Wie die Swissair die UBS rettete

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Chaos im Bundeshaus

Bundesrat Kaspar Villiger sitzt am Tag vor Couchepins Aussagen an seinem Bürotisch im Bernerhof, dem Sitz des Eidgenössischen Finanzdepartements (EFD). Er geht an diesem 17. September 2001 wie immer seiner Arbeit als Finanzminister der Schweiz nach, das heisst: Sitzung folgt auf Sitzung. In einem ruhigen Moment denkt der Finanzminister an den Wohnungsumzug, der während der sogenannten Bundesratsferien in zwei Wochen anstehen wird und seine Frau und ihn tüchtig in Anspruch nehmen dürfte. Schliesslich haben auch Bundesräte ein Privatleben. Aber noch ist nicht Oktober.8 Villiger schaut auf seinen Terminkalender und weiss: Die nächsten Gäste bringen sicher keine Ferienstimmung. Noch ahnt der Luzerner Politiker nicht, dass diese Gäste sein Leben in den nächsten Wochen auf den Kopf stellen werden.

Der Bernerhof ist kein eigentliches Verwaltungsgebäude, nicht so wie das benachbarte Bundeshaus West oder das Bundeshaus Ost, auf Nützlichkeit getrimmte Bollwerke der Administration mit dem Charme von Schulhäusern. Nein, der Bernerhof ist erstens schön gelegen, am westlichen Ende der Bundeshausterrasse, stammt zweitens aus den 1850er-Jahren und beeindruckt drittens auch heute noch die Besucher mit seinem Prunk, der so gar nicht zur Bescheidenheit eines Finanzministeriums passen will. Doch das Gebäude mit seinem eindrucksvollen Treppenhaus, dem imposanten Leuchtersaal, den eleganten Salons war ja eigentlich auch gar nicht als Sitz für Sparfüchse gedacht. Der Berner Hotelier Jean Kraft hatte das Gebäude vor 150 Jahren als Grand Hotel konzipiert, als Unterkunft für die Mächtigsten und Reichsten dieser Welt. Napoleon der Dritte war da, die Kaiserin von Russland, Könige und Maharadschas, Geldadel wie die Rothschilds genauso wie Kulturgrössen à la Jacques Offenbach. Doch nach dem Ersten Weltkrieg geht es den noblen Damen und Herren – ob Erb- oder Geldadel ist dabei einerlei – nicht mehr so gut, sie können sich das Edelhotel in Bern nicht mehr leisten. Dann verstirbt auch noch der Hotelier, und so verkauft seine Witwe es in der Not 1923 an die Eidgenossenschaft. In diesem einstigen Nobelhotel quartiert der Bundesrat ab 1924 – Ironie des Schicksals – seinen Säckelmeister ein.

Doch die zwei Besucher aus Zürich haben an diesem 17. September 2001 keinen Blick für die Schönheit und Eleganz des Baus. Im Gegenteil: Wie arme Schlucker gehen der Swissair-Chef und seine Finanzchefin die Treppe zum Büro von Bundesrat Kaspar Villiger hoch. Mario Corti und Jacqualyn Fouse brauchen Geld. Viel Geld. Eine Milliarde ungefähr – sofort. Und ja, dann brauche es eine Rekapitalisierung von ungefähr vier Milliarden Franken. Bundesrat Kaspar Villiger wird sich später nur erinnern, dass Cortis Vorstellungen zur Swissair-Sanierung «vage» gewesen seien. Mario Corti präsentiert jedenfalls kein schlüssiges Sanierungskonzept für den eigentlichen Betrieb der Airline. Der freisinnige Bundesrat ist ratlos. Corti entschuldigt sich, dies habe alles mit den Terroranschlägen von vor einer Woche zu tun. Vorher habe es noch einen schmalen Weg zur Sanierung aus eigener Kraft gegeben. Aber jetzt sei eine Rettung ohne Finanzhilfe des Staats nicht mehr möglich. Ansonsten sei die Swissair Anfang Oktober zahlungsunfähig, sprich bankrott. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 vernichten nicht nur fast 3000 Menschenleben an der Ostküste der USA. Sie verursachen Angst. Die Menschen fürchten sich vor weiteren Terrorakten. Sie vermeiden es, Risiken einzugehen, und bleiben lieber am Boden, als dass sie in ein Flugzeug steigen. Die Anschläge stürzen deshalb die Luftfahrtindustrie in ihre grösste Krise. Und sie zerstören – ein Kollateralschaden mit grosser Wirkung für die Swissair – damit den Wert auch aller flugnahen Nebenbetriebe. Der Notgroschen, gedacht als letzte Lösung, falls gar nichts mehr geht, hat plötzlich keinen Verkaufswert mehr. Swissair-Chef Mario Corti sieht deshalb nur noch einen Ausweg: den Bittgang in den Bernerhof.

