Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket)

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Die Männer tranken Grappa, die Frauen Wein, die beiden jungen Orangeade. Die Schnäpse brachte der Kellner in Espresso-Tassen. Die italienischen Faschisten führten gerade eine »Kampagne gegen das Laster« und hatten den Ausschank von Grappa streng reglementiert, nach 21 Uhr gänzlich verboten. Aber niemand schien dies sonderlich ernst zu nehmen.

»So lässt sich Faschismus gerade noch ertragen«, fand Dr. Krauss. Er hob sein Kaffeetässchen und stieß mit Herrn Erbslöh an. »Bei uns dagegen«, fuhr er mit einem tiefen Seufzer fort, »da ist es genauso, wie es Max Liebermann kürzlich beschrieben hat: ›Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen muss …‹ – ich kann ihm da nur beipflichten. Prost, Curt! Auf unseren Nachbarn!«

Herr Erbslöh glaubte, er wäre gemeint, und dankte erfreut, obgleich das Prosit eigentlich dem 85-jährigen Maler und von den Nazis abgesetzten Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste galt, dessen Haus am Pariser Platz neben dem stand, wo Dr. Krauss noch als Anwalt praktizierte und wohin sein Freund Curt so gern zurückgekehrt wäre.

»Sei froh, dass du nicht gewartet hast, Curt«, sagte Georg Krauss etwas leiser. »Es wird jede Woche schwerer für alle, die noch zögern zu emigrieren. Goldstaubs bereiten jetzt ihre Auswanderung nach Amerika vor, Hirschfelds werden nächsten Monat nach Schweden abreisen – vor allem wegen der Kinder.«

Putti horchte auf.

»Poldi«, hörte er Dr. Krauss sagen, »ist jetzt allein – Puttis alte Freunde, auch Bernt, sind auf einer anderen Schule, wo es noch zivilisiert zugeht. Der arme Poldi aber muss in der Klasse hinten auf der ›Judenbank‹ sitzen, getrennt von den ›arischen‹ Schülern, und in den Pausen ist er auf dem Schulhof von drei älteren Hitlerjungen verprügelt worden. Nur ein Klassenkamerad ist ihm zu Hilfe gekommen …«

»Das war bestimmt der Wolfi«, rief Putti dazwischen. »Wolf Oppen, Papa, der bei uns in der Badischen Straße im zweiten Stock wohnt. Stimmt’s, Onkel Georg?«

Dr. Krauss nickte.

»Wolfi hat mir auch schon mal mächtig geholfen, als die Wilmersdorfer HJ hinter uns …« Putti brach ab, denn es fiel ihm ein, dass er, um die Eltern nicht aufzuregen, zu Hause nur erzählt hatte, er wäre auf der Treppe ausgerutscht und hingefallen.

Krauss, der seine Verlegenheit sah, kam ihm rasch zu Hilfe: »Das Tollste habe ich euch ja noch gar nicht erzählt: Erinnerst du dich an Krawuttke, Curt, unseren Hausmeister? Und an Max, das blasse Bürschchen, seinen missratenen Sohn, den du gegen Kaution …?«

»Ja, natürlich. Er kam gerade noch mit einer Geldstrafe davon. Was hat er nun wieder angestellt?«

»Er ist jetzt im Stab von Graf Helldorff, unserem neuen Polizeipräsidenten, und von diesem zum SA-Sturmführer z. b. V. ernannt. Z. b. V. heißt ›zur besonderen Verwendung‹. Er besucht wohlhabende jüdische Geschäftsleute und bietet ihnen seine Hilfe bei Auswanderung und Vermögenstransfer an. Bei Goldstaub war er und wollte dessen Atrium-Filmpalast kaufen – zu einem ›Freundschaftspreis‹, versteht sich, etwa so viel, wie die Polster der letzten Reihe im zweiten Rang gekostet haben … Umgekehrt will er Goldstaubs übriges Vermögen dann zum Transfer ins Ausland freigeben – was sagst du dazu?«

Putti stellte erleichtert fest, dass seine Eltern sich schon ganz auf das neue Thema eingestellt hatten. Seine Mutter gab ihrer Enttäuschung über die Zustände Ausdruck, die Gaunern erlaubten, als Polizei aufzutreten. Sein Vater aber dachte angestrengt nach.

»Also, Georg, ich hielte eine Schenkung für das Klügste«, meinte er schließlich, »natürlich notariell und mit einigen kleinen Auflagen …«

Georg Krauss stutzte, dann lachte er.

