Wie die Swissair die UBS rettete

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Die Schweiz AG

Die Festgesellschaft sitzt fröhlich an den Tischen. Speis und Trank waren bis hierhin köstlich. Nun tritt der Festredner nach vorne, schaut den Jubilar lächelnd an und erinnert sich bei seiner Lobrede an manch fröhlichen Herrenabend, zu dem der heute Gefeierte geladen hatte: «Diejenigen, die dabei sind, werden mir dankbar sein für meine Diskretion, und sie werden sich in diesem Augenblick an höchste geistige Intensiverlebnisse, an überaus fruchtbare Vermittlung von Lebenserfahrung und Weisheit in prägnantester Form erinnern, an balletthafte Selbstdarstellungen des höheren zürcherischen Managements von elefantösem Charme, an rednerische Entfesselungskünste und mimische Leistungen von internationalem Format, an Gabentempel mit Dingen von nicht zu überbietender Zweckmässigkeit. Und sie werden dem, der ihnen dieses jährliche Füllhorn an kollektivem Vergnügen stiftet, eine begeisterte Ovation darbringen.»

Der da spricht an diesem Tag im Jahr 1982, ist Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung: Fred Luchsinger hält die Festrede zum 60. Geburtstag von Robert Holzach. Robert Holzach wiederum ist seit 31 Jahren bei der SBG, hat sich Schritt für Schritt hochgearbeitet und ist nun seit zwei Jahren Verwaltungsratspräsident einer der damals vier Grossbanken der Schweiz. Doch er ist nicht nur das, Präsident einer Schweizer Firma – er ist sozusagen Präsident der Schweiz AG: der meist- und bestvernetzte Schweizer Wirtschaftsführer seiner Zeit, mit unzähligen offiziellen und inoffiziellen Verbindungen in Unternehmungen rundum. Verbindungen, die er mit ebendiesen HHA pflegte: Holzachs Herrenabenden, die der oberste Schriftleiter der angesehensten Zeitung der Schweiz soeben lobte. Der Wirtschaftsjournalist Claude Baumann veröffentlichte 2014 eine Biografie über Robert Holzach4 und ist während seiner Arbeit ebenfalls auf die Erzählungen über diese Anlässe gestossen. Baumann schreibt: «Tatsächlich waren Holzachs Herrenabende ein vielgestaltiges Beziehungs- und, wenn man so will, auch Machtnetz, von dem indessen alle Teilnehmenden profitierten. Bundesräte wie Kurt Furgler, Wirtschaftsvertreter wie der Swissair-Chef Armin Baltensweiler, der Generalunternehmer Karl Steiner oder der Kaderstellenvermittler Egon Zehnder, aber auch FDP-Nationalrat Ulrich Bremi waren da inmitten anderer Holzach-Freunde zugegen. Dabei spielte es keine Rolle, ob ein Gast die SBG als Hausbank hatte. Was zählte, war einzig und allein die Persönlichkeit, mit der Holzach seinen Abend verbringen wollte. Im Prinzip schuf er sich so seinen eigenen Rotary oder Lions Club.» Die HHA sind dabei Kulminationspunkt einer Konzentrationsbewegung, die sich seit dem Ersten Weltkrieg und dem Beginn der Abschottung der einheimischen Wirtschaft entwickelt hatte.

Vor dem Ersten Weltkrieg gehört die Schweiz zu den sich am schnellsten industrialisierenden Ländern Europas, und ihre Wirtschaft ist – wie heute auch – auf offene Grenzen angewiesen. Deshalb wandern hoffnungsvolle Jungunternehmer gerne in die Schweiz ein, so etwa der aus Deutschland zugewanderte Heinrich Nestle (später Henri Nestlé) oder Walter Boveri (Mitgründer der Brown, Boveri & Cie., heute ABB). Sie profitieren vom liberalen Geist hierzulande und gründen und führen ihre eigenen Firmen. Das ändert sich ab 1914, mit Beginn des Ersten Weltkriegs und der Befürchtung, dass ausländische Firmenchefs der Schweiz gegenüber illoyal sein und Sympathien für ihre Herkunftsländer hegen könnten. Diese Abschottungstendenz verstärkt sich mit und nach dem Zweiten Weltkrieg und ermöglicht erst die Bildung eines engen Kreises von Wirtschaftsführern, welche die Schweizer Wirtschaft immer stärker dominieren sollten.