Doch so einfach, wie sich Corti dies möglicherweise gedacht hat, wird die Rettung der Swissair nicht. Der Finanzminister ist entgeistert und konsterniert. Kaspar Villiger erinnert sich heute so an jenen Tag im schwarzen September 2001: «Die Vorstellungen von Corti zur Rettung nach 9/11 lagen derart weit von jeder, auch finanziellen, Realität, dass ich mir eigentlich noch heute kein anderes Handeln als das Herantasten an eine mögliche Lösung zusammen mit den anderen betroffenen Stakeholdern vorstellen konnte.» Anders gesagt: Der Bundesrat ahnt, dass eine Rettung viel Geld kosten wird, sehr viel Geld. Und dass Corti als Krisenmanager heillos überfordert ist. Der FDP-Politiker wird seine Zweifel nicht öffentlich ausbreiten. Aber ihm ist klar, dass für diesen Job andere Qualitäten gefragt sind als diejenigen eines vorwiegend auf Akten und Konzernrechnungen fokussierten Mannes. Villiger ahnt zudem auch, was die Ursachen dieser Misere sind: «Meiner Meinung nach hätte die Swissair vor 9/11 durch eine mutige Restrukturierung, durch den Verkauf rentabler Tochtergesellschaften, ihre Probleme aus eigener Kraft noch lösen können. Aber durch den Terroranschlag wurden diese Tochtergesellschaften über Nacht derart entwertet, dass sich das Problem massiv verschärfte.»

Corti und Fouse verlassen die Besprechung, ohne einen Beschluss erreicht zu haben. Villiger ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wie viel Geld Corti und dessen Swissair wirklich benötigen. Der Bundesrat berät sich mit dem Chef der Finanzverwaltung, Peter Siegenthaler, und diskutiert mit seinem Chefbeamten, welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen. Schnell kommt die Idee auf, die in solchen Fällen damals oft als Erste eingebracht wird: «Runder Tisch»! Alle Beteiligten an einen Tisch zu setzen, scheint sinnvoll. Denn die Lösung sollte nicht primär vom Staat kommen. Villiger ist ein Liberaler: Eigentlich, so seine Überzeugung, ist die Wirtschaft für ihre Probleme primär selbst verantwortlich. Erst dann sollte der Staat zum Zug kommen, wenn möglich aber nur subsidiär, also nachrangig. Das Treffen Villigers und Cortis vom Montag, 17. September, das ohne Beschluss endet, sei der Schlüsselmoment des Scheiterns gewesen, analysiert rückblickend René Lüchinger: «Bundesrat Kaspar Villiger hat damals die Situation unterschätzt. Er hat unterschätzt, wie dramatisch die Situation der Swissair war. Er hat auch die Gefahr, dass es ein Grounding geben könnte, einfach nicht gesehen.» Peter Kurer, damals Chefjurist der UBS, sieht das Problem in der mangelnden Zusammenarbeit innerhalb der Regierung: «Villiger hat im Nachgang zu diesem Treffen den Rest-Bundesrat nicht sofort informiert.» Das geschieht tatsächlich erst vier Tage später, am 21. September 2001. Aber, so argumentiert Villiger, die Regierung sei mit den eingereichten Unterlagen für die Mitberichte schon Tage zuvor über die schlechte Lage der Airline ins Bild gesetzt worden. Und: «Der Bundesrat hat keine eigentlichen Machtmittel, die ihm erlauben, eine Krise in der Privatwirtschaft zu managen.» Er könne Gespräche führen, Überzeugungsarbeit leisten, er könne versuchen, zwischen den verschiedenen Interessengruppen zu moderieren, «das alles ist nicht wenig!» Kurer bleibt bei seiner Meinung: «Der Bundesrat hätte – nachdem Corti zu ihm kam – hinter die Swissair stehen und der Airline eine Staatsgarantie geben sollen, das hätte gereicht.» Jedenfalls ist für Kurer «nach dieser Erfahrung» klar: Wenn man mit dem politischen System spricht, muss man immer mehr als einen Bundesrat im Boot haben: «Das ist aus meiner Sicht die Haupterkenntnis.»