»Natürlich! Dass ich darauf nicht gekommen bin! Binnen welcher Frist kann die Schenkung widerrufen werden, wenn Bedürftigkeit eintritt?«

»Innerhalb der nächsten zehn Jahre, und es genügt, wenn der Schenker in seinem Einkommen erheblich gemindert ist.«

»Curt, das ist die Lösung! Das werde ich Goldstaub raten … Ach, es ist ein Jammer, dass du in Como sitzt und nicht mehr im Büro nebenan!«

Auf dem Heimweg sagte Putti zu seinem Onkel Georg: »Die Trapperausrüstung ist edelknorke, und am allerschönsten ist die Taschenlampe, mit der man sogar morsen kann! Hast du das gewusst?«

»Klar, und jetzt musst du Morsen lernen, als Erstes den internationalen Hilferuf SOS – dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz –, aber mach keinen Unsinn damit und übe nur im Zimmer. Um Hilfe darf man nur in wirklicher Not rufen!«

»Ich wollte dich bitten, die Trapper-Taschenlampe wieder mit nach Berlin zu nehmen und sie Wolf Oppen zu schenken …«

»Das finde ich aber sehr anständig von dir – aber, weißt du was? Ich habe noch eine zweite Lampe zu Hause, die bekommt der Wolf, und ich sage ihm wofür und richte ihm Grüße von dir aus – einverstanden?«

Wenn es von »edelknorke« noch eine Steigerung gegeben hätte, fand Putti, so wäre sie auf seinen Onkel Georg anzuwenden. Auch Karl Erbslöh war dieser Meinung. Die beiden Jungen verstanden sich von Tag zu Tag besser, aber gegen Ende August, als sie fast unzertrennliche Kumpel geworden waren, entschlossen sich Puttis Eltern zum Umzug nach Mailand.

In der Großstadt hoffte sein Vater eher eine Verdienstmöglichkeit zu finden, und dort gab es auch eine Schweizer Schule, die bereit war, den Schüler Richard Eichelbaum nach den Sommerferien aufzunehmen.

Anfang September nahmen sie Abschied von Erbslöhs, fuhren mit dem Zug ins nahe Milano und zogen in eine freundliche Familienpension in der Nähe der Scala, die ihnen empfohlen worden war. Nun hatte die Emigration erst wirklich begonnen, die »Sommerfrische« war endgültig vorbei, auch für Putti, der jetzt zu spüren begann, was es bedeutete, kein Zuhause mehr zu haben.

Bis zum frühen Nachmittag war er in der Schule, wo es ihm sehr schwerfiel, dem Unterricht in deutscher, italienischer und französischer Sprache, nicht selten auch in Schwyzerdütsch, zu folgen. Er, der in Berlin ein guter, die Anforderungen des Gymnasiums ohne Schwierigkeiten erfüllender Schüler gewesen war, zählte jetzt zu denen, die regelmäßig schlechte Noten bekamen, zu den »Nieten«, wie Dr. Zumsteg, sein Klassenlehrer, abfällig bemerkte.

Sein Vater versuchte ihn zu trösten: »Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein«, zitierte er den Evangelisten Matthäus, sehr zur Verwunderung von Lottchen, die besorgt fragte: »Du wirst doch nicht etwa fromm, Curtchen?«

Er lachte. »Keine Sorge – in gärend Drachengift hat man die Milch der frommen Denkart mir verwandelt …«

»Das kenne ich«, rief Putti, »das ist aus Wilhelm Tell, nicht wahr?«

»Na, siehst du, wenn du den Tell kennst, kannst du doch auf der Schweizer Schule damit glänzen!«

Putti befolgte dankbar diesen Rat. Nachdem ihm der Vater den entsprechenden Band von F. v. Schiller’s Sämmtliche Werke bei einem Antiquar besorgt hatte, las er das patriotische Schauspiel, bis er es fast auswendig konnte. Doch es bot sich ihm keine Gelegenheit, Herrn Dr. Zumsteg mit einem Zitat daraus zu beeindrucken, und seine Noten verbesserten sich durchaus nicht.

Es war überhaupt für ihn ein sehr trauriger Herbst und Winter, ohne Freunde, ohne Spielsachen, ausgenommen die Trapperausrüstung, mit der er aber im regnerischen Milano nichts anfangen konnte, und ohne ein richtiges Zuhause. Selbst die Abende, an denen sich die Pensionsgäste in der sala an einem großen Tisch zum gemeinsamen Abendessen einfanden und danach noch ein Stündchen beisammensaßen, miteinander plauderten oder Halma spielten, fand er anfangs nur langweilig, doch dann wurden sie ihm und auch seinen Eltern immer mehr zur Qual.