Im Jahr 1965 etwa wird der Zürcher Anwalt Georg Gautschi vom Bundesrat beauftragt, in Zusammenhang mit einer als dringend erachteten Aktienrechtsrevision einen Bericht zu erstellen. Die Erkenntnisse auf 700 Seiten sind so kritisch, dass die Schweizer Regierung darauf verzichtet, den Bericht zu publizieren – aus Angst vor öffentlicher Polemik. Denn Gautschi kritisiert in seiner Untersuchung nicht nur den begrenzten Zugang zur wirtschaftlichen Elite in der Schweiz, sondern auch deren Demokratiedefizit sehr deutlich.

Politologen rund um André Mach, Professor an der Universität Lausanne, analysierten die Entwicklung der Schweiz AG in «Schweizer Wirtschafts-Eliten 1910–2010»5 anhand einer selbst erstellten Datenbank mit 20 000 biografischen Einträgen, die sie unter anderem auch auf Überschneidungen bei Ausbildung und Tätigkeit überprüften. Der Anteil ausländischer Führungspersonen in den grössten 110 Unternehmen in der Schweiz nimmt laut ihren Zahlen von 11 Prozent im Jahr 1910 auf 3 Prozent 1957 ab und erhöht sich bis 1980 auf nicht mehr als 3,6 Prozent.

In dieser Hochphase des Schweizer «Wirtschafts-Réduits» besteht die wirtschaftliche Elite der Schweiz aus einem engen Kreis von: vorwiegend Männern, die Recht studiert haben, Offiziere in der Armee sind und in diversen Verwaltungsräten von Grossunternehmen sitzen.

Zu dieser Zeit basiert der berufliche Erfolg auf einer Berufslehre, oft gefolgt von einer Weiterbildung an einer höheren Fachschule und vor allem von Praktika im Ausland. Hinzu kommt die Führungsausbildung in der Armee. Womit wir wieder bei Robert Holzach wären: Der Ostschweizer gilt als Musterbeispiel dafür, wie sich militärische Führungsgrundsätze in der Privatwirtschaft festsetzen. Wirtschaftsjournalist Claude Baumann kommt zum Schluss, dass zwar das Militärische schon vorher eine Rolle gespielt habe in der SBG, aber «[…] unter Holzach nahm das militärische Element umfassende Dimensionen an und schlug sich in den einzelnen Arbeitsabläufen, den Strukturen, eigentlich der gesamten Organisation nieder».

Diese Abschottung gegen aussen kulminiert in offiziellen und inoffiziellen juristischen Beschränkungen. So wird die Vinkulierung von Aktien eingeführt, die es den dominierenden Familien erlaubt, mit wenigen Aktien und trotzdem hohen Stimmrechten die Kontrolle über die Firmen zu erhalten, immer mit der Argumentation, es Ausländern damit nicht erlauben zu wollen, Schweizer Firmen zu übernehmen. Diese Angst vor Fremdeinfluss führt 1961 so weit, dass sich die Banken in einem Gentlemen’s Agreement verpflichten, gewisse Aktienkategorien nicht an Kunden zu verkaufen, die nicht dem gewünschten Profil der Gesellschaft entsprechen. Diese Réduit-Trickkiste hat Nachwehen bis in die heutige Zeit.