Natürlich wäre eine Rolle als Retter verlockend. Aber Selbstdarstellung ist nicht Villigers primäres Merkmal. Er, genauso wie sein wichtigster Mann in der Verwaltung, Peter Siegenthaler, ist ein eher zurückhaltender Mensch. Sie hätten gerne Zeit und Fakten vorliegen, um das Problem strukturiert angehen zu können; sie sind überzeugt, dass sich der Staat zurückhalten soll bei Eingriffen in die Wirtschaft. Wo Corti Gas geben will, steht Villiger also auf die Bremse. Er lässt Siegenthaler zuerst einmal ein Aussprachepapier für die nächste Bundesratssitzung in vier Tagen ausarbeiten. Auch die NZZ, Leuchtturm für freisinnige Politikerinnen und Politiker, macht klar, dass nicht in erster Linie der Staat zu handeln habe, sondern dass «eine rein privatwirtschaftliche Sanierung ohne Zweifel die zu bevorzugende Lösung» wäre, so der wirkungsmächtige Wirtschaftschef von damals, Gerhard Schwarz. Er warnt am 20. September die Politiker vor «ordnungspolitischen Fehltritten». Gleichzeitig spürt die Volkszeitung Blick bei diesem Volk eine ganz andere Haltung: Vier von fünf Blick-Lesern würden sich eine nachhaltige Rettungsaktion für die Airline wünschen. «Rettet die Swissair!» titelt das Blatt. Bei der Gesellschaft selbst dringt die Dringlichkeit nicht wirklich durch: Der Verwaltungsrat werde im Oktober über ein weiteres Sanierungspaket entscheiden, teilt man einsilbig mit.

Lange hat man ja im Bernerhof gehofft, dass «dieser Kelch an uns vorübergeht», wie sich Peter Siegenthaler, Chef der Finanzverwaltung des Bundes, rückblickend erinnern wird, um nachzuschieben, da habe man «möglicherweise zu lange in der Beobachterrolle verharrt». Ja, Siegenthaler ist im Rückblick durchaus selbstkritisch: «Wenn man da die Entscheidvorbereitung ab Beginn 2001 etwas intensiver vorangetrieben hätte, dann wäre vielleicht die am Schluss getroffene Lösung etwas besser gewesen und/oder man hätte möglicherweise auch noch andere Lösungen gehabt. Der Spielraum von Alternativen ist in der Realität dann sehr rasch klein geworden.» Oder anders gesagt: Villiger, der Bundesrat und die Verwaltung sind im Innersten nicht darauf vorbereitet, was kommen könnte. Die Entscheidungsträger haben keine vorsorglichen Abklärungen getroffen, keine Szenarien erarbeitet. Und sie haben keinen Präzedenzfall, auf den sie kurzfristig zurückgreifen können. Und nun kommt also der Chef der nationalen Airline und will Geld vom Staat. Villiger besitzt kaum Informationen, weiss nicht, wie es wirklich um die Fluglinie steht, hat keine exakten Zahlen und schon gar kein schriftliches Gesuch vorliegen. Ihm fehlt die Zeit, sich die notwendigen, gesicherten Informationen zu beschaffen, sie zu analysieren und dann zu entscheiden, wie es jedes Managementhandbuch in einer solchen prekären Situation empfehlen würde.

 

