Der Geheimbund der 45

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Die Stadtrechtsverleihung

Anno Domini 1281

Die magische Zahl VI

Kapitel 12

Hermann, der inzwischen zwölfte Abt des Klosters St. Georg, war vor zwölf Jahren verstorben, in einer Zeit, in der Kirche und Reich kein Oberhaupt gehabt hatten. Bereits ein Jahr zuvor hatte Truchsess Heinrich von Waldburg durch König Peter von Aragonien die Insignien des Herzogs von Schwaben erhalten, nachdem Konradin der Staufer gefangengenommen und in Neapel enthauptet worden war. Diese Situation hatte die Welt einmal mehr verändert.

Auch im allgäuischen Isine war es zu mehreren gewaltigen Einschnitten gekommen. Obwohl es gerade während der herrscherlosen Zeit ein besonders »ungutes« Leben für Volk und Adel gewesen war, hatte Ulrich Graf von Montfort sein Versprechen wahr gemacht und das inzwischen schmucke Städtchen zu einem Handelsknotenpunkt geformt. Daran hatte sich nichts geändert, als Isine in den Lehens- und Pfandbesitz der Truchsessen von Waldburg gekommen war.

Lediglich die vom Montforter Grafen gewünschte Stadtmauer aus Stein war immer noch nicht richtig verwirklicht worden. Die Grundlagen hierfür hatte er mit seinem strategisch klugen Straßen- und Marktausbau in Isine gelegt … und im Sommer des Jahres 1269 dabei insofern Glück gehabt, dass eine gewaltige Feuersbrunst zwar fast den gesamten Klosterkomplex in Schutt und Asche gelegt, die Stadt selbst aber nicht erfasst hatte. Dies war der Grund gewesen, weswegen es nicht zum Bau der Stadtmauer gekommen war.

Dennoch war die Bevölkerung von Isine mit dem zufrieden, was sich in ihrem Städtchen verbessert hatte. Allerdings schielte sie doch mit einem leichten Gefühl des Neides auf das aufblühende, selbstständige Lindau, dem sie gerne ebenbürtig wäre.

*

Obwohl es in erster Linie die Aufgabe der Mönche gewesen war, das bis auf die Grundmauern niedergebrannte Kloster wieder zu errichten, hatten sich auch die Einwohner von Isine fleißig daran beteiligt. So war trotz seines fortgeschrittenen Alters auch Godefried Eberz dem Ruf der Mönche gefolgt, sich durch das Einbringen seiner Arbeitskraft einen Platz im Himmelreich zu sichern. Wenn er selbst auch nicht daran geglaubt hatte, war es für ihn und seine Familie gleichsam Ehre und Verpflichtung gewesen, beim Klosteraufbau mit dabei zu sein, … auch wenn dies seine morschen Knochen eigentlich nicht mehr zugelassen hatten. »Aber was tut man nicht alles für …«

»Ich dachte, du glaubst nicht daran, dich in den Himmel einkaufen zu können?«, hatte ihn seine Frau Maria nicht nur einmal schmunzelnd unterbrochen und ihm sein heißgeliebtes Pflaumenmus hingestellt, das Godefrieds Meinung nach »gut für den Körper« sein sollte.

Trotz der Beschwerden des Alters waren die beiden ein glückliches und zufriedenes Paar. Lediglich ihr jüngster Sohn Lukas bereitete der Mutter nach wie vor ernsthafte Magenbeschwerden und dem Vater Kopfzerbrechen. »Was haben wir mit der Erziehung nur falsch gemacht? Aus Cristoff und Friedrik ist doch auch etwas geworden!«, klagte Godefried bei der Morgensuppe einmal mehr seiner Frau, weil er es nicht verstehen konnte, dass Lukas ganz aus der Art geschlagen und straffällig geworden war.

»Aber er ist trotzdem unser Sohn!«, versuchte Maria, den mittlerweile stadtbekannten Dieb und Einbrecher in Schutz zu nehmen.

»Dass ein Eberz am Haus des Grafen bereits zum zweiten Mal angekettet für jedermann sichtbar ganze zwei Tage und Nächte lang auf dem Prangerstein stehen musste, ist wohl mehr als unangenehm … und ganz beiläufig gesagt auch geschäftsschädigend«, ärgerte sich das Familienoberhaupt, das Lukas trotz allem immer noch genauso liebte wie seine beiden älteren Brüder.