Mit der ab den 1980er-Jahren einsetzenden Globalisierung ist diese Schweiz AG – die im nördlichen Nachbarland mit der Deutschland AG durchaus ein Pendant hat – nicht mehr zeitgemäss. Was vorher als erlaubte Selbstverteidigungsstrategie eines kleinen Landes angesehen wird, erscheint nun als einengend und fortschrittshemmend. Der Handel über alle Grenzen, die Arbeitsteilung über die Kontinente hinweg kreiert auch globales Kapital. Die Schweizer Unternehmen gehören nicht mehr einem vorwiegend Schweizerischen Aktionariat; sie sind im Besitz von Gesellschaften und Individuen weit über den Globus verteilt. Auch die Ansprüche dieses internationalen Aktionariats an die Führung sind andere geworden: Die Geschäftssprache wird Englisch, die Ausbildung sollte eine ökonomische und nicht mehr eine juristische oder technische sein. Der Titel Maschineningenieur ETH reicht offensichtlich nicht mehr. Die Universität in St. Gallen wird zum Dreh- und Angelpunkt für angehende Manager. Den Feinschliff holt man sich anschliessend mit einem Master of Business Administration (MBA) an einer renommierten Hochschule, wenn möglich im angelsächsischen Raum. Regulatorische Entscheidungen werden nicht mehr im nationalen Parlament gefällt, sondern auf paneuropäischer Ebene – vor allem in der Europäischen Union – und dann «autonom nachvollzogen», oder sie werden sogar auf globaler Ebene, beispielsweise in Abkommen der Welthandelsorganisation WTO, verhandelt.

Damit verlieren Trumpfkarten wie die militärische und/ oder politische Karriere ihren Wert. Internationale Netzwerke werden wichtiger, die nationale Vernetzung wird weniger: Verfügte ein Schweizer Unternehmen 1980 noch über rund acht Verbindungen zu anderen Schweizer Unternehmen, sind es 2010 noch gut zwei. Das Netz wird dünner. Dasselbe gilt für das politische Engagement von Wirtschaftsführern: Es nimmt ab oder verlagert sich auf die internationale Bühne (Branchenverbände). Waren Bankverein und Bankgesellschaft 1980 mit 40 Industrieunternehmen verbunden, ist es die UBS im Jahr 2010 mit noch genau zwei. Waren 1980 noch 42 Mitglieder von Geschäftsleitungen der 100 grössten Schweizer Firmen im Parlament vertreten, sind es 2010 noch 13.

Doch ganz weg ist der Filz mit dem Übernamen Schweiz AG nicht. «Diese Netzwerke haben sich in den 1990er-Jahren nicht einfach ausgewaschen», sagt der ehemalige Chefredakteur der Bilanz und intime Kenner der Wirtschaftsnomenklatur, René Lüchinger. Gerade die Swissair sei ein gutes Beispiel dafür, wie traditionelle Vertretungen im Verwaltungsrat trotz Globalisierung weitergelebt wurden. So stellte Nestlé einen Vertreter, die Crédit Suisse auch, beides Firmen, die der FDP, der freisinnigen Partei, nahestanden, genauso wie der «fachlich völlig unbefleckte Chef des Comptoir Suisse in Lausanne», Paul-Antoine Hoefliger, erzählt Lüchinger aus jener Zeit. Der Journalist setzte sich in zwei Büchern intensiv mit der Geschichte der Swissair und deren Niedergang auseinander. Für ihn ist klar, dass in dieser Firma die Schweiz AG weiterlebte, was mit ein Grund für das Ende der «nationalen Fluggesellschaft» war: «Im Verwaltungsrat sassen viele blässliche, mittelmässige Figuren.» Und als das Unternehmen in die Krise schlitterte, bekamen es alle mit der Angst zu tun – vor allem den eigenen Untergang fürchteten sie.