Um die Jahrtausendwende befinden wir uns ausserdem in einer gesellschaftlichen Übergangsphase: Das Internet dringt seit den 1990er-Jahren ins Leben der Menschen und in die Unternehmen ein, 2001 implodiert an der Börse gerade die erste Interneteuphorie. Die Digitalisierung treibt die immer stärkere Arbeitsteilung und damit die Globalisierung an, die Anforderungen an Wirtschaftsführer und Politiker verändern sich rasant. Nicht mehr nationale Netzwerke sind entscheidend, sondern internationale. In der Schweiz haben neue, angelsächsisch geprägte Banker die alten Bankdirektoren abgelöst. Und nun soll ein Politiker alter Schule wie Kaspar Villiger das Schlamassel, das ihm «seine» Wirtschaftsführer eingebrockt haben, aufräumen. Eine Herkulesaufgabe. Villiger ist ein stiller Schaffer, der noch zu Zeiten der Schweiz AG gross geworden ist, als die Netzwerke ihm zuerst im Lokalen, dann in der Region und im Kanton Luzern zur nationalen Karriere verholfen haben. So hievte man ihn, den eher scheuen, nachdenklichen Innerschweizer, vor zwölf Jahren in den Bundesrat. Nun befindet er sich in der Schlussphase seiner Regierungszeit. Villiger wird später schreiben: «Die Swissair-Krise war die komplexeste, die man sich nur vorstellen kann. Unter fast wahnwitzigem Zeitdruck und mit einer Unzahl von Mitspielern mit eigenen Agenden sowie mit schriller politischer und medialer Begleitmusik musste eine Lösung gefunden werden, welche die Infrastruktur vor der Implosion bewahrte und die Direktanbindung unseres hochentwickelten Wirtschaftsstandortes an die wichtigsten Wirtschaftszentren sicherte.» Villiger fehlt zu diesem Zeitpunkt das Mittel, auf das Betroffene in Krisen gerne zurückgreifen: auf Analogien aus der Vergangenheit. Villiger hat weder eine Blaupause einer Airline-Rettung, von der er sich inspirieren lassen kann, noch ein Entscheidungsset, erarbeitet aus vorherigen Fällen, wie der US-Politikwissenschaftler und Professor Barry Eichengreen es als probates Mittel für die Krisenbewältigung im Nachgang zur Finanzkrise zehn Jahre später propagieren wird. Die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Ständerats wird 2002 in ihrem Bericht denn auch monieren, dass «der Bundesrat keine Szenarien geprüft hat für den Fall, dass die Restrukturierung und Refinanzierung der SAir-Group scheitert oder der Konzern zahlungsunfähig wird».

Der Bundesrat beschliesst am 21. September, der Swissair zu helfen – aber nur subsidiär und höchstens als Aktionär. Villiger will keine direkte Bundeshilfe, die Initiative müsse von den beteiligten Stakeholdern kommen, also von den Aktionären und Banken. Villiger setzt lieber auf das Netzwerk mit Leuten, die aus seiner Sicht mehr Erfahrung mit solchen Krisensituationen haben: auf einen Wirtschaftsführer wie Ulrich Bremi, den, wie Villiger schreiben wird, «hochangesehenen» Zürcher Ex-Wirtschaftsführer und Ex-Politiker, der ihm breiter vernetzt scheint als er selbst. Villiger wird später sagen, er habe nicht den FDP-Mann geholt, sondern einen erfahrenen und bewährten Wirtschaftsfachmann. Doch der FDP-Politiker wird dabei erleben, dass auch Netzwerke ein Ablaufdatum haben und sich zudem kaum eignen, um Krisen zu bewältigen. Bereits das alte Swissair-Netzwerk im Verwaltungsrat der Airline ist in Nullkommanichts zerrissen, als sich im Frühling 2001 die Zeichen der Krise der Swissair immer stärker manifestieren. Oder anders gesagt: Villiger setzt auf die Netzwerke des 20. Jahrhunderts. Die Schweiz aber ist im 21. Jahrhundert angekommen.