Und weil Maria dies wusste, legte sie ermutigend ihre Hand auf seine und hauchte ihm ein sanftes »Ich liebe dich, du alter Griesgram!« entgegen.

»Du hast ja recht, Maria! Mir hätte nichts Besseres passieren können, als mit dir Kinder zu bekommen!«, entgegnete er mit dem Blick in den Augen, in den sie sich vor nunmehr fast fünfzig Jahren verliebt hatte.

»Wie es Philip wohl in den südlichen Gefilden ergeht?«, leitete Maria in melancholisch klingendem Tonfall zum Vetter ihres kränkelnden Mannes über, um ihn von seinen trüben Gedanken an Lukas abzulenken. Immer wenn Handelsreisende aus den italienischen Landen zurückgekehrt waren, hatten sie erfahren, dass aus Godefrieds Onkel Paul etwas ganz Besonderes geworden war. Aufgrund seiner guten Beziehungen zu einem Professore di medicina in Bologna hatte Melchior Habisreitinger den jungen Allgäuer tatsächlich an der dortigen Università unterbringen können, wo er allerdings anstatt die vom Vater gewünschte Arithmetik das Studienfach Medizin belegt hatte.

Und weil es sich um die wohl älteste Universität der Welt handelte – so zumindest behaupteten dies die dortigen Professoren –, hatte diese Universität einen ganz besonders guten Ruf, der ihr schon vorausgeeilt war, als dort die »Schule des Rechts« gegründet worden war. »Wäre dies nicht auch etwas für mich?«, hatte der an allem interessierte junge Mann aus dem fernen Isine damals gefragt und bei seiner Einschreibung zur Antwort bekommen, dass er sein Maul halten und zufrieden sein solle, beim berühmten Professore Rizzardini studieren zu dürfen. Also war aus dem Kaufmannssohn Paul Eberz aus Isine im Allgäu anstatt eines Zahlenkünstlers oder eines Rechtsgelehrten innerhalb weniger Jahre ein Medico und später sogar ein hochreputierter Professore geworden. Und später aus seinem Sohn Philip über die Jahre ebenso.

Als »Professore Philippo«, wie man Philip Eberz in seiner südländischen Wahlheimat allseits genannt hatte, eines Tages klar geworden war, dass er sterbenskrank war, hatte er seine Arbeit niederlegen wollen, um in die Allgäuer Heimat seiner Familie zurückzukehren. Aber dies hatte sich nicht so einfach gestaltet wie er gehofft hatte; denn »Philippo« hatte sich in der norditalienischen Region Emilia-Romagna derart unentbehrlich gemacht, dass man ihn nicht hatte gehen lassen wollen. »Due Semestre!«, hatte der Leiter der Universität seinem besten Professore die Abwesenheit zugebilligt, ihn wegen seiner fortgeschrittenen Krankheit dann aber doch für immer ziehen lassen müssen. Leider war die Reise für den kranken Philip Eberz so anstrengend gewesen, dass er es nicht bis nach Isine geschafft und bei der anstrengenden Überquerung des Brenners verstorben war.

Philip Eberz hatte sich wegen seiner herausragenden Leistungen schon während seines Studiums an der Unversità di Bologna ganz offiziell mit der Anatomie des menschlichen Körpers befassen dürfen. Weil später aus ihm ein Dozent geworden war, der dies seinen Studiosen beibringen mochte, hatte er sogar eine »permesso speciale« zur Begutachtung der inneren Organe erhalten. Obwohl es ihm in Bologna in jeder Hinsicht stets gut ergangen war, hatte ihn die Neugier nach der Heimat seiner Familie, aus der sein Vater vor Jahrzehnten gezogen war, stets begleitet. Und mit zunehmendem Alter war dies immer schlimmer, anstatt besser geworden. Weil er zudem mit argen Schmerzen zu kämpfen gehabt hatte, war ihm schon lange klar geworden, dass er seinen Professorenposten bald würde aufgeben müssen. Also hatte er geplant, baldmöglichst nach Isine zu reisen, um dort in monetär abgesicherten Verhältnissen seinen Lebensabend zu verbringen.