Der Sturz

Philippe Bruggisser lässt sich nichts anmerken. Aber innerlich zerreisst es ihn fast: Vier Jahre lang hat er nun den Jäger gespielt, hat Fluggesellschaft um Fluggesellschaft zugekauft, so wie es die Hunter-Strategie vorgesehen hat, eine Strategie, die der Verwaltungsrat der SAirGroup abgesegnet und immer wieder bestätigt hat. Und nun kneift dieser Verwaltungsrat an diesem Novembertag im Jahr 2000 plötzlich, er hat kalte Füsse bekommen, will Kompromisse machen und fordert sie von Bruggisser ein, von ihm, dem Vorsitzenden der Geschäftsleitung, Chef von über 68 000 Mitarbeitenden, der sich Tag und Nacht für diese Gesellschaft eingesetzt hat. Nicht so wie diese Warmduscher, die sich an ihren Sitzungen aufspielen, herumeiern und zu keinen klaren Beschlüssen kommen!6

 

Doch er beisst vorerst auf die Zähne. Es wird sich weisen, wer am Schluss recht hat, denkt sich Bruggisser wohl, als er dem Gremium zuhört. Er hat den Damen und Herren schon vor Wochen vorgeschlagen, den Einstieg in die Alitalia zu prüfen. Und ja, auch die bulgarische Malev wäre ein mögliches Puzzleteil für den Airline-Verbund, sagt er an diesem Tag. Damit könnte die Qualiflyer-Group zu dem werden, was ihnen doch allen auch vorschwebt: eine grosse europäische Airline. Ganz ohne Folien spricht Bruggisser, untypisch für ihn, aus dem Stegreif setzt der 1,97-Meter-Mann auf seine Überzeugungskraft – und auf das riesige Wissen um alle Details, die die SAirGroup ausmachen.

Er ist in den letzten vier Jahren dem Plan gefolgt, den der Verwaltungsrat mit der Hunter-Strategie 1997 verabschiedet hat. Nebst der Beteiligung an der Sabena sind solche in unterschiedlicher Höhe an weiteren Airlines hinzugekommen: Die SAirGroup ist beteiligt an Volare, Air Littoral, Air Europe, der deutschen LTU, AOM French Airlines, Portugalia, der polnischen LOT. Zudem besitzt sie einen Zwanzig-Prozent-Anteil an South African Airways. Auch der US-Caterer Dobbs gehört mittlerweile zur Gruppe. Damit ist die Tochtergesellschaft Gate Gourmet grösster Caterer der Welt. 2000 beteiligt sich die Swissair an TAP Air Portugal. Alle diese Schritte wurden in der Absicht unternommen, die US-Partner-Airline Delta an Bord zu behalten. Doch sie nützen nichts: Schon 1999 entscheidet sich Delta für einen Zusammenschluss mit der grösseren Air France und bildet mit ihr die neue Allianz Sky Team.

Die Swissair ist gezwungen, einen anderen Partner zu finden. Bruggisser gelingt dies. Genau ein Jahr vor der Krisensitzung des Swissair-Verwaltungsrats verkündet er: Wir haben ein Abkommen mit American Airlines. In typischer Bruggisser-Art reicht ihm das nicht. Am selben Tag, im November 1999, fliegt er nach Warschau, um dort den Einstieg seiner SAirGroup bei LOT, der einstigen nationalen Airline Polens, zu verkünden. Und am selben Abend düst er nach Südafrika, um einen Vertrag zu unterschreiben, welcher der Swissair zwanzig Prozent an der dortigen Fluggesellschaft South African Airways sichert.

