiven Intentionen des Autors oder der literarischen Tradition völlig fremde Theorien (bei Gallas die Lacan’sche Psychoanalyse) – herangezogen, die die geschichtlich sich durch die Werke verändernden literarischen Formbestimmungen substituieren. Verstehbar ist die nominalistische Preisgabe des Formbegriffs daraus, dass es in der historischen Richtungstendenz der Veränderung der Formbestimmungen liegt, dass sich die Werke nur in bestimmter, und der Tendenz nach ggf. sogar abstrakter Negation noch auf die traditionellen Formbestimmungen beziehen; doch bleiben sie nur vermöge des Nachweises ihrer spezifisch motivierten negativen Beziehung interpretierbar, da sie ansonsten ihren Werkcharakter einbüßen.

Helga Gallas erwartete sich als Orientierung die Konstruktion des spezifischen Gegenstandes der Literaturwissenschaft, »und zwar, indem ein System theoretischer Begriffe eingeführt wird, das den Gegenstand als theoretischen bestimmt und die Methode seiner Analyse begründet.«153 Es erstaunt freilich, dass Helga Gallas meint, dass dies eine noch zu leistende Aufgabe wäre, denn die Philosophie der Kunst hat in einem »System theoretischer Begriffe« und dessen Kritik – eben durch die Spezifität der Kunst und den Begriff ästhetischer Wahrheit – dies längst geleistet und im weitesten Sinne die Kunst als Verwirklichung der Idee des Schönen und des Erhabenen begründet154. Der Gegenstand der Kunstwissenschaft wird aber durch sie nicht »als theoretischer bestimmt«, sondern durch die Theorie als individueller155. Peter Szondi schreibt: »Auch die Literarhistorie vermag das Besondere nur als Exemplar, nicht als Individuum zu sehen; das Einzigartige fällt auch für sie außer Betracht. […]. Solche Kritik an der Literaturgeschichte schließt keineswegs die These ein, das Individuum, das einzelne Werk, sei ungeschichtlich. Vielmehr gehört gerade die Historizität zu seiner Besonderheit, so dass einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt.«156 Darum kann es auch keine »Methode seiner Analyse« im Sinne von anzuwendenden methodisch geregelten Verfahren geben, wie es sich der Strukturalismus etwa vorstellt157.

 

Spricht Wolfgang Kayser158 bei der Bestimmung des Verhältnisses von Untersuchungen zu literaturhistorischen Teilbereichen und der Erkenntnis des poetischen Kernbezirks von einer Gleichberechtigung, so entgeht ihm, dass die Implikation seiner eigenen Argumentation darauf geht, dass es sich dabei um ein Zweck-Mittel-Verhältnis handeln muss. Dabei ist aber der Zweck das organisierende Prinzip, das die Mittel auf sein Ziel ausrichtet. »Es war die Aufgabe dieses letzten Kapitels, in den innersten Kern eines Kunstwerks zu dringen und zu zeigen, wie sich von daher das geheime Leben bis in die letzten Verästelungen der Sprache, des Verses, der äußeren Form organisiert.«159 Kayser bestimmt den poetischen Zweck als den Gehalt eines Werkes, den er gegen die »Idee«160 des Künstlers, also seine Intention, abgrenzt. Und sofern er ihn in das »Gefüge der Gattungen«161 einbettet, drückt er aus, dass er sich aus der individuellen Realisierung der Formbestimmungen der Gattungen im Stoff herstellt. Darum ergibt sich ein koordiniertes wechselseitiges Verhältnis der Gleichberechtigung nur unter der teleologischen Bestimmung, dass die Mittel nur Mittel sind als Mittel dieses Zwecks und außerhalb seiner ohne Bedeutung bleiben (so, wie ein abgetrennter Finger nicht mehr Teil eines lebendigen Organismus ist und sich zersetzt). Weil aus den verselbständigten Mitteln kein Weg zur Erkenntnis des Gehalts eines Werkes162 führt, entsteht für eine rasant sich entwickelnde und spezialisierende Forschung die Gefahr ins Leere zu laufen. Hamacher verleiht, als Repräsentant der literarhistorischen Forschung, dieser Gefahr die affirmative Bestimmung des literaturwissenschaftlichen Erkenntnisziels. »Anstatt hier zu vereindeutigen und sich auf eine Ausformung der Theorie festzulegen, ist am genuinen Erkenntnispotential der Literatur festzuhalten, deren funktionale Leistung im Unterschied zur Philosophie gerade darin besteht, das ganze Spektrum widersprüchlicher Antworten und Lösungsversuche […] gleichzeitig zur Geltung zu bringen und damit ungelöste Probleme offen zu halten.«163 Zwischen den spezialisierten Teilkenntnissen und den lebendigen Beziehungen der Teile eines individuellen Ganzen aufeinander und durcheinander, gibt es keinen kontinuierlichen Übergang, sondern es bedarf eines Hinzukommenden, das Thomas Mann in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull schöpfungsgeschichtlich als »Urzeugung«164 bezeichnet hat. Gerade weil zur Bestimmung des Gehalts eines Werkes der entwickeltste Stand des kritischen Selbstbewusstseins165 als terminus a quo und als terminus ad quem einbezogen sein muss, kann es nicht, wie die Hegel’sche Inhaltsästhetik begründet, ein für allemal auf seinen allgemeinen Begriff gebracht und der Geschichte des Selbstbewusstseins subsumiert werden166. Unbeschadet der wissenschaftlich begründeten Wahrheit einer Interpretation ist sie doch als Modellanalyse offen in dem Sinne, dass sich alternative begründete zukünftige Gesamtdeutungen als Möglichkeit vorstellen lassen. Gesamtdeutungen, denn Kunstwerke sind nicht, wie in den Naturwissenschaften, als ein schon auf seine allgemeine Form gebrachter Sachverhalt vorauszusetzen, den eine spezialisierende Forschung nur näher differenziert zu bestimmen hätte. Insofern befindet sich eine stimmig argumentierende Interpretation des Gehalts per se im Gespräch mit anderen Literaturwissenschaftlern, auch wenn ihr ggf. nichts anderes übrigbleibt, als die Unvereinbarkeit von zwei Vorgehensweisen aufzuzeigen.

Eine Interpretation eines Kunstwerks, die sich der literatursystematischen Tradition verpflichtet fühlt, die u. a. Wolfgang Kayser als »Poetik« bezeichnet und die ein Werk als integrale Einheit aus Formbestimmungen und Stoff betrachtet, sieht sich dazu verpflichtet, die Hinzuziehung begrifflicher Bestimmungen, die zur vernünftigen Darstellung des Gehalts eines poetischen Werkes erforderlich sind, aus dem ästhetischen Prozess des Werks selbst zu begründen. Da der Geist eines Kunstwerks das Organisationsprinzip seiner Teile ist, so erscheint dieses Prinzip nur in seinen Teilen, aber diese sind nur als auf seinen Zweck hin ausgerichtete seine Teile. Das Problem des hermeneutischen Zirkels muss bei einer Interpretation also prinzipiell als gelöst vorausgesetzt werden, weil die Teile sonst nicht Teile (eines Ganzen) wären, das Ganze nicht das Ganze seiner Teile. Aufgabe der Interpretation ist es dann den Prozess von Teilen und Ganzem im Detail aufzuzeigen. Auch das von Schleiermacher aufgeworfene Problem der Hypereinheiten löst sich daraus, dass der gegenwärtige Stand des Selbstbewusstseins der terminus a quo und der terminus ad quem einer Interpretation sein muss, die nicht von bloß archivarischem Wert sein soll und damit nutzlos für das Leben.167

Stellt man das Werk als integrale Einheit seiner Elemente nicht mehr ins Zentrum der Forschung, dann erscheint ein Kunstwerk wie jeder beliebige Gegenstand als ein Ding von vielen Eigenschaften und so können von ihm vielerlei spezialisierte Kenntnisse ihren Ausgang nehmen. Kenntnisse aber betreffen fremde Objekte. Zwar können diese historischen Forschungen grobe Fehlinterpretationen verhindern, aber problematisch wird es, wenn das, was im Werk als Element seiner Stoffschicht verarbeitet sein kann, rückwirkend zum gültigen Kriterium der Interpretation erklärt wird. Denn es besteht der wesentliche Unterschied darin, ob die Theorien, in deren Kontext ein Werk entstanden ist, über seine Interpretation entscheiden, oder ob aus der Interpretation heraus Theorien herangezogen werden, um den ästhetischen Wahrheitsgehalt zur begrifflichen Darstellung bringen zu können. Für Hamacher steht Ersteres fest: »Die Schwierigkeiten der Kohlhaas-Interpretationen fußen nicht zuletzt auf dieser Unvereinbarkeit disparater Theorien, die alle zum diskursiven Kontext der Erzählung gehören. Je nachdem, welcher Theorie man als Prätext für Kleists Erzählung den Vorzug gibt, entsteht ein anderes Bild des Protagonisten und seiner Taten.«168 Ganz abgesehen von der Frage, ob es das Ziel einer Kohlhaas-Interpretation sein soll, den Protagonisten und seine Taten zu beurteilen, so spricht doch Hamacher hier dem Gegenstand der Interpretation jede Eigenbestimmung ab. Das Kunstwerk wird im Zugriff einer so verstandenen Interpretation zur beliebigen Projektionsfläche von widersprüchlichen Theorien, die von außen aus dem bunten historischen Kontext an es herangetragen werden. Bekommt aber der Gegenstand einer Wissenschaft seine Bestimmtheit einzig durch einander widersprechende Theorien, dann ist er ein »leerer Gegenstand ohne Begriff, nihil negativum«, nämlich: »Der Gegenstand eines Begriffs, der sich selbst widerspricht, ist Nichts, weil der Begriff Nichts ist, das Unmögliche, wie etwa die gradlinige Figur von zwei Seiten, (nihil negativum).«169 Wenn die wissenschaftlichen Theorien ihre Widersprüche nicht lösen können, dann sind sie entweder falsch oder sie zeigen einen Knoten (Aristoteles), also ein Problem, in der Sache an. Das Problem wäre dann also offen. Dass es die Bestimmung der Kunstwerke sein soll, »ungelöste Probleme offen zu halten«170 liefe auf die These hinaus, Kunstwerke seien nichts weiter als das unterhaltsame kunstvolle Arrangement einer tautologischen Bebilderung von hypothetischen Theorien. Damit wären sowohl ihr spezifisch Ästhetisches als auch ihr Wahrheitsgehalt preisgegeben.

A) Theoretische Grundlegungen

Motto:

»Der Theoretiker kann nicht mehr tun als die Begriffe wahren und die Dinge beim Namen nennen.«

(Carl Schmitt)171

A 01) Dramentheoretische Grundlegungen
A 01–1) Zu Kleists Dramaturgie

Vorbemerkung:

Aufgabe dieses Abschnittes ist es, darzulegen, dass sich im poetischen Schaffen Kleists die Verschränkung eines poetisch aufgegebenen Problems mit einer inhaltlichen Problemstellung aufzeigen lässt. Denn das poetische Problem der Integration der Exposition und der Begründung der Peripetie löst Kleist durch die ästhetische Bezugnahme auf einen individuell realisierten Vernunftbegriff, wie er paradigmatisch in der Bestimmung des höchsten Gutes in der Kritik der praktischen Vernunft von Kant172 systematisch gefasst worden ist. Im Unterschied zur literarhistorischen Interpretation ist es das spezifische Anliegen dieser Arbeit, die unauflösliche Wechselbeziehung zwischen beiden Elementen nachzuweisen, denn meist werden Kleists Werke nach ihrem Inhalt ausgelegt und bleiben die Hinweise auf Formprobleme zu allgemein und äußerlich. Da die Analyse der Wechselbeziehung von Formproblem und Stoff anhand der Erzählung Michael Kohlhaas im Zentrum meiner Arbeit steht und diese nur im interpretierenden Nachvollzug des prozessualen Verlaufs des Werkes analysiert werden kann, muss es aus Gründen des Arbeitsumfangs die Aufgabe weiterer Einzelanalysen sein, en detail den Bezug von Form und individuierter Zweckbestimmung an weiteren Kleist’schen Werken nachzuweisen. In meinen im Teil C) befindlichen Exkursen zur Marquise von O…, Prinz Friedrich von Homburg und Amphitryon wird versucht, diesen Zusammenhang gleichwohl über Kohlhaas hinaus als gültig aufzuweisen. Das gilt auch für die im Text verstreut vorfindlichen Seitenblicke auf andere Werke Kleists. Zur Veranschaulichung der Formidee kann der Essay über Shakespeare (Teil C – 04) dienen. Mit der Beschränkung auf eine Einzelanalyse ist damit auch der Fehler vermieden, der Allemann173 mit seiner Antizipationsthese unterlaufen ist, da sie den antizipierten Zweck gegen seine Beziehung auf die Form letztlich fetischisiert. Der Autor ist sich also durchaus der Gefahr bewusst, die Norbert Oellers in Hinsicht auf Beda Allemanns Fragment gebliebenes Kleist-Vorhaben formulierte: »Vermutlich hätte sich dieses Kapitel nie runden lassen im Sinne eines geschlossenen poetologisch-dramaturgischen Konzeptes des Dramatikers, dessen Werke zwar immer wieder auf gemeinsame Nenner gebracht, aber gerade dadurch im einzelnen auch immer wieder verkürzt worden sind.«174 Es sollen hier zunächst Gedanken zur Geschichtsphilosophie der dramatischen Form entwickelt werden, um das spezifische Thema, Problem und Anliegen der Kleist’schen Dramaturgie zu bestimmen, von dem die einzelnen Werke mehr oder weniger abweichen.

Die Form der Tragödie enthält einen Glücksumschwung, eine Katastrophe, die sich in der Peripetie ereignet. Diese Wende, der Umschlag von Glück in Unglück oder v. v. – in der Novellentheorie seit Tieck175 als »Wendepunkt« bekannt – kann seiner logischen Form nach nicht kausal sein und verläuft somit nicht linear, sondern in der Peripetie wird eine Kausalkette neu angefangen, d. h. sie beruht auf Kausalität aus Freiheit176. Diese ist Grund des »Charakters des Wunderbaren«, von dem Aristoteles spricht, der den Bruch mit dem kausalen Verlauf so bezeichnet hat, dass in der Tragödie die Ereignisse gleichwohl folgerichtig und wider Erwarten eintreten müssen177. Der kausalen Form genügt der Fluch mit dem mythischen Schema von Schuld, Vergeltung, neuer Schuld etc. Ihrer Form nach bricht also die Tragödie mit dem Schema des Fluchs und setzt einen erst vom Resultat her zu begreifenden Zweck der Handlung. In der Mehrzahl der bekannten Tragödien reproduziert sich aber in der Wende der Fluch, der Umschlag ist einer von Glück in Unglück. Das markanteste Beispiel dafür ist König Ödipus von Sophokles178. Die Exposition des Konflikts liegt in der Tragödie vor der Handlung, da der Fluch – in dem erscheint, dass sich die Herrschenden die Gleichheit mit den Göttern, von denen sie abzustammen behaupten, nur anmaßen und nur durch Frevel zu beweisen verstehen – auf einem ganzen Familiengeschlecht lastet und darum schon in der Vorgeschichte der jeweiligen Handlung liegt. Die Katastrophe erweist sich als Einheit von Autonomie und Heteronomie; in der Wiedererinnerung (Anagnorisis) wird die Anmaßung der Gottähnlichkeit, die unbeschränkte Verfügung über die Realität, und der darüber ausgesprochene göttliche Fluch als Grund der auf Gewalt gegründeten Herrschaft von Menschen über Menschen, von Wenigen über Viele erkannt. Und einzig die kultische Funktion der Tragödie, die Katharsis, nämlich durch Erinnerung an das Grauen vor dem Rückfall darein zu warnen, weist darüber hinaus. Dieser Widerspruch zwischen der Form der Tragödie und ihrer Realisierung im Stoff hat seinen Grund darin, dass der Handlung der Tragödie der objektive Konflikt zwischen Kampfeswut und Besonnenheit zugrundeliegt, die beide notwendige Bedingungen der Erhaltung des antiken Gemeinwesens (Sklavenhaltergesellschaft) als der Grundlage des Selbstbewusstseins sind. Hegels systematische Bestimmung der Herrschaft als Grundlage des Selbstbewusstseins im Kapitel Herrschaft und Knechtschaft der Phänomenologie des Geistes179 logifiziert in Form der Symmetrie nicht nur die Gewalt, die das knechtische Bewusstsein zwingt, sich zu unterwerfen, sondern macht bei der Identifizierung von Willen und Selbstbewusstsein zugleich die unbedingte praktische Verfügung über die Realität zur immanenten Bestimmung des Selbstbewusstseins. Die antike Tragödie zeigt, dass die idealische Tendenz, die auf unbedingte Verfügung geht, also auf Hybris, die Kohärenz des Kollektivs der Herrschenden gefährdet, in der Regel dadurch, dass der Konflikt innerhalb einer Herrscherfamilie die Tradierung der Macht irritiert und Kämpfe um die Vormacht provoziert. Darum liegt auf der Hybris der Fluch, d. i. die Strafe der gegen die empirischen Interessen der partikularen Häuser durch einen Chorismos getrennten Transzendenz. Das Problem der Hegel’schen Interpretation der Tragödie sowohl in der Phänomenologie des Geistes180 als auch in den Vorlesungen über die Ästhetik181 ist, dass entweder der Konflikt substanziell ist: dann kann es keine von den Göttern repräsentierte, vernünftige und harmonische Einheit der sittlichen Substanz geben; oder der Konflikt ist nicht substanziell: dann wäre, wie auch Hölderlin meint, der tragische Transport leer, wären Darstellung des Leidens und Sterbens der Protagonisten bloß wirkungsvolles Theater von Marionetten der Prinzipien. Die fortschreitende Aufklärung des Mythos durch die Tragödie trägt den Konflikt zunehmend in die Subjekte selbst hinein, subjektiviert ihn und löst die Form der Tragödie durch ihre inneren Problemstellungen auf: Dramatik geht in lyrische Klage über.182 Dort, wo – wie in der Schlusstragödie der Orestie-Trilogie des Aischylos, den Eumeniden183 – die Wende ihren Begriff erfüllt, kann sie das nur mittels der dramaturgisch mangelhaften Hilfe eines deus ex machina; und auch das nur unvollständig. Denn die Transformation der Rache in Recht beseitigt nicht den Grund der Herrschaft in Gewalt, sondern verbirgt ihn hinter sprachlich-logischen Spitzfindigkeiten.184

 

Für den Klassizismus, insbesondere den Schillers, der der idealistischen Deutung des Dramas folgt, stellt sich das Problem von Substanzialität des Konflikts und Antagonismus des zugrundeliegenden Gemeinwesens lediglich, aber bezeichnender Weise, als das der Begründung der Notwendigkeit des tragischen Untergangs der Subjekte. Ziemlich unverhohlen gibt Schiller zu, dass diese ihnen angeschafft werden muss: Um eine der antiken Tragödie gleichwertige Notwendigkeit des Schicksals zu gewährleisten, führt er etwa in Wallensteins Tod185 das Motiv von Wallensteins Vertrauen auf die Astrologie ein.186 Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Staatsaktion und Intrige nicht nur nicht an die Aufklärung des Grunds der Herrschaft heranreichen, sondern institutionalisierte und abstrakt gewordene Herrschaft durch Vermenschlichung verklären.

Es ist eine Variation der Bestimmung Hegels, dass die Kunst nicht mehr ›höchstes Bedürfnis des Geistes‹187 ist, dass unter den Verhältnissen von Christentum und bürgerlicher Verfassung der Konflikt nicht mehr, wie in der Tragödie, substanziell ist und damit auch nicht die Kunstform, die einen Konflikt konstruiert. Diese Kunstform hält sich aber am Leben, weil der Schein des Konflikts substanziell ist und die Kunst das Medium, in dem er in seiner Ambivalenz dargestellt werden kann. Kunst reflektiert damit zugleich die Ambivalenz ihres eigenen Scheincharakters. Der zur Konstruktion der Wende wesentliche Begriff der Hybris, der Anmaßung der Gottähnlichkeit, verwandelt sich zwangsläufig unter der christlichen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, da Gott in Jesus Christus Fleisch geworden ist. Der Antike ist die Vorstellung, ein Reich Gottes auf Erden zu errichten, gänzlich fremd. Das mittelalterliche Märtyerschicksal mit seiner ganz auf das Jenseits gerichteten Perspektive von Seligkeit entbehrt jeglicher Dramatik, da es die Dialektik von Transzendenz und Immanenz ganz abstrakt austrägt188. Mit der Französischen Revolution, deren Bedeutung aus der Goethezeit nicht wegzudenken ist, und die Hegel als die wirkliche Versöhnung des Göttlichen mit der Welt189 feiert, bekommt die Problematik eine neue Dimension. In der bürgerlichen Neuzeit mit ihrem erwachten Begriff des Individuums ist – wie in der Antike seit der Antigone – mit dem Konflikt dessen Einwandern in das Individuum verbunden. Denn das Individuum tritt als endliches Subjekt ebenso in Widerstreit mit seinem allgemeinen Zweck wie es das Zurückgeworfensein auf den bloßen empirischen Charakter erleidet.

Kant, der das Glück des moralischen Individuums lieber an einen unendlichen Progress und eine postulierte Unendlichkeit als an den bestehenden Weltlauf verraten hat, hat vermöge der systematisch unabweisbaren, also notwendigen, Inkonsequenz seiner Argumentation einen Spalt offengehalten, der den Blick auf das Wahrheitsmoment der Kunst ermöglicht. Kants Insistenz auf dem ungeschmälerten Glück des moralisch handelnden Individuums macht jegliche Harmonisierung der Biographie mit dem Weltlauf unmöglich: auch die Hegel’sche, in der das Leiden im Endlichen als notwendige Bestimmung desselben zur Kondition alles Endlichen unter Endlichem wird. Der Kant’sche Begriff des höchsten Guts, der gar nicht anders dargestellt werden kann als durch die Kunst, da Glück als an das Dasein gebunden immer ein affirmatives Moment hat, bezeichnet das der Empirie transzendente Moment des ›An-sich‹ der Subjekte. Das Glück muss in der Empirie erscheinen, die es dabei zugleich geschichtlich durch Beschränkung verfälscht, so dass die Vorstellung vom höchsten Gut als Telos des Handelns ihr gegenüber sowohl als funktionales Äquivalent zur Hybris auftritt, wie mit ihr in Konflikt gerät. Dann ist dieser Konflikt ebenso Ernst wie Schein, und die Aussöhnung mit der bestehenden Realität in der Kadenz ebenso Erfüllung wie Lüge. Kleist lässt deshalb den Schluss gern in einem Schweben offen: »Ein Traum, was sonst«190. Bei aller Anerkennung für die Interpretation mancher Aspekte der Kleist’schen Tragik, hat Peter Szondi191 doch die Verhöhnung des Untergangs der Protagonisten durch Verwechslung in der Familie Schroffenstein und auch die Selbstkritik des überspannt konstruierten ästhetischen Scheins nicht erkannt, deren Formulierung er jedoch selbst zitiert: »Geh, alte Hexe, geh. Du spielst gut aus der Tasche, / Ich bin zufrieden mit dem Kunststück. Geh.«192

Legt man den Kant’schen Begriff des höchsten Gutes zugrunde193, dann ist das Streben nach dem Unbedingten, Offenen, des zugleich allgemein (Tugend) und individuell (Glückseligkeit) Bestimmten, die Voraussetzung jeglichen Handelns, das ein Sollen verwirklicht. Ohne das Vertrauen auf die Ideen der drei Postulate der reinen praktischen Vernunft wäre die praktische Aporie der Tugend unlösbar: es gäbe keinen Grund, Leiden im Diesseits zur Durchsetzung der Realität transzendenter Zwecke (des Sollens) in Kauf zu nehmen. Die endliche Erscheinung von Glückseligkeit, ohne die die Bestimmung des höchsten Gutes genau wie die Postulate eine bloße Vernunftidee bliebe, die allein die Subjekte zu praktischem Handeln nicht motivieren könnte, ist das subjektive Erlebnis eines das Individuum überwältigenden Glücksempfindens. Diese Glückserfahrung tritt in Gegensatz zu den Bedingungen der bürgerlichen Selbsterhaltung und insofern ist sich das Subjekt darin sich selbst und seiner Welt fremd. Die Literatur zu Kleist subjektiviert dieses Problem des Subjekts mit sich und seinem Verhältnis zur Realität unter dem Titel der ›Verwirrung des Gefühls‹. Allemann hat festgehalten, dass der Verwirrung des Gefühls zunächst dessen besondere Festigkeit vorausgeht und diese hat er als »Antizipation« bestimmt. Dieses ›An-sich‹ ist bei Kleist keineswegs stets als Gefühl im Sinne von Neigung gefasst, sondern u. a. in Gestalt des höchsten Gutes als eines dauerhaften Lebenszustandes des Subjekts, wie am Kohlhaas oder der Hermannsschlacht leicht zu belegen ist. Es ist aber doch stets eine vom Individuum (persönliche Glückseligkeit) ganz erfüllte Idee (mit den Bestimmungen der Glückswürdigkeit), die sich als der Empirie gegenüber fremd erweist, obwohl sie doch in ihr Geltung haben müsste194.