Philip war ganz nach seinem Vater geraten. Während seines gesamten Lebens in Bologna hatte der spröde Mann keine nennenswerten Freundschaften geschlossen und niemanden allzu nahe an sich herangelassen. Lediglich zu Matteo Gallo, einem seiner ehrgeizigsten und besten Studiosen, hatte er Vertrauen gefasst und ihm bei den vielen gemeinsamen Spaziergängen durch Bolognas Straßen und Gassen von der Allgäuer Heimat erzählt und von einem Isine vorgeschwärmt, das er nur aus den Erzählungen seines Vaters gekannt hatte. Die beiden hatte die Leidenschaft zu ihrem Beruf verbunden, insbesondere aber die Besessenheit zur Erforschung des menschlichen Körpers. Um wissenschaftlich vorwärtszukommen, hatten sie neben ihrer offiziell genehmigten Arbeit auch noch heimlich Leichenöffnungen vollzogen. Von Ehrgeiz zerfressen hatten sie sich dazu hingerichtete Verbrecher und verstorbene Landstreicher oder andere Verblichene besorgen lassen, deren Verbleib niemanden interessierte.

Matteo, der junge Medico aus Bologna, hatte aufgrund seiner engen Verbindung zu seinem Mentor Kontakte mit anderen Handelsreisenden nördlich der Alpen. Dies hatte den klugen Kopf dazu ermuntert, seine wegen des Professors sowieso schon guten Deutschkenntnisse zu erweitern.

Nach »Philippos« Tod, hatte er immer wieder etwas aus Isine erfahren, was Wehmut in ihm hatte aufkommen lassen, obwohl er die Heimat seines verstorbenen Freundes nur aus dessen Erzählungen kannte.

*

Wie meistens um diese frühsommerliche Jahreszeit glühte die Sonne über »Bella Italia«. Weil in diesem Jahr ein ganz besonders heißer Sommer herrschte, schwitzten die Menschen jetzt noch mehr als sonst. Deswegen sehnten sich viele von ihnen nach dem Schatten der Pinien und Zypressen. Andere verkrochen sich zu Hause oder suchten Erholung in einer Osteria. Und diejenigen, die es sich leisten konnten, gönnten sich dort ein kaltes Getränk – so auch der stadtbekannte Medico Matteo Gallo, der – wie an fast allen Tagen – nach mehreren Vorlesungen in seine Lieblingsosteria gekommen war, um sich dort zu zerstreuen.

Wie oft war er mit »Philippo« hier gewesen? Er wusste es nicht.

Matteo liebte dieses Lokal an der weitläufigen, von Arkaden gesäumten Piazza Maggiore allein schon wegen der Vielfalt des dortigen Publikums. Hier trafen sich Intellektuelle, Künstler, Kaufleute, Handwerker und Menschen einfacher Berufe aus aller Welt. Und genau dieses Gemisch gefiel dem allseits beliebten Medico, von dem niemand ahnen konnte, was er in aller Heimlichkeit trieb. Bologna war ein bedeutendes Zentrum für Architektur, Kunst und Kultur, aber auch für die Wissenschaft, die hier ganz besonders verwurzelt war. Nicht umsonst wurde die Stadt als »La Dotta«, die Gelehrte, bezeichnet. Weil in Bologna aber auch der Handel eine wichtige Rolle spielte, trafen sich in der »Osteria Maggiore« ebenso Handelsreisende aus allen Ecken der bekannten Welt. Matteo hatte sich gestern anstandshalber die Ware eines lästigen türkischen Teppichhändlers zeigen lassen. Heute unterhielt er sich mit einem ihm bereits bekannten Salzroder aus Hall in Tyrol, der weit herumgekommen war. Und weil auch er den Professore von dieser Osteria her gekannt hatte, berichtete er seinem Gesprächspartner, dass »Philippos« Heimatort Isine das Stadtrecht verliehen werden solle. So ganz nebenbei erwähnte der Salzfuhrwerker, dass er nicht direkt ins Tyrolerische zurückkutschieren würde, weil er zuvor noch in eine andere Richtung müsse. »Ich habe eine Rückfracht nach Memmingen!«, sagte er in einem Ton, als wenn er dies für seinen Zuhörer als unwichtig erachten würde.

 

Als Matteo aber »Memmingen« hörte, horchte er auf. »Liegt diese Stadt nicht ebenfalls im Allgäu wie Isine?«

Nun wurde der Salzroder stutzig. »Nein! Ich glaube nicht, dass Memmingen noch zum Allgäu gehört! Aber du kennst dich dennoch gut in den deutschen Landen aus?«, wunderte er sich.

»Also bringst du deine Rückfracht bis in die Nähe von Isine?«, drängte der Italiener.

Der bullige Fuhrwerker spuckte aus, bevor er sich mit seiner tellergroßen Hand den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Dann nickte er und sagte: »Das nicht gerade. Ich muss zur Äbtissin des dortigen Augustinerinnenklosters! Aber von ›Nähe‹ kann keine Rede sein, denn zwischen Memmingen und Isine dürften etwa fünfundzwanzig Meilen oder mehr liegen!«

»Was hast du denn geladen?«

»Hauptsächlich Knoblauchzehen, Oliven … und einen hervorragenden Rotwein!«

Nun musste Matteo schmunzeln. »Vino rosso? … Jaja, die geistliche Obrigkeit lässt es sich nicht nur in Rom gut gehen!«, rutschte es ihm versehentlich in seiner Muttersprache heraus.

Weil sein Gegenüber nichts verstanden hatte, bemerkte auch Matteo nichts mehr dazu. Stattdessen schenkte er dem offensichtlich durstigen Mann Wein ein und fragte ihn nach seinem Namen.

»Hannß! Warum?«

»Ciao, Hannß! Ich heiße Matteo!«

»Ciao!«, antwortete Hannß.

Weil Matteo ein durchtriebener Mann war, gelang es ihm mühelos, sein Gegenüber weiter erfolgreich auszufragen: »Wann musst du wieder zurück?«, hatte er Hannß Greiter, wie der Mann mit vollem Namen hieß, gefragt und zur Antwort bekommen, dass der noch über Rimini und Arcona bis nach Perugia müsse, um dort seine Rückfracht abzuholen, die er direkt nach Memmingen bringen musste.

»Und dann?«, interessierte Matteo, während er dem herben Mann Wein nachschenkte.

»… muss ich auf direktem Weg wieder zurück nach Hall!«

»Aber du könntest mich bis nach Memmingen mitnehmen?«

Hannß überlegte kurz und nahm einen kräftigen Schluck, bevor er grinsend den Daumen und den Zeigefinger aneinander rieb.

Matteo grinste auch und sagte: »Kein Problem! Wir werden uns sicher handelseinig! Könntest du mich denn auch bis nach Isine bringen?«

Obwohl dies ein großer Umweg wäre, dachte Hannß ernsthaft darüber nach, ob und wie er dies würde bewerkstelligen können. Dann sagte er in verschlagenem Tonfall: »Das wären dann etwa dreißig weitere Meilen!«

»Fünfundfünfzig Meilen!«, entfuhr es Matteo entsetzt. »Fünfundfünfzig Meilen mehr, als wenn wir von Memmingen aus über Leutkirch nach Isine kutschieren würden!«

»Ja!«, bestätigte Hannß, über die Ortskenntnisse des Italieners erstaunt. »Wenn ich schon bis dort runterkutschiere, muss ich zum dortigen Fürstabt Rudolf von Hohenegg, den ich bei dieser Tour eigentlich nicht eingeplant hatte.«

»Das verstehe ich nicht.«

Nun kam die große Stunde des Fuhrwerkers, der gewittert hatte, dass er für seine Dienste wesentlich mehr herausschlagen konnte als bei jeder normalen Fahrt. »Ganz einfach!«, begann Hannß. »Wenn der Fürstabt hinterher erfährt, dass ich im Allgäu war und nicht zu ihm gekommen bin, um ihm ein Fass Rotwein und mindestens eine Mandel Olivenkrüge mitzubringen, wird er so verärgert sein, dass ich mit ihm wohl nie mehr ins Geschäft kommen werde!«

Aber Hannß brauchte seinen Wert gar nicht künstlich zu steigern. Matteo fragte nach dem Preis, den er sofort akzeptierte, während er dem Fuhrwerker die Hand reichte.

»Und das Futter für meine beiden Zugtiere versteht sich von selbst!«, schoss es schnell aus Hannß heraus, der sich darüber ärgerte, nicht noch mehr verlangt zu haben.

»Du schlauer Fuchs!«, lachte Matteo und reichte Hannß nochmals die Hand, damit die Sache endgültig stand und keine weiteren Kosten hinzukamen.

»Also gut …«

»Das passt alles wie für mich gemacht!«, freute sich Matteo. Weil das letzte Semestre vor den großen Sommerferien bevorstand, machte er mit dem Salzroder aus, sich nach dessen Rückkehr aus Perugia in Bologna abholen zu lassen.

»… aber nicht ohne eine Anzahlung!«, hatte das gutmütige Schlitzohr noch gefordert, bevor die beiden ungleichen Männer ihre Abmachung ordentlich begossen hatten.

Kapitel 13

Während Hannß den Verlauf ihrer Reise im Nachhinein als »völlig normal und harmlos« bezeichnete, war es für Matteo eine derartige Schinderei gewesen, dass er völlig erschöpft und abgemagert war, als sie eines Spätnachmittags im sonnendurchfluteten Isine ankamen.

»Was ist denn hier los?«, hatten sich die beiden grundverschiedenen, während der langen Reise aber dennoch zu Freunden gewordenen Männer gefragt, als ihnen die allgemeine Betriebsamkeit der vielen Menschen auffiel, während sie durch das Bergtor die Hauptstraße hinunterkutschierten, um eine Herberge zu suchen.

»Scusi!«, rief Matteo vom Kutschbock herunter und bekam von einer der beiden Frauen, die er angesprochen hatte, ein »Hä?« zurück.

Über diese kurze Antwort erstaunt, schaute er erst die Frau, dann Hannß an, der sofort lauthals zu lachen begann, bevor er seinem Freund erklärte, dass sie ihn nicht verstanden hatte. »Sie kann kein Italienisch! Lass mich mal versuchen, vielleicht versteht die holde Maid ja einen Tyroler!«

Nachdem Hannß in seinem hier zwar nicht unbedingt allseits bekannten, aber dennoch verständlichen Dialekt höflich nach einer Herberge gefragt hatte, zeigte die Frau nach vorne. »Ihr miesset bloß g’rad’aus, nananab durch’s Schdädtle! Dann ab bizzle rechts ’nauf bis zur Kloschd’rmihle! Dô isch dann d’r ›Schwanê‹! Pfiat eich Gott!«

»Danke!«

»Grazie, signora!«

»As sei scho recht!«, sagte die Ältere.

Als der Planwagen an den beiden vorbeizog, kicherte die andere und meinte zu ihrer Freundin: »Hôsch dean schwarze’ Deif’l g’sea? Und hôsch g’sea, wie der mi a’glueget hôt? Der kennt m’r herrgottig g’falle’!«

»Wenn du muisch!«

Damit war die Konversation der beiden Dorfschönheiten beendet.

Die der Kutscher aber nicht: »Hast du ein Wort verstanden?«, mochte Hannß lachend von seinem Freund wissen.

Matteo gab keine Antwort. Stattdessen hatte er sich seitlich so weit vom Bock gelehnt, dass er zurückschauen konnte. Erst als er von Hannß einen Rempler in die Rippen bekam, besann er sich wieder auf ihre Fahrt. »Was hast du gesagt?«

»Sag nicht, dass dir die Kleine mit dem güldenen Haar gefallen hat!« An Matteos Reaktion merkte Hannß, dass er die Gefühle seines Freundes richtig eingeschätzt hatte. »Das glaube ich jetzt nicht!«

Mit sich und der Welt zufrieden fuhren sie an etlichen Betrieben vorbei: einem Becherer, mehreren Lodwebern, einem Schuhmacher, einem Nagler und sogar einem Murator, der den wachsenden Wunsch betuchter Zugereister nach Häusern aus Stein befriedigte.

»Sieh mal, Hannß …« Der gottesfürchtige Italiener bekreuzigte sich, bevor er aufgeregt nach vorne zeigte. »Rechts oben ist ein Kloster!«

»Und wo Klosterbrüder sind, wird auch gesoffen! Da kann eine Schenke nicht weit sein«, war sich der durstige Fuhrwerker sicher und sollte recht behalten. Denn gleich darauf zeigte Matteo zu einem ausladenden Metallschild in Wappenform, das unter dem Giebel eines Hauses hing. Darauf war ein weißer Schwan abgebildet, was auf eine Herberge, zumindest aber auf eine Schankwirtschaft hinweisen könnte. Und tatsächlich: Nach wochenlangen Strapazen waren sie an ihrem Ziel angekommen und schienen auf Anhieb eine Unterkunft gefunden zu haben.

Das Gebäude mitsamt den überdachten Wagenabstellplätzen und der dazugehörenden Landwirtschaft war erst vor Kurzem das Eigentum von Friedrik Eberz geworden. Denn der findungsreiche mittlere Sohn von Godefried und Maria Eberz war kaum erwachsen geworden, als er sich von den Eltern sein Erbteil hatte auszahlen lassen. Damit hatte er den gesamten Wirtshaus- und Beherbergungsbetrieb zu einem Spottpreis kaufen können, weil der Vorbesitzer, der das Gebäude vom Kloster gepachtet hatte, auf die Gant gekommen war. Seither führte einer aus dem alteingesessenen Geschlecht der Eberz die älteste Schenke von Isine, die schon vor einhundertzwölf Jahren in Zusammenhang mit einem Tauschgeschäft zwischen dem Kloster und dem Dorf durch Wolfrad Graf von Altshausen neben einer Mühle an das Kloster übergeben worden war und immer schon Salzrodern, Tuchhändlern und anderen Reisenden als Unterkunft gedient hatte. Und weil Friedriks älterer Bruder Cristoff inzwischen Bürgermeister war, hatte es auch keine Probleme gegeben, das neu zu beantragende »Krugrecht« für die Schankstube »Zum Schwanen« zu erhalten.

*

»Ihr habt Glück, dass ich noch eine Kammer und einen Stellplatz für euer Fuhrwerk frei habe!«, sagte der geschäftstüchtige Wirt, um den Übernachtungspreis anheben zu können. Den Matteo hoch dünkenden Übernachtungszins begründete der Wirt damit, dass Isine in wenigen Tagen das Lindauer Stadtrecht verliehen werden sollte, weswegen »eigentlich« jetzt schon alle Schlafkammern besetzt seien, »… egal, was sie kosten!«

»Schon gut!«, sagte Matteo. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als schon wieder in freier Natur unter dem Planwagen schlafen zu müssen, wie dies während der Reise meistens der Fall gewesen war.

»Also gut! Gebt mir eine Anzahlung und mein Knecht Jockel versorgt eure Tiere und das Fuhrwerk, während ihr euch am Brunnen im Hof waschen könnt, bevor ihr eure Kammer bezieht!«, lockte der Wirt, um schnell mit Matteo handelseinig zu werden.

Obwohl die beiden Fremden todmüde waren, saßen sie eine Stunde später in der Schankstube und ließen sich das Bier schmecken, das ihnen Resi, die dralle Schankmagd, unaufgefordert hingestellt hatte.

»Was für ein Weib!«, stellte Hannß entzückt fest, nachdem er ihr so ungeniert in den offenherzigen Ausschnitt geguckt hatte, dass er von Matteo einen Fußtritt bekommen hatte. Nach wochenlangen Entbehrungen würde es den Fuhrwerker gelüsten, sich endlich wieder einmal so richtig verwöhnen zu lassen.

Weil Matteo die Gedanken seines neuen Freundes lesen konnte und ihn davon weglenken mochte, fuhr er mit einem forschen »Salute!« dazwischen.

»Salute, mein italienischer Freund!«, entgegnete Hannß, während er den Krug hob und Resi sehnsüchtig hinterherschaute.

*

Nach und nach füllte sich die Schankstube, in der dem Anschein nach ausschließlich Bier getrunken wurde, was Matteo Anlass dazu gab, sich zu wundern.

»Bestimmt gibt es hier auch Wein!«, orakelte Hannß, der eigentlich hätte wissen müssen, dass sich das einfache Volk überhaupt keinen Wein leisten konnte. Aber dies machte den beiden nichts aus; Hannß war an Bier gewöhnt und Matteo schmeckte das dunkelbraune Gebräu.

»Weißt du noch, als wir bei der Überquerung der Alpen fast abgestürzt wären, weil eines meiner Rösser wegen einer Kreuzotter gescheut hatte?«, eröffnete Hannß das Gespräch, das sich an diesem Abend hauptsächlich um ihre Reise drehen sollte.

»Ja!«, antwortete Matteo. »Dass du zuvor aber einen Landsmann von mir erwürgt hast, wäre allerdings nicht nötig gewesen, oder?«

»Sag mal, bist du der Narretei verfallen? Diese vier italienischen Straßenräuber wollten uns umbringen und unsere Habe stehlen! Hätte ich mich nicht gewehrt, wären wir jetzt beide nicht mehr am Leben!«

Du hast ja recht, dachte sich Matteo, dem die drei Verletzten und der Tote im Grunde genommen nicht leidtaten. Vielmehr ärgerte es ihn, dass er den Körper des toten Strauchdiebes nicht für seine wissenschaftlichen Untersuchungen hatte verwenden können.

 

»Noch ein Bier?«, fragte Resi den Salzroder und bedeutete ihm mit einer unverhohlenen Geste, ihm unauffällig nach hinten in den Hof zu folgen. Sie hatte längst bemerkt, dass der kräftig wirkende Mann heiß auf sie war. Und er gefiel ihr.

»Nun geh schon«, flüsterte Matteo seinem Freund in abgehacktem Deutsch zu, bevor er sich mit Händen und Füßen an Resi wandte: »Aber vorher bringst du mir etwas zu essen!«

Inzwischen war es draußen so dunkel geworden, dass der Wirt eiserne Spanhalter mit Holzspänen auf die Tische stellte, die er zuvor in Öl eingelegt hatte, damit sie länger brannten und keine Funken versprühten. »Achtet gut auf das Feuer!«, mahnte er jeden einzelnen der Männer, die an den nunmehr gut beleuchteten Tischen saßen.

Auch darüber wunderte sich Matteo, denn in den italienischen Landen hatte man dafür kleine Tonschälchen, in die Öl gefüllt wurde, das man an einem Docht entzündete, der aus einer kleinen Öffnung herauslugte. Andere Länder, andere Sitten, dachte er über diese Rückständigkeit.

Während der Italiener sich angeregt, wegen des Dialektes aber auch angestrengt mit den Männern unterhielt, die sich in der Abwesenheit seines Freundes zu ihm an den Tisch gesetzt hatten, hörte er den Wirt fluchen: »Wo bleibt dieses faule Luder schon wieder?«

Weil Matteo wusste, weshalb Resi verschwunden war, amüsierte er sich königlich darüber. Aber das Grinsen verging ihm rasch, denn am Nebentisch bahnte sich eine handfeste Rauferei an: Drei Männer gingen schreiend auf einen Kerl los, dessen strohfarbenes Haar zu einem Zopf geflochten war, der ihm fast bis zum Steiß hinunterreichte. Zuerst ergab ein Wort das andere, dann wurde es immer lauter. Schließlich begannen die drei Kontrahenten des langhaarigen Mannes, gemeinsam auf ihn einzuprügeln. Niemand ging dazwischen. Alle schauten nur zu, ohne in den ungleichen Kampf einzugreifen. Also stand Matteo, der zwar gut aussehende, aber nicht gerade überaus kräftig wirkende Italiener, auf und ging zum Nebentisch. »Silenzio! Haltet ein!«, schrie er, so laut er konnte, und fing sich von einem der Männer einen solch harten Faustschlag ins Gesicht ein, dass er besinnungslos zu Boden ging.

»Niemand schlägt meinen Freund ungestraft!«, bellte es plötzlich von hinten, während der erste der drei Männer vom Tisch weggerissen und in eine Ecke des Schankraums geschleudert wurde. Als der zweite aufbegehren wollte, bekam er einen solchen Schlag verpasst, dass er mit seinem Kopf auf die Tischplatte knallte. »Und? Ist noch etwas unklar?«, fragte Hannß, der gerade im rechten Augenblick von seinem Schäferstündchen zurückgekommen war. Dann packte er den dritten Mann am Kragen und schüttelte ihn durch. »Und jetzt raus mit euch! Nimm deine Kameraden mit und verschwinde!«, schrie er noch, bevor er den Langhaarigen fragte, ob alles in Ordnung sei.