So sind über die letzten vier Jahre rund drei Milliarden Franken in die Hunter-Strategie geflossen. Bruggisser glaubt immer noch, auf dem richtigen Kurs zu sein, auch wenn Aussenstehende die Strategie der Swissair kritisieren. Jeff Katz, der Airline-Chef unter ihm, beteuert zwar 1999, die Swissair und ihre Partner in der Qualiflyer-Gruppe verfügten über «eine zunehmend komfortablere Situation». Doch ein Lufthansa-Vertreter äussert sich zur Qualiflyer-Gruppe der Swissair gleichzeitig kritischer gegenüber der Zeitung Finanz und Wirtschaft: «Ich bin mir nicht sicher, ob die vielen Beteiligungen heilsam oder förderlich wirken.» Im Jahr 2000 kommen auch im Verwaltungsrat erste Zweifel auf, ob das Konzept überhaupt finanzierbar sei. Vor allem auch, als Airline-Chef Jeff Katz, der im Vorjahr noch so überzeugend klang, im Juli 2000 für Aussenstehende völlig überraschend – den Bettel hinwirft und in die USA zurückkehrt. Die Berater von McKinsey überprüfen zudem wieder einmal die Hunter-Strategie und rechnen. Sie kommen zum Schluss, dass sie nicht vollständig umgesetzt werden kann. Publizist René Lüchinger kann die Zweifel nachvollziehen, obwohl er heute noch glaubt, dass die Strategie hätte aufgehen können: «Man wollte ja eigentlich in Flag Carriers investieren, nicht in Schundfluglinien.» Deshalb sei das Konzept von McKinsey an sich nicht so abwegig gewesen. Die Realitäten sind nun aber ganz anders: Die Swissair hat sich mit vielen Airline-Beteiligungen grosse Probleme eingekauft. In Belgien, in Frankreich, ja sogar in Deutschland mit der LTU hat man nur Löcher zu stopfen. Es überrascht nicht, dass trotz aller Überzeugungskraft Bruggissers und seiner Papiere einer doch noch seinen gesunden Menschenverstand einschaltet und sich fragt, ob das gut kommen könne: Es ist ausgerechnet Bruggissers Förderer und McKinsey-Komplize Lukas Mühlemann, der im Sommer 2000 erstmals die Hunter-Strategie infrage stellt. Doch Finanzfachmann Bruggisser besitzt kein Gespür für die Gruppendynamik, die damit einsetzt. Das Rad, das der CEO mit der Swissair dreht, ist für einige im Aufsichtsgremium zu gross geworden. Ihnen graut vor den maroden Airlines, die Bruggisser zukauft und weiter zukaufen will, vor den Löchern, die man stopfen muss mit dem schönen Geld, das man anderswo verdient. Die Defizite, welche die Swissair-Gruppe nun überall decken muss – grauenhaft. Nach den ersten kritischen Worten Mühlemanns trauen sich nun auch andere Mitglieder des Gremiums wieder, ihre Meinung zu sagen. Bei ihnen läuten die Alarmglocken, als sie von den nun vorgeschlagenen Investitionen in Airlines aus Ländern wie Italien und Bulgarien hören. Einstimmig lehnen sie an dieser Sitzung vom 22. November 2000 das Investment in die Alitalia ab – und sagen Bruggisser, über Malev müsse man gar nicht sprechen. Sie fordern ihn auf, seinen Gemischtwarenladen zu konsolidieren.

Im Klartext heisst das: Die Hunter-Strategie ist gescheitert – auch wenn das keiner offen sagen will. Einzelne Zukäufe werden mittlerweile als «Fehler» eingeschätzt. Nun müssten Konzernteile verkauft werden, der Verwaltungsrat will «Ausstiegsszenarien» sehen. Und dann kommt für Bruggisser die Höchststrafe: Er solle prüfen, ob ein Zusammengehen mit British Airways nicht doch die bessere Variante für die Zukunft sei. Die Briten haben nämlich 1999 die Allianz Oneworld gegründet, in der nach dem Ende der Partnerschaft mit Delta auch der neue US-Partner der Swissair, American Airlines, mittut. Bitte Rückmeldung bis zur nächsten Sitzung am 14. Dezember. Bruggisser ist im Innersten getroffen. «One Group. One Team. One Spirit» prangte noch im Frühling dieses Jahres auf der Titelseite des Swissair-Geschäftsberichts. Vom CEO und dem abtretenden Verwaltungsratspräsidenten Hannes Goetz hiess es dort im Einstiegstext: «Das Geschäftsjahr 1999 war ein Jahr der Akquisitionen, des Wachstums und der inneren Stärkung, und damit ein weiterer Schritt im Aufbau einer Aviation Group […].» Und weiter: Dank der Dualstrategie sei die Gruppe in der Lage, «ein Expansionsprogramm zu finanzieren, das die Werterhaltung und Selbständigkeit des Konzerns in einer zur Konzentration tendierenden globalen Wirtschaft sichert». Und nun sollte dies alles, ein halbes Jahr später, Makulatur sein? Die Swissair soll kapitulieren, sich in die Arme der Briten werfen? Bruggisser kann und will es nicht glauben. Auch nicht, dass seine Position gefährdet sein könnte. Zu viel hat er dem Unternehmen gebracht. Zuerst den erfolgreichen Aufbau all dieser Nebenbetriebe, die nun den Grossteil des verfügbaren Gelds in die Kasse spülen. Dann eine einigermassen erfolgreiche Kern-Airline. Und schliesslich die vom Gremium geforderte Umsetzung des Traums einer eigenen Allianz – alles da! Sogar die grösste Krise der Swissair meisterte er erfolgreich. Also, ehrlicherweise war das nicht primär er, sondern seine Kommunikationschefin Beatrice Tschanz, damals, im September 1998, als Flug SR 111 von New York nach Genf über Halifax ins Meer stürzt und 215 Passagiere und 14 Crew-Mitglieder in den Tod reisst. Da hat er, Bruggisser, gespürt, dass Empathie nicht seine Stärke ist, und hat seine Fachfrau für Kommunikation machen lassen. Und sie hat ihre Sache hervorragend gemacht. Das haben ihm später alle bestätigt. Und das ist doch auch eine Leistung: merken, wenn man sich zurückhalten muss. Doch jetzt, jetzt kann sich Bruggisser nicht zurückhalten, sein Lebenswerk ist in Gefahr.