Die Uhr tickt – und der Swissair zerrinnt das Geld zwischen den Fingern. Zwei Tage nach dem Bundesratsbeschluss weiss die SonntagsZeitung, über wie viel Geld tatsächlich diskutiert wird: «Die Swissair benötigt vier Milliarden Soforthilfe.» Und bevor der Bund einbezogen werde, müssten die Banken handeln: «Es kann nicht sein, dass sich die Banken aus der Verantwortung schleichen», zürnt laut der Zeitung Finanzminister Villiger. Während sich die Beteiligten via Medien den Schwarzen Peter zuspielen, suchen die «Basler» unter den Swissair-Leuten intern nach einem Konzept, das die beiden Airlines Swissair (Langstrecken) und Crossair (Europaverkehr) unter einen Hut bringen könnte. Corti ist erleichtert, etwas Handfestes zu haben, und präsentiert den Bundesräten dieses Konzept. Doch die Regierung will weiterhin keine Kredite sprechen, weil es keine Rechtsgrundlage dafür gebe. Aber wollte nicht Bundesrat Pascal Couchepin eine Staatsintervention? Peter Siegenthaler bestätigt, im Bundesrat habe es auch Stimmen gegeben, die «von Anfang an für eine Rettung der Swissair waren». Aber die hätten sich nicht durchsetzen können, weil «die Zahlen so erschreckend waren, da wären wir bald bei zweistelligen Milliardenbeträgen gelandet». Innerhalb kürzester Zeit sind die zur Rettung benötigten Mittel von einer Milliarde auf über vier Milliarden Franken in einen Bereich gestiegen, der es Politikern verunmöglichte, zu sagen: Wir schaffen das! Die Regierung ist sich nicht einig und versteckt sich deshalb hinter rechtlichen Vorwänden. Kaspar Villiger selbst ist hin und hergerissen: Eine Staatsintervention möchte er als Freisinniger nicht, die Airline kaputtgehen lassen, ist ebenfalls keine Option. Er misstraut in dieser Krise zudem dem wichtigsten Mann auf der Gegenseite, Mario Corti, da dessen Zahlen für eine das Überleben sichernde Unterstützung in den Gesprächen immer wieder variieren und immer höher werden. Villiger hat auch Vorbehalte gegen die Person Corti: «Corti war ein intelligenter Ehrenmann, aber vom Typ her wohl nicht der geborene Krisenmanager.» So ist es in einer Krise: Das Vertrauen ist schnell weg, wie Philipp Hildebrand, ehemaliger Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und heute Vizepräsident beim Vermögensverwalter Blackrock, trocken festhält: «In Krisen verlieren Führungspersonen in der Privatwirtschaft schnell ihre Glaubwürdigkeit und sind dann nicht mehr Teil der Lösung.» Und auch Villiger erkennt: «Die Männerbünde aus dem Militärdienst gibt es längst nicht mehr.» Corti, zum Zeitpunkt der Swissair-Krise 55 Jahre alt, hat in der Armee zwar nicht die ganz grosse Militärkarriere gemacht, es aber immerhin zum Fachoffizier gebracht. Er hat Recht studiert, 1971 seine Doktorarbeit abgeliefert und fünf Jahre später an der renommierten Harvard-Universität bei Boston einen MBA, also ein Nachdiplomstudium in Management und Politwissenschaften absolviert. Corti liebt das Fliegen – als Hobbypilot. Gerade dabei braucht es Sorgfalt und Perfektion als Grundvoraussetzung. Das Wirtschaftsmagazin Bilanz schreibt in einem Porträt im Frühling 2001 über den neuen Swissair-Chef: «Er checkt dies, misst jenes, und vor allem vergisst er selten – falsch: Er vergisst nie.» Universität, Bund, Privatwirtschaft – so sieht eine typische und erfolgreiche Schweizer Karriere im 20. Jahrhundert aus. Das hätte auch für Corti weiterhin seine Gültigkeit gehabt, hätte der Hobbypilot nicht jenen Anruf von Eric Honegger am 9. März 2001 entgegengenommen. Nun fehlt ihm alles, was er an Beruf und Hobby liebt: Zeit, Information, Kontrolle. Sein Blick aus dem Swissair-Cockpit ist getrübt wie auf einer winterlichen Autofahrt in einen warmen, feuchten Tunnel: Die Scheiben beschlagen sich urplötzlich. So ist Corti in diesem Krisenmoment nicht klar, wie hoch die Airline noch fliegt, wie viel Treibstoff, sprich Geld, sie noch hat, was es für das Durchstarten brauchen würde. Oder ob eine Notlandung unausweichlich ist. Seinem Gegenüber im Krisenmoment geht es genauso. Auch Kaspar Villiger fehlt der Durchblick im Polit-Cockpit. Soll der Bund gegen alle seine Prinzipien doch handeln und in die Privatwirtschaft eingreifen? Oder haben diejenigen – auch aus seiner Partei – recht, die ihm sagen: Die Swissair ist Gift, der Staat sollte die Finger von ihr lassen? Villiger muss sich entscheiden: Will er Patriot sein? Oder will er der Parteiideologie folgen? In den USA haben die Politiker weniger Skrupel: US-Präsident George W. Bush, Republikaner, unterschreibt am 22. September 2001 ein Hilfspaket für die dortige Airline-Industrie, das Direkthilfe in der Höhe von fünf Milliarden Dollar umfasst und den notleidenden Fluggesellschaften weitere zehn Milliarden Dollar in Form von Darlehen anbietet. In der Schweiz dagegen hoffte man, «dass das Problem gelöst werden könnte, wenn alle Beteiligten bereit wären, einigermassen symmetrisch grosse Opfer zu erbringen. Aber das erwies sich als unmöglich», erklärt sich Kaspar Villiger heute.