Seit Frau Curtius und Frau v. Stotz, ältere Beamtinnen des deutschen Konsulats, die ebenfalls in der pensione wohnten, herausgefunden hatten, dass es sich bei Dr. Eichelbaum und Familie um »nichtarische« Emigranten handelte, betraten sie die sala nur noch mit lautem Heil Hitler! und reckten dabei den rechten Arm zum »deutschen Gruß«. Sie erklärten den sehr erstaunten italienischen Pensionsgästen, dass sie so weit wie möglich entfernt von jenen »Hebräern« sitzen wollten, die zwar blond, aber keine »Arier« wären und daher »Untermenschen«, und sie ergingen sich in immer boshafteren Anzüglichkeiten, wobei die häufigen Fragen, ob dieses oder jenes Gericht, das serviert wurde, auch tatsächlich koscher sei, noch die harmlosesten waren. An einem nebligen Dezemberabend – Lottchen und Curt saßen bereits in der sala und unterhielten sich mit einem ingegnére aus Ascona, der ihnen wiederholt seine Sympathie bekundet hatte; Putti hatte sich einen der neuen Mickymausfilme ansehen wollen und gesagt, dass er etwas später käme – wurden sie plötzlich von schrillen Schreien aus dem hinteren Korridor aufgeschreckt: »Hiiilfe! Hiiilfe!«

Die Ursache blieb zunächst rätselhaft, das Abendessen verzögerte sich erheblich. Alle Gäste waren bereits versammelt. Auch Putti hatte sich längst eingefunden und saß brav zwischen seinen Eltern. Nur die Damen v. Stotz und Curtius sowie die Pensionswirtin fehlten noch.

Schließlich erschien die noch sichtlich erregte Wirtin, gefolgt von den beiden Mädchen, die die Schüsseln mit den Spaghetti brachten. Sie tuschelten und kicherten miteinander. Die signora schilderte dann mit dramatischen Gesten, was vorgefallen war:

Die beiden deutschen Damen glaubten, un spettro, un folletto, ein Gespenst gesehen zu haben! Ihr Fenster hätte sich von allein knarrend geöffnet, und ein kleiner buckliger Mann mit einem breitkrempigen Schlapphut, rotglühenden Augen und struppigem Bart wäre ihnen erschienen. Mit dürren grünen Fingern habe er auf sie gedeutet und sie dann in altertümlichem Deutsch mit dem baldigen Tode bedroht …!

 

Unsinn natürlich, una follia, nichts als Halluzinationen dieser ohnehin etwas überspannten Damen. Man hätte sie mit Weinkrämpfen ins Bett bringen müssen, und von dottore Grimaldi wäre ihnen ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht und drei Tage strenge Bettruhe verordnet worden.

Lotte Eichelbaum warf einen raschen Blick auf ihren Sohn, der sich aber ungerührt ganz seinen Spaghetti widmete, dann zu ihrem Ehemann, dessen Mundwinkel zuckten.

»Curtchen, bitte! Beherrsch dich!«

Später erkundigte sich der Papa bei Putti, ob er noch seine Trapper-Taschenlampe von Onkel Georg hätte, deren Licht, wie er sich zu erinnern meinte, auch auf Rot und Grün verstellbar wäre. Putti bestätigte beides, nicht ohne Stolz, und erbot sich, ihm die Lampe vorzuführen.

Aber der Papa winkte ab.

»Ich wüsste nur noch gern, ob es ein – natürlich in die Mehrzahl abgeändertes – Zitat aus dem vierten Akt war, das die Damen gehört zu haben meinen?«

Als Curt dann zu Lottchen ins Nebenzimmer zurückkehrte, nickte er nur, aber sie gab sich damit nicht zufrieden.

»Nun sag schon: Welche Stelle aus dem Tell war es?«

Curt flüsterte, wie wenn er am Wiener Burgtheater spielte und noch im dritten Rang gehört werden wollte, auch mit dem entsprechenden Pathos: »Macht eure Rechnung mit dem Himmel, Weiber! Fort müsst ihr! Eure Uhr ist abgelaufen … Es ist zwar sehr frei nach Schiller, hat aber offenbar Eindruck gemacht.«

»Warst du sehr streng mit ihm?«

»Ich sah dazu keinen Anlass. Auch sagte er: ›Ich hab’ getan, was ich nicht lassen konnte!‹ – ebenfalls aus dem Tell …«

Putti, der nebenan angestrengt gelauscht hatte, hörte seine Eltern zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig lachen.