In Einzelgesprächen versuchen der neue Verwaltungsratspräsident Eric Honegger, Sohn eines Bundesrats und selbst Ex-Regierungsrat des Kantons Zürich, und CS-Chef Lukas Mühlemann, ihren CEO zur Räson zu bringen: Dies sei doch nur ein Boxenstopp, die Strategie sei nicht gescheitert. Doch Bruggisser, ganz im Sinne dessen, was er im Frühjahr geschrieben hat – «Wir sind auf dem richtigen Weg, den wir […] konsequent weiterverfolgen» –, verweigert sich den Aufträgen und kommt am 14. Dezember mit nur rudimentären Informationen zur Alternative Oneworld an die Sitzung des Aufsichtsgremiums. Die Mitglieder des Verwaltungsrats sind entsetzt: Der Geschäftsführer widersetzt sich ihren Weisungen. Eine Trennung scheint unausweichlich. Doch noch hat das Gremium Hemmungen, einen Mann, der sich so um das Unternehmen verdient gemacht hat, vor die Türe zu setzen. Der seit Frühjahr amtierende Verwaltungsratspräsident Eric Honegger kommt aber spätestens über die Festtage zum Schluss, dass es so nicht weitergehen kann. Lüchinger sieht dabei im Gespräch auch psychologische Komponenten: «Honegger reichte Bruggisser ja nicht einmal bis zu den Fussspitzen!» Oder anders gesagt: Wollte der Ex-Politiker bei der Swissair eine Rolle spielen, musste er den übermächtig gewordenen CEO loswerden. Das bald folgende grosse Drama kündigt sich mit einer kleinen Tragikomödie an. Der Beweis dafür, dass Honegger nicht einmal über die banalsten Insider-Kenntnisse verfügt, zeigt sich schon, als er im Januar 2001 Kommunikationschefin Beatrice Tschanz beauftragt, eine Medienmitteilung zu entwerfen, in der die Swissair die Trennung von ihrem CEO bekannt gibt. Er tut dies zwei Tage vor der nächsten Verwaltungsratssitzung, ohne dass ein offizieller Beschluss vorliegt. Die Unwissenheit über die enge Verbindung von Bruggisser und seiner Kommunikationschefin zeigt, wie weit weg Honegger vom eigentlichen Unternehmen ist. In diesem Loyalitätskonflikt kann die Kommunikationschefin laut Lüchinger nicht anders, als ihren Chef Bruggisser darüber zu informieren, was Honegger plant. An der Verwaltungsratssitzung vom 20. Januar 2001 stehen die Verantwortlichen dann vor einem unlösbaren Problem, das ihnen ihr eigener Verwaltungsratspräsident eingebrockt hat: Entweder sie stimmen der Entlassung des CEO zu, oder sie stellen sich gegen Honegger. Im zweiten Fall aber würden sie Bruggissers Rücken stärken, obwohl sie an dessen Strategie zweifeln. Schliesslich gibt es für sie keine wirkliche Wahl mehr: Wollen sie aus der Hunter-Falle kommen, müssen sie Bruggisser entlassen. «So hat eigentlich ein Einzelner die Trennung vom CEO beschlossen», fasst fast zwanzig Jahre nach den Ereignissen Publizist Lüchinger die Vorgänge im Januar 2001 zusammen. Bruggisser packt seine Koffer bei der Swissair und verschwindet fast vollständig aus der Öffentlichkeit. Ein neugieriger Journalist wird drei Jahre später aus Bruggissers Umfeld erfahren, dass dieser sich nun dem Bau einer grossen Modelleisenbahn auf vierzig Quadratmetern widme – vom Chefpiloten der Swissair wird Bruggisser zum «Eisenbahner».