Whisky Time

Die Schweiz wacht am Sonntag, 30. September, mit einem Brummschädel auf: «Swissair am Ende» titelt der SonntagsBlick, «Cortis Plan gescheitert – Bund muss heute helfen – Crossair soll neue Swissair werden». Die SonntagsZeitung schreibt, mittlerweile brauche es zwölf Milliarden, um die Swissair zu retten, deshalb drehe die UBS der Airline den Geldhahn zu. Die Abwendung der Krise scheint gescheitert, obwohl der Bundesrat noch Anfang Woche das alte Polit-Schlachtross Ulrich Bremi als «Retter» eingesetzt hat. Der Zürcher, Jahrgang 1929, hat eine erfolgreiche Wirtschaftsund Politkarriere hinter sich: 28 Jahre Chef des Schlüsselspezialisten Kaba Bauer, acht Jahre Verwaltungsratspräsident des Industriekonzerns Georg Fischer, acht Jahre Verwaltungsratspräsident von Swiss Re und elf Jahre der NZZ. Dazu 16 Jahre Nationalrat, vier Jahre FDP-Fraktionschef und zum Abschluss 1990/91 Nationalratspräsident. Ulrich Bremi ist ein, wenn nicht das Gesicht der verblassenden Schweiz AG: sympathisch, umgänglich, kennt alle und jeden, ein Mann für Kompromisse. Der richtige Mann, denkt sich Finanzminister Kaspar Villiger, um in diesem Chaos die verschiedenen Parteien zu einer Einigung zu bringen: Die Swissair muss abspecken, wegkommen vom Traum der grossen Airline. Die Banken müssen einsehen, dass grosse Teile ihres Gelds verloren sind. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen einsehen, dass die goldenen Jahre vorbei sind. Der Blick konstatiert: «Jetzt löffelt Bremi die Suppe aus.» Erst wenn alle mitmachen und auch klar ist, in welche Richtung die Airline in Zukunft fliegen soll, ja, dann könnte sich der Bund vorstellen, das Unternehmen subsidiär finanziell zu unterstützen.

Bremi schart das Who’s who der Schweizer Politik (u. a. SVP-Mann Ueli Maurer) und Wirtschaft (u. a. Daniel Vasella und Johann Schneider-Ammann) um sich. Nur die Banken schicken mit den Vizepräsidenten ihrer Verwaltungsräte nicht ihre besten Köpfe.

Doch Villigers Plan scheitert schnell. Zwar kündigt die Airline einen radikalen Sparkurs an. Swissair und Crossair sollen zusammengelegt, Stellen massiv abgebaut werden, und der bisherige Crossair-Chef, André Dosé, soll die Leitung des Fluggeschäfts übernehmen. Dabei soll die schlanker betriebene Crossair Vorbild für die Swissair sein. Am Freitag, 28. September 2001, kommt die Bremi-Gruppe erstmals zusammen. Und muss feststellen, dass mindestens zwölf Milliarden Franken für eine Sanierung benötigt werden: acht Milliarden zur Tilgung von Schulden, vier Milliarden frisches Geld, davon 400 Millionen sofort. Bremi sagt der SonntagsZeitung zwei Tage später kryptisch: «Kritisch ist das Ausmass der notwendigen Gelder.» In Wahrheit schlagen sich die Banken in die Büsche, versuchen, ihr Geld zurückzubekommen – oder zumindest nicht, noch gutes Geld schlechtem hinterherzuwerfen. Insgesamt vierzig Geldhäuser sind involviert. Die Arbeitsgruppe Bremi ist nach einer Sitzung bereits am Ende. Die Banken wollen die Sache selbst in die Hand nehmen, weil sie der Swissair-Leitung und der Schweiz AG nicht mehr trauen.

René Lüchinger sieht in der Wahl Bremis einen Trugschluss von Bundesrat Kaspar Villiger: «Man glaubte, mit Ulrich Bremi nochmals das alte freisinnige Finanznetzwerk nutzen zu können. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Zum einen, weil man Bremis noch existierendes Netzwerk überschätzt hat. Und weil es auch im Freisinn einige gab, die sagten: Hände weg von der Swissair. Das alte Netzwerk hat damals schon kaum mehr existiert.» Kaspar Villiger rechtfertigt die Entscheidung, auf Bremi zu setzen, im Rückblick so: «Wir versuchten, zu erreichen, dass das Problem von der Wirtschaft in Eigeninitiative gelöst wird. Dafür setzten wir auf Ulrich Bremi, einen hoch angesehenen Unternehmer und Politiker.» Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats schreibt ein Jahr später in der Aufarbeitung der Ereignisse rund um die Swissair: «Der Bund wurde zunehmend in die Rolle eines nur noch reagierenden und nicht mehr agierenden Akteurs gedrängt.» Was im Rückblick stimmen mag, aber in Realzeit, im jenem Moment Ende September 2001, nicht ganz fair ist: Alle wollen führen, Swissair, Banken und Behörden, aber keiner hat die Kraft und die Mittel (oder will sie nicht zur Verfügung stellen), um das Ruder herumzureissen. Für die schlimme Lage der Swissair kann der Bund nichts, die Kredite hat nicht Villiger gesprochen, sondern die Banken. Und nun soll der Bund innerhalb von 14 Tagen alles wieder in Ordnung bringen?9