Als er am nächsten Tag aus der Schule kam, berichtete er seiner Mutter voller Freude, er wäre von Herrn Dr. Zumsteg in Deutsch sehr gelobt und mit der besten Note bedacht worden. Sie freute sich und erlaubte ihm, ins Kino zu gehen. Dann fiel ihr etwas ein, und sie fragte: »Habt ihr vielleicht heute Wilhelm Tell durchgenommen?«

»Ja, endlich! Und ich kam gleich zu Anfang dran, weil ich der Einzige war, der das Stück schon kannte. Ich habe es ausführlich erzählt und konnte sogar einiges auswendig zitieren!«

»Fabelhaft«, fand Puttis Mutter. »Da sieht man mal wieder, wie nützlich die gründliche Beschäftigung mit Klassikern sein kann … Übrigens, vielleicht solltest du es jetzt mal mit Shakespeares ›Julius Cäsar‹ versuchen – wir werden nämlich bald nach Rom ziehen! Denk dir, Papa hat endlich etwas gefunden!«

Curt, der sich in Mailand seit Monaten vergeblich bemüht hatte, eine Anstellung zu finden, wo seine juristischen Kenntnisse gefragt wären, hatte schließlich resigniert und es mit einer Arbeit versucht, für die er sich nicht eignete und die ihm, außer Spesen, auch nichts eingebracht hatte: Er sollte die vornehmsten Mailänder Hotels, Restaurants, Nachtlokale und Ladengeschäfte dazu bewegen, teure Anzeigen in eine Schiffszeitung zu setzen, die auf den aus Übersee in Genua einlaufenden Passagierdampfern zwei Tage vor der Landung verteilt wurde.

Aber die Mailänder Hoteliers, Gastronomen und Juweliere glaubten so wenig an einen Erfolg solcher Reklame wie er selbst. Nur einmal bestellte einer ein teures Inserat. Es war der jüdische Inhaber eines kleinen Juwelengeschäfts an der Piazza Loreto, mit dem er sich lange unterhalten hatte über das Unglück, das den Juden in Deutschland widerfahren war.

Indessen hatte sich bei Curt schon auf dem Heimweg das Pflichtgefühl des korrekten preußischen Notars gerührt und schließlich durchgesetzt. Am nächsten Vormittag war er nochmals bei dem mitfühlenden Juwelier erschienen, hatte seinem bislang einzigen Kunden das Inserat wieder ausgeredet, denn das wäre für ihn doch nur hinausgeworfenes Geld, und den Vertrag storniert. Der Juwelier, der ihn dann zum Mittagessen eingeladen hatte, war sehr dankbar gewesen, das ihn auch schon reuende Geld wieder zurückzuerhalten.

»Aber, geehrter Herr Doktor«, hatte er Curt versichert, »als Verkäufer bei mir im Geschäft möchte ich Sie, Gott behüte, nicht!«

Immerhin hatte ihn die erfolglose Anzeigen-Akquisition alle besseren Hotels und Lokale der Stadt kennenlernen lassen, und im vornehmsten albergo, dem Principe e Savoia an der Piazza della Repubblica, war er im Foyer von einem eleganten, etwa zehn Jahre jüngeren Mann angesprochen worden, der ihn, wie er sagte, von Berlin her kannte und sich freute, ihn wiederzusehen.

Es war der Filmkaufmann Willy Karol, den er vor einigen Jahren einmal beraten und vor beträchtlichem Schaden bewahrt hatte. Nun erfuhr er, dass Karol mit dem Italien-Geschäft der Ufa betraut war, das einen sehr beträchtlichen Umfang angenommen hatte. Zum einen galt das faschistische Italien Mussolinis den neuen Herren in Berlin als »befreundetes Land«, zum anderen aber boten deutsch-italienische Koproduktionen noch die Möglichkeit, »nichtarische«, »jüdisch versippte« oder aus politischen Gründen nicht mehr »tragbare« Filmschaffende weiter zu beschäftigen – weniger aus Freundlichkeit und Menschenliebe, als vielmehr zur Verhinderung des totalen Zusammenbruchs der deutschen Filmindustrie.