Für René Lüchinger war diese Entlassung des Kopfs der Hunter-Strategie der entscheidende Moment im sich abzeichnenden Drama um die Swissair: «Von da an entglitt das Ganze.» Der Publizist greift dabei zu einem drastischen Bild: «Danach torkelte die Swissair wie ein geköpftes Huhn einfach weiter.» Eric Honegger, der Bruggisser vom Chefsessel stürzte, beschliesst, selbst das Steuer zu übernehmen: Er lässt sich als CEO der SAir-Gruppe installieren. Und er glaubt auch zu wissen, wer ihm helfen könnte, aus dem Schlamassel zu kommen: der Basler Crossair-Chef Moritz Suter. Ausgerechnet Suter, den viele bei der Swissair als jemanden wahrnehmen, der im Unternehmen nur seine eigenen Interessen verfolgt, nämlich die der Crossair. Trotzdem ruft Honegger am Sonntag, einen Tag nach der Entlassung Bruggissers, Suter an und bittet ihn, den Bereich SAirLines, in dem alle Fluggesellschaften gruppiert sind, zu übernehmen. Er würde ihn gerne am Montag sehen, um die Sache zu besprechen. Und hätte dann gerne bis 13 Uhr eine Zu- oder Absage. Für eingefleischte Swissair-Leute bedeutet dies den blanken Horror: Der Mann, der das Projekt Alcazar mit allen Mitteln, auch unschönen, bekämpfte, der den Swissair-Leuten immer wieder Knüppel zwischen die Beine warf, der sein Beziehungsnetz bis in den Bundesrat immer wieder gegen die Zürcher nutzte – dieser Mann soll nun die Swissair retten?

Auch die Freunde von Moritz Suter sind nicht glücklich über den geplanten Schritt. Sein Basler Anwalt Peter Böckli, der damals als Vizepräsident im Verwaltungsrat der UBS sitzt, warnt ihn in einem persönlichen Schreiben vor der Übernahme jeglicher Verantwortung bei der Swissair. Böckli schreibt, dass der Verwaltungsrat das «allmähliche Herunterschlittern der Swissair Group» verharmlosen werde, um gegebenenfalls «später Dich als Mitschuldigen […] in das Schicksal einzubinden». Suter steht vor einer schwierigen Entscheidung: Soll er als Chef nur für «seine» Crossair schauen, die ja mittlerweile zu siebzig Prozent der SAirGroup gehört? Oder soll er mithelfen, den Gesamtkonzern zu retten, um so indirekt seine Crossair zu schützen? Durch Böckli gut munitioniert, geht er mit klaren Forderungen ins Gespräch mit Honegger: Suter will alleiniger Chef über alle Airlines sein. Er will eine Überprüfung der finanziellen Lage. Er will einen scharfen Schnitt zwischen Alt- und Neulasten. Und er will, dass die SAirGroup wieder Swissair heisst. