Friedrich Glauser

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Josef Halperin

«Die Tragik dieses Lebens ist sublim, weil sie den Sieg in der Niederlage enthält.»

Klein und still saß er neben Hugo Ball und schmiegte die Hände ans Tamburin, das auf den Knien ruhte. Er blickte vor sich hin, vielmehr an den Menschen vorbei, die den hell erleuchteten Saal füllten, in seiner Unbeweglichkeit grazil wie eine Statuette. Die abweisende Miene sollte wohl über seine Befangenheit hinwegtäuschen. Er war ein zartes Bürschchen mit einem Milchgesicht; man hätte ihn auf höchstens sechzehn geschätzt. Offenbar trat er zum erstenmal hier auf, unter den Dadaisten im Sprünglihaus, denn man hatte ihn vorher nie in der «Meierei» gesehen, im Cabaret Voltaire, wo sie den Sprach-Hokuspokus erfunden hatten, den sie für revolutionäre Dichtung ausgaben. Es war im Krieg. Man schrieb März 1917. Der Knabe schien viel zu früh ins Leben hinausgestoßen worden zu sein. Er hatte etwas Wehrloses. Man sorgte sich unwillkürlich um ihn. Was würde nach ein paar Jahren wohl aus ihm geworden sein?

In Wirklichkeit war er nicht sechzehn, sondern einundzwanzig, Chemiestudent im ersten Semester, der Friedrich Glauser, und freilich war er wehrlos, auf der Flucht vor einer übermächtig lastenden Welt. Schon war er dem Äther verfallen, und dann, nach einer Lungenblutung, griff er zum Morphium. Frühe Mutterlosigkeit mochte die Lebens- und Weltangst erklären, der die Rauschgiftsucht entsprang. Nach ein paar Jahren schien er rettungslos auf der abschüssigen Bahn der Gefährdeten, der Verlorenen, der Ärmsten der Armen. Er war in das Stadium geraten, wo der Süchtige unbedenklich Rezepte fälscht, stiehlt, einbricht, um das begehrte Gift zu ergattern. Er wurde für verrückt erklärt, in die Heil- und Pflegeanstalt Münsingen gesteckt und der Amtsvormundschaft unterstellt. Die Kette der dunklen, herzbrechenden Ereignisse riss nicht ab. Flucht aus Münsingen, ein Jahr Ascona, Stationen in Zürich und Baden, Morphium, Kokain, Opium, Flucht, zwei Jahre Fremdenlegion, nachher Geschirr wäscher in Paris, Grubenhandlanger in Belgien, Selbstmordversuch, Spital, Krankenwärter, Irrenhaus, Abtransport in die Schweiz, Versorgung wegen «liederlichen Lebenswandels» in der Strafanstalt Witzwil. Dann ging er in eine Baumschule nach Liestal, erwarb das Gärtnerdiplom, fiel in die Sucht zurück, stahl Opium und begab sich zur Entwöhnung nach Münsingen. Er blieb vier Jahre interniert. In dieser Zeit erlangte sein Name literarische Geltung. Man schrieb 1936. Dem Vierzigjährigen standen viele Fältchen im Gesicht; er sah nicht mehr jünger aus, als er war. Man glaubte ihm den Fremdenlegionär, dessen Haut die afrikanische Sonne gegerbt hatte. Gerne unterzeichnete er etwa Briefe an den Freund mit «ton caporal». Selbstironie und Kameradschaft, die er in diese Floskel fasste, strahlten auch aus seinen großen, klugen, wissenden Augen. In Nervi, mitten in einer neuen Genesung, mitten in der Arbeit, voller Pläne, voller Hoffnung auf endliche Stetigkeit, auf Heimkehr, auf Sesshaftigkeit in der Schweiz, starb Friedrich Glauser am 8. De zember 1938.

Die Tragik dieses Lebens ist sublim, weil sie den Sieg in der Niederlage enthält. Glauser hatte die Welt, die ihn äußerlich bezwang, innerlich überwunden, indem er sie gestaltete. Er gestaltete Erlittenes ohne Wehleidigkeit und war ein Meister der autobiographischen Erzählung. Indem er gestaltete, erhob er sich über die eigene Wirrnis zur Klarheit, zu überlegener Heiterkeit, und alles, was ihn liebenswert machte, schien in seine Schöpfung einzuströmen, die geistige Sauberkeit, der realistische Sinn, das unverdorbene Gefühl, der persönliche Charme, sogar die biegsame, klangvolle, schwebende Stimme. Sein Erstling, Gourrama, ist eine Leistung von erstaunlicher Reife und ungewöhnlicher Strahlungskraft, der beste Legionsroman, den ich kenne. Glauser hat die Buchausgabe nicht mehr erlebt. Es traf ihn tief, dass das Werk keinen Verleger fand und lange nicht einmal als Vorabdruck in einer Zeitung oder Zeitschrift erscheinen konnte.

Mit dem ihm eigenen bon sens zog er rasch und radikal die Konsequenz. Als Schriftsteller, der aus dem Ertrag seiner Feder leben sollte, musste er zuallererst seine Produktion absetzen, er musste also etwas produzieren, das auf Absatz, auf einen gewissen Erfolg rechnen konnte. Durch einfache Überlegung, nicht durch höhere Eingebung, auch nicht aus sozialpädagogischem Eifer, sondern aus barer Not kam Glauser zum Kriminalroman. Dabei brauchte er allerdings nichts Wesentliches preiszugeben. Unter Berufung auf die schöne Vorrede Joseph Conrads zum Nigger vom Narcissus äußerte er sich in einem Briefe über das künstlerisch Wesentliche: «Geruch, Gestalt, Farbe, Luft und darin die Menschen, nicht von einer Seite, sondern ganz kurz von verschiedenen Seiten gesehen, und das Ganze auf eine andere Ebene transponiert.» Das also musste auch für den Kriminalroman gelten. Glauser hatte ja das Beispiel vor sich, einen, der das erreichte, einen Schriftsteller, dessen Kriminalromane sich durch atmosphärische Dichte, durch psychologische Eindringlichkeit, durch plastische Menschendarstellung auszeichnen: Georges Simenon. Ihn verehrte er als seinen Meister. «Was ich kann, habe ich von ihm gelernt», sagt er.

Obwohl er sich oft zu Simenon als seinem Vorbild bekannte und damit der literarischen Kritik gewisse Vergleiche nahelegte, so ist bisher nicht untersucht worden, was alles Glauser «von ihm gelernt» und welche Bewandtnis im Besondern es mit dem Wachtmeister Studer und dem Kommissär Maigret hat. Doch steht das hier nicht zur Diskussion. Hingegen ist zu sagen, dass Glausers Erfolg zu klein war, um ihm die Muße zur Ausführung seiner früheren Pläne, u. a. eines großen Ascona-Romans, zu sichern. Der Wachtmeister Studer wurde zwar beachtet, er wurde sogar verfilmt, aber wie viele, nein: wie wenige haben gemerkt, dass in diesem Kriminalroman sich einer der besten schweizerischen Dorfromane verbirgt? Glauser blieb eben als Kriminalschriftsteller, was er vorher gewesen war, und was mit seinem Erstling Gourrama öffentlich sichtbar zu machen widrige Umstände verhindert hatten: ein meisterlicher Erzähler, ein ursprünglicher Menschengestalter, ein echter Dichter.

Josef Halperin (1891–1963) war in den drei letzten Lebensjahren ein verlässlicher Freund und Förderer Glausers. Er war nach dem Studium der neueren Philologie und Geschichte Anfang des Ersten Weltkriegs in die Auslandredaktion der Neuen Zürcher Zeitung eingetreten und wirkte für diese von 1920 bis 1932 als Korrespondent in Berlin und London. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst der NZZ wurde er freier Journalist und war u.a. auch als Sekretär des Verbands des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) tätig.

Halperin lernte Glauser vermutlich am 6. November 1935 an einer Le sung im «Rabenhaus» des Zürcher Schriftstellers Rudolf Jakob Humm kennen. Diesem schrieb Glauser in einem Brief am 24. September 1937: «Halperin hat den Karren endlich aus dem Dreck gezogen, er ist zu Pontius und Pilatus gelaufen, um den Wachtmeister zuerst, um schließlich den Matto anzubringen.» Halperin begann als Redaktor der Zürcher Wochenzeitung ABC im August 1937 mit dem Abdruck von Glausers Fremdenlegionroman Gourrama, der zuvor von anderen Zeitungen abgelehnt worden war. Die Fortsetzungsgeschichte war bis zum 13. Kapitel gediehen, als die Zeitung ihr Erscheinen einstellte.

Wolfgang Hartmann

«Durch und durch war dieser junge Mensch von Kultur getränkt.»

Ich begegnete Friedrich Glauser zum ersten Mal im Jahre 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, in Zürich. Wir beide kamen aus dem Ausland und suchten Schutz und Geborgenheit in der Heimat, nachdem es im Reiche Wilhelms II. ernährungsmäßig und in jeder Hinsicht kritisch zu werden begann.

Damals gab es im Café «Odeon» in Zürich eine Art europäische Literaturbörse. Dichter, Publizisten und Romanciers der kriegführenden Länder, unter ihnen Franz Werfel, Stefan Zweig, Klabund, Frank Wedekind, Leonhard Frank, Romain Rolland, Maxim Gorki, Barbusse und viele andere, waren zu uns gekommen, um in der freien und unkriegerischen Atmosphäre der Schweiz ihr Werk unbehindert von Chauvinismus und beginnender Not fortsetzen zu können. (So großzügig waren damals die jeweiligen Regierungen noch, dass sie diejenigen unter ihren schöpferischen Elementen, die mit dem Kriegsgeschehen nichts zu tun haben wollten oder aus Krankheitsgründen Erholung brauchten, über die Grenzen gehen ließen!)

In diesem Kreise im «Odeon» verkehrte auch Friedrich Glauser, dessen Vater damals noch, wenn ich mich nicht irre, amtierender Schweizer Konsul in Mannheim war. Der junge Schriftsteller, der sozusagen noch nichts Nennenswertes außer einigen Gedichten publiziert hatte, wirkte auf uns alle, die wir mit ihm zusammenkamen, irgendwie faszinierend. Er war zwar gebürtiger Berner, aber er hätte ebenso gut Franzose oder Welschschweizer sein können. Nichts spezifisch Alemannisches war an ihm. Schon seine Fähigkeit, zu plaudern und in einem leicht sarkastischen Tonfall über Dichter und deren Werke zu urteilen, treffsicher und tiefschürfend analysierend, muteten gallisch an. Glauser verfügte über einen romanischen Esprit, der ihm angeboren zu sein schien; und mühelos überschüttete er den jeweiligen Partner mit einer Fülle geistreicher Aperçus, mit denen er nicht selten seinen Diskussionsgegner, der nur sachlich zu argumentieren gewohnt war, in Verlegenheit brachte. Es war ein wirklicher Genuss, mit diesem jungen Literaten sich über die damalige europäische Dichtung auseinanderzusetzen. Glauser war ein begeisterter Anhänger der Modernen, die man heute als «Surrealisten» bezeichnet. Er schätzte einen Heinrich Mann höher ein als seinen berühmteren Bruder Thomas, über dessen Bürgerlichkeit er spöttelte. Leonhard Frank, Klabund, Franz Kafka unter den Jungen waren seine «Götter». Dabei war er selber durchaus Autodidakt geblieben und lachte über jene, die sich lernhungrig auf den Hochschulen abmühten, ein ordentliches Deutsch und eine gute Allgemeinbildung sich anzueignen. Er hatte dies alles in sich, er bezog sein Wissen und Können aus der Lektüre der Bücher, sein klares Urteil und seine ungewöhnliche Formulierungsgabe würden manchen Dozenten beschämt haben. Durch und durch war dieser junge Mensch von Kultur getränkt, und niemand aus seiner Umgebung zweifelte an seiner Berufung, als künftiger Autor einen großen Weg vor sich zu haben.

 

Friedrich Glauser aber war zu kompliziert und seinem innersten Wesen nach ein zu zwiespältiger Charakter, um das halten zu können, was er damals versprach. Statt zu arbeiten und sein Wissen auf solider Basis zu erweitern, verlor er sich immer mehr in einem tüftelnden und bizarren Ästhetizismus. Damit aber nicht genug, warf er sich dem Laster in die Arme und begann zu «schnupfen und zu spritzen». Soviel ich weiß, hat der damals noch unbekannte Filmschauspieler Konrad Veit, der mit Max Reinhardts Truppe nach Zürich gekommen war, den genusssüchtigen Glauser auf dem Gewissen. (Ich erinnere mich an eine Szene, wo Veit, von dem gleichfalls eine faszinierende Wirkung ausging, seinen neuen Freund in einen Ätherrausch versetzt hatte und nun den verzweifelten Versuch unternahm, ihn wieder wachzubekommen.)

Glauser war eine Art schweizerischer Rimbaud, sowohl in die reine Poesie als in das Leben und Abenteuer gleicherweise verliebt. Seine Leidenschaften hatten exaltierten Charakter, er hätte eine Figur aus den lasziven Romanen Heinrich Manns sein können. Er war geistig immerzu in einem Rauschzustand, seine Augen glänzten fiebrig, und seine Phantasie verlor sich im Makabren, Kranken.

Ich sehe ihn noch, nachdem wir einige Monate gleichzeitig in Ascona verbracht hatten, wo man sich in den verschiedensten Kreisen ständig traf und stritt oder aus dem Wege ging, auf dem Perron in Bellinzona mit einer großen Schreibmaschine in der Hand nervös, zigarettenrauchend und auf den Zürcher Zug wartend, auf- und abgehen. Ich stand mit einer jungen Dame etwas abseits, und so grüßte Glauser nur flüchtig und zugleich abwesend zu mir herüber, innerlich zerrissen, wie mir schien, auf der Flucht vor sich selber und vor lästigen Gläubigern, wie ich später erfuhr. Damals ging er nach Genf, kam dort in größtes Elend, wurde Milchausträger und fuhr, der Verzweiflung vollends in die Arme getrieben, nach Frankreich, um sich von der Fremden legion anwerben zu lassen.

Ich habe Friedrich Glauser nach jenem Begegnen auf dem Bahnhof in Bellinzona nie mehr wiedergesehen. Ich weiß nichts oder nur das, was mir gemeinsame Freunde berichteten, aus seinem späteren Leben und abenteuerlichen Dasein, da ich bald darauf wieder ins Ausland ging. Ich las dann seine Novellen aus Afrika und die nachfolgenden Kriminalromane, erstaunt und befremdet über diesen «Abstieg» des einst so Hochgemuten, dem nichts gut genug war, wenn es sich um Dichtung oder Kunst handelte. Thematisch hatte nun also dieser schwergeprüfte und herumgeworfene Abenteurer in ihm kapituliert und sich dem gängigen Reißer und Unterhaltungsroman zugewendet. Sein großes Können aber und seine Fabulierbegabung waren ihm auch auf diesem etwas abschüssigen Gebiet der Asphaltwirkungen treu geblieben. Zweifellos hatte die Seele dieses ungewöhnlichen Schriftstellers im Leid der Jahre und der Not gelitten, dazu kam die Krankheit, und während schon die Todesfahnen seinen flackernden Geist umwehten, schrieb er noch diese gefeilten psychologischen Detektivromane, die ihm nun durch deren Verfilmung posthumen Ruhm verschaffen, dessen er zu Lebzeiten so dringend bedurft hätte! Wie anders wäre sein Werk wohl ausgefallen, hätte dieser übersensible, hochkultivierte und künstlerisch begnadete Dichter einen geruhsameren Weg gehen dürfen! Auch in Friedrich Glauser selber «regierte Matto»! Ein kranker, ewig sehnsüchtiger, nach den Sternen des Lasters und der Verzückungen greifender Geist sprengte in diesem genialen Literaten immer wieder die Bande der Vernunft und trieb ihn jeglichem Exzess in die Arme! Die Dämonen in seinem Blute waren stärker als die Engel zu seinen Häupten, und so verstummten die Musen und überließen den Todgeweihten jenen dunklen Mächten, die heute mehr denn je unsere Welt beherrschen.

Josef Halperin

«Diese ungewöhnliche Widerstandskraft hat ihn vor dem Zerbrechen bewahrt.»

Vor etwa zwei Jahren las im Hause Humms in Zürich, in einem Kreise von Schriftstellern, ein gewisser Glauser – von dem man erzählte, er habe im Schweizer Spiegel einige Skizzen veröffentlicht –, aus einem Roman vor. Der Mann las mit einer etwas singenden Stimme und mit einer etwas sonderbaren Aussprache, in der schweizerische, österreichische und reichsdeutsche Tonelemente sich vermischten, sodass man sich unwillkürlich fragte: wo mag der aufgewachsen, wo herumgetrieben worden sein? Der Glauser war Schweizer, hieß es. Aber während man überlegen wollte, welche Bewandtnis es mit seinem Akzent haben könnte, merkte man, dass man gar nicht mehr mit Glauser beschäftigt war, sondern mit einem Fahnderwachtmeister Studer, der in einem Café Billard spielte und sich dabei Sorgen machte wegen eines Häftlings namens Schlumpf – schlecht Billard spielte wegen dieser Affäre, die ihn nicht losließ.

Der Roman hieß Schlumpf Erwin Mord. An die singende Stimme hatte man sich schnell gewöhnt. Sie sang sozusagen mit einer liebevollen Eintönigkeit, modulierte ganz wenig, mit einer gewinnenden Bescheidenheit, welche die Effekte der Aufmachung verpönte und nur die Substanz wirken lassen wollte. Da baute sich ein Dorf auf, das eigentlich bloß aus der Hauptstraße bestand, mit Handels- und Wirtshausschildern verziert, von Radio durchlärmt, «Gerzenstein, das Dorf der Läden und Lautsprecher». Eine protzige Fassade, hinter der nichts war, eine modern tuende Behäbigkeit, die einen Schwindel verdecken musste, so spürte man. Das Bild war überklar und bedrückend, wie in einer föhnigen Atmosphäre.

Glauser musste weiterlesen, bis man den Gang der Handlung und die Komposition, dieses verrückte Gerzenstein, seine Honoratioren und ihre Söldlinge, seine geheimen Laster und Verbrechen, diese hohle, brüchige Gesellschaft kannte, in der ein älterer kantonalbernischer Fahnderwachtmeister die Gerechtigkeit herstellen wollte.

Die zuhörenden Schriftsteller waren von verschiedener Richtung und pflegten sich zu versammeln, nicht um einander emporzuloben, sondern um durch unbeirrt sachliche Kritik einander zu fördern, voneinander zu lernen. Glauser wusste das und schien gefasst auf das Urteil zu warten. War es die Ungewissheit oder die Anstrengung des Lesens, die ihn in sich zusammensinken ließ? Er empfand wohl nicht, dass das kurze Schweigen, das seinem Vortrag folgte, der Sammlung diente, der Besinnung auf das passende Wort für sein Werk. Sein Gesicht war verschattet, ein bartloses Gesicht von unbestimmbarem Alter – achtundzwanzig, Mitte dreißig, vierzig?

«Sehr schön», fing einer an und rühmte die sichere und kühne Dialektfärbung der Sprache, die Menschengestaltung, die echte Atmosphäre. Man betrachtete die Sache von allen Seiten und kam überein, dass hier mehr als ein glänzender Kriminalroman vorlag. Das war ein Roman von wesentlichem sozialem Gehalt. Das war das Schweizerdorf, neuartig gesehen von einem geschulten, wissenden Auge und durchleuchtet von einem unerbittlich nach Wahrheit forschenden Geist. Das war ein Spiegel unserer Zeit – also das, was nach einer klassischen Begriffsbestimmung der Roman sein soll. Ein Spiegel, der das Bild unverzerrt, ohne Schmeichelei und ohne Hass, kräftig, leuchtend zurückwirft.

«Das freut mich, das freut mich», sagte Glauser ein übers andere Mal leise und herzlich, mit einem dankbaren Lächeln, das viele Fältchen in sein starkes, redliches Gesicht zeichnete. Der kleinen Versammlung hatte sich nun eine festliche Stimmung bemächtigt, jenes Glücksgefühl, das sich stets einstellt, wenn man eine frohe Entdeckung macht. Man hatte ein Talent gefunden, ein meisterliches Talent, da war gar kein Zweifel. Und so beriet man denn gleich, was man tun könnte, damit der Roman veröffentlicht werde. Er erschien später unter dem Titel Wachtmeister Studer im Morgarten-Verlag.

Glauser war nur wenige Tage in Zürich. Er kam von Basel und fuhr wieder dorthin, aber auch nur für wenige Tage. Dann kehrte er dahin zurück, wo er wohnte – in die Waldau. Der Gestalter einer phantastischen Wirklichkeit hatte ein phantastisches Leben. Im Schweizer Spiegel hat er einmal erzählt, wie er zum Rauschgift kam, zu Morphium und Kokain, später zum Opium, wie er um der «Ehre» willen für «verrückt» erklärt, in Irrenanstalten und Strafanstalten geschafft wurde. Er hat verschiedene Berufe gelernt, er kennt ein ganzes Stück Welt, ihre Hintergründe und Abgründe. Nein, nichts ist umsonst. Dieser Dichter dichtet nicht «aus der blauen Luft». Er ist tüchtig herumgetrieben und durchgeschüttelt worden. Wir brauchen nicht in seiner Biographie zu wühlen. Die flüchtig hingeworfene Skizze, die er mir schickte und die ich mit seiner Erlaubnis veröffentliche, lässt in der bewegten Aneinanderreihung von Stichworten die verschiedenen Milieux, die er erfahren und erlitten hat, deutlich genug aufblitzen. Das wiederholt verwendete Zeichen Mo ist die Abkürzung für Morphium.

«1896 geboren in Wien von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. Großvater väterlicherseits Goldgräber in Kalifornien (sans blague), mütterlicherseits Hofrat (schöne Mischung, wie?). Volksschule, drei Klassen Gymnasium in Wien. Dann drei Jahre Landerziehungsheim Glarisegg. Dann drei Jahre Collège de Genève. Dort kurz vor der Matur hinausgeschmissen, weil ich einen literarischen Artikel über einen Gedichtband eines Lehrers am dortigen Collège verfasst hatte. Kantonale Matur in Zürich. Ein Semester Chemie. Dann Dadaismus. Vater wollte mich internieren lassen und unter Vormundschaft stellen. Flucht nach Genf. Rest können Sie in Morphium nachlesen. Ein Jahr (1919) in Münsingen interniert. Flucht von dort. Ein Jahr Ascona. Verhaftung wegen Mo. Rücktransport. Drei Monate Burghölzli (Gegenexpertise, weil Genf mich für schizophren erklärt hatte). 1921–23 Fremdenlegion. Dann Paris Plongeur. Belgien Kohlengruben. Später in Charleroi Krankenwärter. Wieder Mo. Internierung in Belgien. Rücktransport in die Schweiz. Ein Jahr administrativ Witzwil. Nachher ein Jahr Handlanger in einer Baumschule. Analyse (ein Jahr), während der ich in Münsingen weiter als Handlanger in einer Baumschule gearbeitet habe. Als Gärtner nach Basel, dann nach Winterthur. In dieser Zeit den Legionsroman geschrieben (1928/29). 30/31 Jahreskurs Gartenbauschule Oeschberg. Juli 31 Nachanalyse. Jänner 32 bis Juli 32 Paris als ‹freier Schriftsteller› (wie man so schön sagt). Zum Besuch meines Vaters nach Mannheim. Dort wegen falscher Rezepte arretiert, Rücktransport in die Schweiz. Von 32 bis Mai 36 interniert. Et puis voilà. Ce n’est pas très beau …»

Schüler, Student, Bohemien, Versuchskarnickel für Psychiater, Fremdenlegionär, Geschirrwäscher, Bergarbeiter, Krankenwärter, Handlanger, Gärtner – Glauser kennt das Leben von allerhand Seiten. Als ich ihn in der Waldau besuchte – ein Wärter musste Zeuge unseres Gespräches sein –, bewunderte ich, wie er in dieser Umgebung, in der ein Gesunder krank werden könnte, seine Heiterkeit bewahrte und an seinen Büchern schrieb. Diese ungewöhnliche Widerstandskraft hat ihn vor dem Zerbrechen bewahrt und ihm zu einer innern Befreiung verholfen, die für die schweizerische Literatur und damit für unsere Zeitkunde eine wesentliche Bereicherung bedeutet.

Glauser schöpft, wie man so sagt, aus dem Vollen. Er ist kein bloßer Geschichtenerzähler, darum gibt es in seinen Romanen kein Happy End und überhaupt kein Ende. Man betrachte beispielsweise diesen Studer, diesen kurz vor der Pensionierung stehenden Fahnderwachtmeister. Er löst jedes kriminalistische Rätsel und macht doch keine Karriere. Er ist bei seinen Kollegen beliebt, die Vorgesetzten betrauen ihn gern mit schwierigen Fällen. Dabei hat er das Pech, dass er auf die letzten, auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge stößt, die schonungsvoll zugedeckt werden müssen und die er schonungslos aufdecken will. «Ein Gerechtigkeitsfanatiker! Dass es so etwas noch gibt!» denkt von ihm der Herr Untersuchungsrichter. Seit jener Bankaffäre, die der Studer einst bloßlegte und die dann vertuscht wurde, lässt man ihn die Verbrechen aufspüren, aber man verfolgt sie eben nicht bis zu dem bestimmten heiklen Punkt, wo der öffentliche Skandal anfangen würde. Und darum kommt der Studer auf keinen grünen Zweig. Ein Gerechtigkeitsfanatiker vermag nichts gegen die Gesellschaft, die ihn besoldet. Et puis voilà – um mit Glauser zu reden. Darum sind, wie gesagt, seine Kriminalromane sozialkritische Romane, ob nun das Dorf wie im Wachtmeister Studer oder das Irrenhaus wie in Matto regiert den Spiegel der Gesellschaft abgibt. Sie zeichnen sich aus durch die tiefe Kenntnis der Welt, die der Verfasser in den verschiedensten Sphären persönlich erlitten hat und persönlich gestaltete als ein streng disziplinierter Arbeiter und als ein Weiser, dem die Wahrheit das Lebenselement ist. War die Angst vor den Gesellschaftstanten der Grund, warum diese künstlerisch und dichterisch hervorragenden Werke so lange auf Verleger warten mussten?

 

Glausers erster und schönster Roman – Gourrama – wird, acht Jahre nach seiner Entstehung, im ABC gedruckt. Die Freude über dieses Ereignis wird sich – ich bin dessen gewiss – den Lesern mitteilen. Dieser erstaunlich reife Erstling weist alle Vorzüge auf, die wir an Glausers andern Werken schätzen. Und hier ist auch schon die große Perspektive, die das gesamte Leben umfasst – von der Insel eines entlegenen Legionspostens aus, einer von der westlichen Gesellschaft abgetrennten Insel, die den farbigen Glanz einer Fata Morgana und zugleich die Kraft eines Symbols der menschlichen Gesellschaft hat. In Gourrama gestaltete Glauser die Erkenntnis, dass man der menschlichen Gesellschaft nicht entfliehen kann, dass man sich mit ihr auseinandersetzen muss. Tapferer Glauser! Mögen die Blätter, auf denen Gourrama die erste Reise in die Welt antritt, ein herzliches Echo des Dankes wecken, den der Künstler in harter Wartezeit doppelt verdient hat. Sein musikalisches Ohr wird das Echo an der atlantischen Küste Frankreichs vernehmen, wo er jetzt lebt und arbeitet, und dann mag er wohl – wie damals in Zürich – mit einem knabenhaft glücklichen Lächeln leise vor sich hinsagen: «Das freut mich, das freut mich.»

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