 

Allen Beteiligten ist Ende September jedoch eines klar: Die Not ist gross, sehr gross. Und vor allem drängt die Zeit – die Kassen der Swissair sind leer. Am Samstag und Sonntag, 29. und 30. September 2001, treffen sich die Verantwortlichen der Swissair und die Vertreter aus Wirtschaft und Politik nochmals zu dringlichen Geheimverhandlungen und diskutieren intensiv die möglichen Lösungen. Dabei setzt sich die UBS unter der Leitung von Verwaltungsratspräsident Marcel Ospel und Chefjurist Peter Kurer durch: Eine neue Airline könne nur dann die gewünschte Flughöhe erreichen, wenn sie ohne die Schulden der Swissair starte. Sie wollten nicht mehr «Pflästerli-Politik», sondern lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Nur so habe die neue Airline eine Chance. Peter Siegenthaler erinnert sich an das Wochenende und die Devise der UBS-Leute, die den Lead übernommen hatten: Eine neue Gesellschaft, ohne Erblasten, sollte aufgebaut werden. Für Kurer und Ospel gab es keine unterschiedlichen Szenarien mehr, sondern nur noch eine einzige Lösung: Aus der eingeäscherten Swissair sollte eine neue Gesellschaft auf der Basis der Crossair entstehen – ein «Phönix» aus der Asche eben.

Peter Kurer bestreitet, dass der Projektname programmatisch gedacht gewesen sei: «Das war überhaupt nicht so, das wäre blöd und zynisch gewesen! Wir suchten nach einem Namen, und Marco Suter, Mitglied unserer Generaldirektion, warf den Namen Phoenix in die Runde, der sei doch eben frei geworden.» «Phoenix» sei als interner Deckname in der Bank verwendet und gerade eben nicht mehr gebraucht worden: «Wir haben in der Eile nicht darüber nachgedacht, dass der Deckname falsch verstanden werden könnte.»

Die Verhandlungen an jenem Wochenende dauern lange und verlaufen harzig. Peter Kurer erinnert sich an heftige Auseinandersetzungen, vor allem am ersten Meeting am Samstag. Ospel und Kurer werden von Corti gebeten, notfallmässig im Konzernsitz auf dem Balsberg zu erscheinen. Zuerst versucht die Konzernspitze der Swissair, von den UBS-Leuten die Zusage einer üppigen Unterstützung zu erreichen: Die Banken sollen die Swissair für einen symbolischen Franken kaufen – und 17 Milliarden Franken Schulden übernehmen! Die Banker lehnen dankend ab. Weil er wohl diese Antwort erwartet hat, bittet Corti die UBS-Leute in einen anderen Sitzungsraum. Dort sind bereits die Vertreter der Credit Suisse, des Swissair-Verwaltungsrats und die beteiligten Anwälte versammelt. Dann diskutieren die Parteien die bereits angedachte andere Lösung, diejenige nämlich, die «neue» Swissair auf dem Gerüst der Crossair aufzubauen. Die Diskussionen laufen nicht ohne Friktionen, wie sich auch Kurer gut erinnert: «Wir waren […] hässig, weil einzelne Verwaltungsräte uns noch angepfiffen haben, morgens um eins, die Banken kämen nicht draus, es war, glaube ich, Economiesuisse-Präsident Andres Leuenberger, das war unverschämt, und ich musste ihm sagen, wir möchten eigentlich gar nicht hier sitzen, um ihre verd… Probleme zu lösen.» Heute würde Kurer nicht mehr so reagieren, sagt er: «Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich wohl die Wogen eher geglättet.» Doch zum Durchbruch kommt es nicht: «Wir haben ihnen gesagt, dass wir die goldene Aktie in der neuen Gesellschaft wollen», bestätigt Peter Kurer: «Die Credit Suisse war durch ihr Engagement im Verwaltungsrat der Swissair vorbelastet.» Die Gegenpartei aber möchte der UBS die Rechte, die weit über die der weiteren Aktionäre hinausreichen, nicht zusprechen. Also ziehen Ospel, Kurer und Co. in dieser Samstagnacht ohne Einigung wieder ab «Wir tranken auf dem Heimweg im Hilton Glattbrugg noch einen Whisky zusammen», erinnert sich Kurer und muss schmunzeln.

Am Sonntag, 30. September, kommt es bei der Swissair angesichts der katastrophalen Lage zu einem Umdenken. Peter Kurer steht schon am Gate A84 des Flughafens Zürich, er will in die USA fliegen, um die dort für nächste Woche geplante Sitzung der UBS-Spitze vorzubereiten. Da klingelt sein Handy. «Ich hätte es gescheiter nicht abgenommen», sinniert er heute in bedauerndem Ton jenem Moment nach. Am anderen Ende ist sein Chef, Marcel Ospel. Kurer solle sofort umkehren. Die Swissair wolle jetzt doch nochmals diskutieren. Also fährt Kurer auf den Balsberg an den Konzernsitz der Swissair statt nach New York. Die UBS setzt sich in der zweiten Runde durch: Sie wird in der neuen Gesellschaft Mehrheitsaktionärin. Plan Phoenix soll umgesetzt werden. Bis Sonntagabend zeichnet sich die konkrete Lösung ab: Die Banken wollen die überlebensfähigen Teile der Airline retten – im Kern die Crossair. Um deren Gerüst herum soll die neue Swissair aufgebaut werden. Die UBS würde 51 Prozent, die Credit Suisse 49 Prozent des Kapitals stellen. Der Rest wird liquidiert. Dafür soll der vor knapp sieben Monaten eingesetzte «Swissair-Retter» Mario Corti zuständig sein. In der neuen Gesellschaft sollen frische Kräfte ran, Corti ist dort keine Rolle mehr zugedacht. Der Zürcher Tages-Anzeiger berichtet am nächsten Tag in bedauerndem Ton: «Die Banken wollen nur die Crossair retten», und konstatiert, dass nun die Basler bei der neuen Swissair das Sagen hätten, während die NZZ leicht aufatmend bemerkt, dass die Grossbanken einen Kapitalzuschuss «ohne Inanspruchnahme von Bundeshilfe» planen würden.

Die Causa Swissair hat mittlerweile nämlich auch ideologische Züge angenommen. In der Vorwoche hat die linke Wochenzeitung WOZ über die Swissair-Crew und ihren Bittgang zu Villiger gespottet: «Bettler im Bundeshaus». Und kritisiert: «Heute sind es Vertreter dieser Weissbuch-Generation, die beim Staat die hohle Hand machen. Sie tun das ganz unverfroren. Für sie gilt das alte Motto: Gewinne den Privaten, Verluste dem Staat.» Die Anspielung auf das Weissbuch kommt nicht von ungefähr: 1995 forderte eine Gruppe von Schweizer Wirtschaftsführern «Mut zum Aufbruch», darunter auch CS-Chef und Swissair-Verwaltungsrat Lukas Mühlemann. Das Weissbuch ist je nach Sichtweise «ein neoliberales Manifest» (links) oder der Versuch einer «marktwirtschaftlichen Erneuerung» (rechts), es wirft grosse Wellen und löst harsche Kritik aus. Jedenfalls kommt fünf Jahre später – während der Swissair-Krise – wieder die Erinnerung auf, dass doch dieselben, die sich jetzt Unterstützung vom Staat erhoffen, damals inbrünstig das Lied der Marktkräfte sangen.

Wer sich nicht aus ideologischer Sicht mit dem Rettungsplan auseinandersetzt, macht dies zumindest auf der Ebene der involvierten Personen. Der Blick sieht «Corti entmachtet», glaubt beinahe prophetisch, dass die «Sieger nichts zu lachen» haben werden, und fragt Marcel Ospel im Interview, warum er Mario Corti «ausgetrickst» habe. Sogar die Nachrichtenagentur AP titelt spöttisch über den einstigen Retter: «Flugfan Corti flog nur einen Sommer». Peter Kurer erinnert sich an die getroffenen Abmachungen und die Reaktion Mario Cortis: «Sein Problem war, dass er in der neuen Konstellation, der neuen Airline, keine Rolle mehr hatte. Seine ursprüngliche Vorstellung war aber, dass er dort VRP [Verwaltungsratspräsident, Anm. des Autors] sein würde. Das haben wir verhindert. Im Term Sheet stand, dass niemand des alten Verwaltungsrats in der neuen Firma eine Spitzenfunktion übernehmen dürfe und dass Überwachung und operative Leitung strikt getrennt sein müssen. Als Corti dies realisiert hat, bekämpfte er die neuen Pläne.»

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?