Die meisten Filmautoren – von Vicki Baum bis Carl Zuckmayer –, die wichtigsten Regisseure und Produzenten wie Paul Czinner, Alexander Korda, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Max Ophüls, Erich Pommer, Otto Preminger, Leontine Sagan, Robert Siodmak, Josef von Sternberg, Wilhelm Thiele, Billy Wilder und viele andere, die bedeutendsten Filmkomponisten, aber auch die besten Kameraleute und vor allem die bekanntesten und beliebtesten Darsteller hatten jetzt in Deutschland Berufsverbot.

Curt hörte mit wachsendem Staunen, wer da alles vom Ministerium des Dr. Goebbels von Bühne und Leinwand verbannt worden war: Siegfried Arno, Else und Albert Bassermann, Elisabeth Bergner, Ilse und Curt Bois, Felix Bressart, Ernst Deutsch, Julius Falkenstein, Franziska Gaal, Kurt Gerron, Therese Giehse, Paul Grätz, Dolly Haas, Max Hansen, Oskar Homolka, Fritz Kortner, Peter Lorre, Lucy Mannheim, Fritzi Massary, Paul Morgan, Grete Mosheim, Max Pallenberg, Lilli Palmer, Camilla Spira, Ernst Stahl-Nachbaur, Szöke Szakall, Rosa Valetti, Conrad Veidt, Otto Wallburg und Adolf Wohlbrück, um nur die populärsten zu nennen, außerdem Sängerinnen und Sänger wie Gitta Alpar, Jan Kiepura, Josef Schmidt und Richard Tauber. Marlene Dietrich war freiwillig ausgewandert, Tilla Durieux mit ihrem jüdischen Ehemann geflüchtet.

Einigen »Nichtariern« oder mit solchen Verheirateten hatten die braunen Machthaber wegen ihrer besonderen Beliebtheit notgedrungen »vorläufig« gestattet, weiter aufzutreten, so Hans Albers – der sich weigerte, sich von Hansi Burg scheiden zu lassen –, Georg Alexander, Paul Henckels, Joachim Gottschalk, Theo Lingen, Hans Moser, Henny Porten, der Sängerin Erna Sack, Leo Slezak und Eduard von Winterstein. Selbst einigen nur hinter den Kulissen, als technische oder kaufmännische Spitzenkräfte, in der Filmindustrie tätigen »Nichtariern« war wegen ihrer Unentbehrlichkeit vorerst erlaubt worden, ihren Beruf weiter auszuüben, nach Möglichkeit außerhalb der Reichsgrenzen und bei Koproduktionen mit ausländischen Filmgesellschaften.

Zu diesen unentbehrlichen »Nichtariern«, so erfuhr Curt nun, gehörte auch sein früherer Klient Willy Karol, der ihn zu einem Cognac eingeladen hatte und ihn auszufragen begann: Ob er schon beruflich Fuß gefasst hätte, wie es mit seinen Sprachkenntnissen stehe, ob er auch komplizierte Verträge in englischer, französischer und italienischer Sprache aufsetzen könnte?

»Hören Sie, lieber Herr Dr. Eichelbaum, Sie schickt mir der Himmel! Sie sind genau der Mann, den ich in Rom brauche! Hätten Sie Lust dazu?«

Sie einigten sich dann, sowohl auf ein zunächst nicht allzu hohes, jedoch zum Leben ausreichendes Honorar als auch darauf, dass Curt Eichelbaum probeweise für sechs Monate zu Herrn Karol nach Rom ziehen sollte, vorerst allein, und dass die Reise- und Aufenthaltskosten von der Ufa getragen würden.

»Auf eine Filmkarriere hatte ich eigentlich nicht zu hoffen gewagt«, sagte Curt zu Lotte und Putti, nachdem er ihnen von der Unterredung mit Herrn Karol erzählt hatte, »am allerwenigsten bei der Ufa … Werdet ihr denn eine Weile lang ohne mich zurechtkommen? Es wird bestimmt keine sechs Monate dauern. Spätestens in sechs, acht Wochen werde ich euch entweder nachkommen lassen – oder wieder hier sein …«

»Ich werde auf Mama gut aufpassen«, erklärte Putti.

»Und ich auf den Jungen«, sagte Lottchen. »Ich drücke uns fest die Daumen, dass es in Rom so wird, wie wir hoffen!«

1. April 1935. Die sieben offiziellen Konzentrationslager in Deutschland werden der SS unterstellt.

Mai 1935. Die allgemeine Wehrpflicht wird eingeführt.

Juni 1935. Die Arbeitsdienstpflicht wird eingeführt.

September 1935. Die »Nürnberger Gesetze« machen die Juden, aber auch christliche »Nichtarier« und »Mischlinge«, zu Menschen minderen Rechts.

November 1935. Allen »Nichtariern« wird die Reichsbürgerschaft aberkannt.

Oktober 1935. Der Überfall Italiens auf Äthiopien beginnt.

Januar 1936. Den italienischen Verbänden gelingt nach Einsatz von Fliegerbomben und Giftgas gegen die Zivilbevölkerung der erste Durchbruch.

7. März 1936. Die deutsche Wehrmacht marschiert ins bis dahin entmilitarisierte Rheinland ein.

April 1936. In Deutschland beginnt der Propagandafeldzug gegen die moderne, angeblich »entartete« Kunst.

Juli 1936. Mit einem Putsch faschistischer Militärs unter Führung General Francos beginnt der Spanische Bürgerkrieg.

August 1936. Olympische Spiele in Berlin.

Herbst 1936. Deutsche (»Legion Condor«) und italienische Truppen werden in Spanien zur Unterstützung Francos eingesetzt.

Juli 1937. Die Japaner greifen China an und erobern Peking.

25. September 1937. Mussolini kommt erstmals zu einem Staatsbesuch nach Berlin.

Februar 1938. Hitler entlässt Reichswehrminister General v. Blomberg und übernimmt selbst den Oberbefehl. Pastor Niemöller kommt ins KZ.

März 1938. Hitler lässt die Wehrmacht in Österreich einmarschieren. Über 99% in Deutschland und Österreich stimmen im April für den »Anschluss«.

Rom

Mitte Januar 1935 – eben war das Saargebiet, wohin sich viele politische Emigranten geflüchtet hatten, nach einer Volksabstimmung wieder deutsch geworden – bekamen wir einen langen Brief von Lotte Eichelbaum – aus Rom:

Ihr Lieben, allzu lange habt Ihr nichts von mir gehört! Aber erst in den letzten Stunden bin ich wieder etwas zur Ruhe gekommen; die Wochen und Monate zuvor ließen mir kaum Zeit zum Schreiben. Gestern Abend brachte mir Peppino – das ist unser Hausmeister, ein sehr lieber, freundlicher und hilfsbereiter Mann, so ganz anders als die Feldwebel-Portiers unserer früheren Gegend! – meine bunten Chintz-Vorhänge, die wir damals zusammen ausgesucht haben, und die Organza-Stores für das Schlafzimmer, und er hat sie mir auch gleich aufgehängt. Sie waren zum Waschen und Spannen nach so langer Zeit in den staubigen Kisten, und nun, da sie an den Fenstern hängen, ist alles fertig eingerichtet. Ihr erseht aus alledem, dass wir endlich wieder eine richtige Wohnung mit unseren eigenen Möbeln haben und uns nach anderthalb Jahren zu Hause fühlen können! Es sind vier Zimmerchen, mit Küche, Bad und WC, alles in allem kaum größer als unser altes Wohn- und Esszimmer, wenn die Schiebetür dazwischen geöffnet war, also mehr eine Puppenstube, aber in einem schönen Neubau am Monte Mario über dem rechten Tiber-Ufer, weit im Nordosten der herrlichen Stadt, und mit einem hübschen kleinen Balkon. Doch nun der Reihe nach: Wie Ihr wisst, bekam Curt ein Angebot und fuhr nach Rom – auf den Tag genau heute vor einem Jahr! Putti und ich blieben zunächst noch in Milano, weil es ja erst nur probeweise war. Aber schon am 1. März bekam Curt einen festen Vertrag – eine große Erleichterung für uns, auch wenn die Einkünfte bescheiden sind! Eine Woche nach Ostern trafen Putti und ich in Rom ein, und wir wohnten dann, etwas beengt, in einem kleinen Hotel, bis wir diese Wohnung fanden, deren Fertigstellung sich aber hinzog – bis Mitte Dezember. Ich war schon ganz nervös, weil die Handwerker uns immer wieder vertrösteten. Wir müssen uns erst noch abgewöhnen, alles an preußischen Maßstäben zu messen; in Frankreich nennt man Leute wie uns ›les chez-nous‹, weil sie alles bekritteln und behaupten, ›chez nous‹, bei uns zu Hause, sei alles besser gewesen – mit nur einer, aber vielleicht nicht ganz unwichtigen, Ausnahme …

 

Curt hat sehr viel zu tun, kommt oft erst spät aus Cinecittà (am entgegengesetzten Ende der Stadt, wo die Studios und Büros sind), und nicht selten arbeitet er dann noch zu Hause bis spät in die Nacht an den komplizierten Filmverträgen mit Hollywood, Paris und – Berlin, das für uns in immer weitere Ferne rückt … Fast vier Wochen hat es gedauert, bis Curt am vorigen Sonntag endlich die Zeit gefunden hat, seine Bibliothek einzuräumen. Als er fertig war, stand er davor wie ein Kind vor dem Weihnachtsbaum!

Wir haben von dem, was in Zürich lagerte, so viel herkommen lassen, wie wir hier unterbringen können, und es traf wirklich vollständig und unbeschädigt ein! Auch von meinem Meißner Porzellan, das Ihis merkwürdiger Bräutigam damals mit Agnes’ Unterstützung eingepackt hat, ist kein Stück kaputt – es grenzt an ein Wunder! Als ich es auspackte, musste ich an die Geburtstagsfeier denken, bei der sich die Männer – ausgerechnet! – um die schräge Schlachtordnung des Alten Fritz bei Leuthen stritten und Curt mit der Rotwein-Karaffe, Ziethens Reiterei, meine schönste Bratenplatte, die Armee des zaudernden Marschalls Daun, zerschmetterte, und Curts Schwester Hetty ließ vor Schreck auch noch die Sauciere fallen … Erinnert Ihr Euch noch daran, wie wir gelacht haben, als Curt ganz entgeistert auf den verwüsteten Tisch starrte und sagte: ›Genauso war es! Die österreichische Hauptmacht war vernichtet, und Daun musste Schlesien aufgeben!‹, und Putti schrie dazu wie am Spieß … Übrigens, Putti, der Euch alle herzlich grüßen lässt, ist seit Oktober Page im Hotel ›Excelsior‹ – in grüner Livree und mit schiefsitzendem Käppi –, natürlich nur nachmittags, wenn er keine Schule hat. Er verdient so gut dabei, dass Curt schon gesagt hat: ›Ich weiß gar nicht, warum ich so lange studieren musste – nur weil Onkel Moritz keine Ahnung davon hatte, dass ein Hotelpage mehr verdient als ein preußischer Gerichtsassessor …‹ Putti ist mächtig gewachsen, schon größer als ich und fast so groß wie sein Vater. Die hiesige Deutsche Schule war, wie Hetty sagen würde, ›etwas diffizil‹ und wollte ihn nicht haben; die italienischen Gymnasien haben eine zu schwere Aufnahmeprüfung, und so blieb uns nur das Lycée Chateaubriand, eine französische Anstalt für Diplomatenkinder, privat und unverschämt teuer. Er hat einen weiten Schulweg und fährt jeden Morgen mit dem Rad durch die halbe Stadt, was mich täglich aufs Neue in Angst versetzt. Doch er fühlt sich dort und überhaupt, seit wir in Rom sind, recht wohl. Die Pagenstellung hat ihm Willy K., Curts Chef, verschafft, der schon seit anderthalb Jahren im sehr vornehmen ›Excelsior‹ wohnt (auf Spesen natürlich!) und wirklich sehr nett und hilfsbereit ist. Seine Frau Anni und er laden uns häufig zum Essen ein, und heute können wir uns zum ersten Mal revanchieren: Sie kommen gleich zur Einweihung unserer Wohnung …

Dieser Abend mit Willy und Anni Karol begann mit einer freudigen Überraschung, denn gleich beim Betreten der Wohnung sagte Herr Karol: »Ich habe mir erlaubt, euch, außer Blumen, noch eine Kleinigkeit mitzubringen …«

Dann öffnete er noch einmal die Wohnungstür, und hereinkam – Georg Krauss!

Er war erst vor einer Stunde aus Berlin angekommen und wusste viel zu berichten: Die Aufrüstung in Deutschland wäre in vollem Gange. Unter Bruch des Versailler Vertrags ließe Hitler die deutschen Streitkräfte verfünffachen, und es gäbe auch bereits, vorerst noch getarnt, eine Luftwaffe!

»Du meinst, es gibt bald Krieg?«, fragte Curt besorgt. Aber Krauss schüttelte den Kopf.

»Vorerst noch nicht – die Nazis brauchen noch einige Jahre, bis sie sich dazu stark genug fühlen, und bis dahin wird Hitler, dieser scheinheilige Halunke, aller Welt seine Friedensliebe beteuern. Göring ist gerade nach Polen gefahren und versichert den Generalen dort, dass sie keine zuverlässigeren Freunde hätten als die Nazis, und Ribbentrop reist demnächst nach London. Ich wette, er schließt mit den Engländern eine Art Freundschaftsabkommen und verspricht ihnen, Hitler werde nur ganz wenige Schlachtschiffe und U-Boote bauen lassen …«

»Dann besteht also keine Hoffnung, dass das Ausland eingreift und mit militärischem Druck dem Spuk ein Ende macht?«, fragte Karol.

»Weniger denn je«, erwiderte Krauss. »Die Engländer und Franzosen nehmen alles hin. Außenpolitisch hat der Schurke einen Erfolg nach dem andern, und er sitzt fest im Sattel. Nur mit Mussolini hat es Ärger gegeben, als im letzten Sommer die Nazis in Österreich zu putschen versuchten und dabei den Freund des Duce, den kleinen Diktator Dollfuß, ermordet haben. Aber Italien allein kann Hitler ja kaum gefährlich werden.«

»Uns kann es nur recht sein, wenn die Freundschaft zwischen Hitler und Mussolini in die Brüche geht«, stellte Karol fest, aber Dr. Krauss meinte düster: »Pack schlägt sich, Pack verträgt sich … Wir sollten nicht darauf bauen!«

Tags darauf, als sie allein waren, sagte Georg Krauss zu Curt: »Ich habe dir Geld mitgebracht – reg dich nicht auf! Ich weiß, es ist streng verboten, aber es ist ja schließlich dein Geld, das du ehrlich erworben und versteuert hast, und du brauchst es … Außerdem ist ja auch alles gutgegangen!«

Curt Eichelbaum war ganz aufgeregt.

»Um Himmels willen, Georg! Wenn sie dich erwischt hätten! Es wäre entsetzlich! Bitte, mach das nicht wieder! Ich will nicht, dass du unsertwegen deinen Kopf riskierst …« Er drückte ihm dankbar die Hand. »Versprich mir, dass damit jetzt Schluss ist – wir brauchen es ja auch nicht mehr so dringend …«

»Umso besser! Dann zahle ich es auf dem Rückweg in Zürich auf dein Konto – du hast doch noch etwas in der Schweiz gelassen?«

Curt nickte. »Ja, lass es in Zürich. Dann haben wir etwas mehr in Reserve für alle Fälle. Man weiß ja nie … – obwohl wir uns hier meiner Meinung nach sicher fühlen können. In einem paese sano come l’Italia, einem gesunden Land wie Italien, hat Mussolini erst kürzlich erklärt, gäbe es keine questione di razza, keine Rassenprobleme. Und tatsächlich macht man uns nicht die geringsten Schwierigkeiten.«

»Weil Karol gute Beziehungen zu den Faschisten hat«, stellte Georg Krauss trocken fest, »und weil du dich weder früher noch jetzt politisch betätigt hast … Übrigens, bekommt man hier das Pariser Tageblatt …?«


Das Ehepaar Willy und Anni Karol in Rom, 1938

Das wurde von dem hochbetagten Georg Bernhard, dem langjährigen Chefredakteur der einst sehr angesehenen, inzwischen eingestellten Berliner Vossischen Zeitung seit 1933 in Paris herausgegeben. Für jeden Nazigegner, der aus Deutschland kam, wo die Presse nur noch einseitig im Sinne der Nazis berichtete, waren solche in Prag und Paris erscheinenden Zeitungen der politischen Emigration begehrte Informationsquellen, ebenso die – im Reich verbotene – Basler National-Zeitung.

Georg Krauss war auch begierig auf ein Buch des früheren sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Gerhart Seger, der Ende 1933 aus dem Konzentrationslager Oranienburg bei Berlin hatte fliehen können und über die dort an den Gefangenen verübten Gräuel detailliert berichtet hatte. Aber Curt Eichelbaum erklärte ihm, solche Bücher wie auch die Emigrantenpresse wären in Italien verboten. Sie würden wohl eingeschmuggelt und illegal angeboten, aber damit wollte er nichts zu tun haben – er hielte sich strikt an die Vorschriften.

»Ich werde Putti bitten, mir das eine oder andere zu besorgen«, sagte Georg Krauss, aber Curt und Lottchen riefen wie aus einem Munde: »Nein, Georg, bitte – du bringst den Jungen in Gefahr!«

Er musste ihnen versprechen, Putti nicht mit solchen Wünschen zu behelligen, die ihn mit dem Gesetz in Konflikt bringen würden. Curt meinte, der Portier des Excelsior, wo Krauss abgestiegen war, wäre die richtige Adresse; er hätte von Karol gehört, dass der Concierge häufig für deutsche Hotelgäste »solche verbotenen Sachen« besorge …