Durch die unglaubliche Schnelligkeit, die der eher träge wirkende Salzkutscher gezeigt hatte, war nicht nur das Opfer der drei Männer so verblüfft, dass ihm im Moment nichts einfiel. Erst als die Männer an den anderen Tischen begeistert mit ihren Händen klapperten, merkte der Langhaarige, was eigentlich geschehen war: Ohne das beherzte Einschreiten des schmächtigen Mannes, der immer noch besinnungslos auf dem Boden lag, und das mutige Vorgehen dieses bulligen Kerls, der sich die drei Bier der geflüchteten Männer schnappte, um sie jeweils in einem Zug leer zu trinken, hätte er wohl elende Prügel bezogen.

»Aaah!«, kam es genüsslich aus Hannß heraus. »Nach all der Anstrengung hat das richtig gut getan!« Er beugte sich zu Matteo hinab, um ihn mit Wangentätscheln ins Jetzt zurückzuholen.

Während sich der Langhaarige Hannß gegenüber als Lukas Eberz vorstellte und Matteo sich von dem Faustschlag erholte, setzten sie sich zu dritt an den Tisch, an dem Matteo zuvor mit anderen Männern gesessen hatte. Weil die Feiglinge nicht eingegriffen hatten, waren sie von Hannß kurzerhand vom Tisch gejagt worden.

Als Resi drei Krüge Bier brachte, zwinkerte sie Hannß vertraut zu.

»Wenn du hier bist, gibt es immer Ärger, mein lieber Bruder!«, wurde Lukas Eberz vom Schankwirt gerügt, der mit vier Obstbränden vom Bodensee an den Tisch kam und sich zu ihnen setzte.

»Ihr … ihr seid Brüder?« Hannß konnte es kaum glauben.

»Ja!«, bestätigte der Schankwirt, der sich den Fremden gegenüber als Friedrik Eberz vorgestellt hatte, mit einem betrübten Gesichtsausdruck.

»Wir beide haben noch einen Bruder, der hier Bürgermeister ist!«, legte Lukas mit unverhohlenem Stolz noch eins drauf.

»Aber wir sind alle grundverschieden!«, bestand Friedrik auf dieser nicht immer angenehmen Tatsache. »Und Lukas ist das schwarze Schaf der Familie!«, ergänzte er, bevor er das Thema mit einem »Auf die Gesundheit!« beendete.

Während Resi einen Branntwein und ein Bier nach dem anderen auftrug, erfuhren die beiden Einheimischen, dass Matteo ein Medicus aus den italienischen Landen war, der ihren Vetter Phillip Eberz gut gekannt hatte. Kein Wunder also, dass Friedrik und Lukas alles darüber wissen mochten. Also berichtete Matteo, was es über seine Freundschaft zu »Professore Philippo« zu berichten gab. Als er sich wegen des vielen Alkohols versehentlich verplapperte und auf das Thema »Leichenöffnungen« zu sprechen kam, wich Friedrik entsetzt zurück. Ängstlich schaute er um sich, ob dies sonst jemand gehört hatte.

»Lass ihn doch weitererzählen!«, drängte Lukas, den dieses Thema sehr zu interessieren schien.

Aber Matteo besann sich und wechselte zu einem unverfänglicheren Thema.

Weil sie im Laufe dieses feuchtfröhlichen Abends Freundschaft geschlossen hatten, versprach Friedrik dem Italiener, ihm eine Unterkunft für einen längeren Zeitraum zu besorgen.

Nachdem Friedrik dies seinem interessanten Gast in die Hand hinein versprochen hatte, streckte Hannß zaghaft einen Zeigefinger nach oben.

»Ja, Hannß? Möchtest du etwas loswerden?«

Der Fuhrwerker traute sich kaum zu sagen, dass er ebenfalls auf unbestimmte Zeit eine Lagerstatt in Isine benötigen würde.

Weil Matteo wusste, weshalb dies der Fall war, bat er Friedrik, auch für seinen Tyroler Freund eine Unterkunft zu besorgen. Dann wandte er sich mit einem hintergründigen Grinsen und den Worten »So viel zum Thema ›… auf direktem Weg nach Hause‹!« an Hannß. Dabei schüttelte er kaum merklich sein Haupt.

»Was ist?«, wollte Hannß irritiert wissen, bekam aber nur ein »donnaiolo« zugehaucht, was auf Italienisch so viel hieß wie »Schwerenöter«.

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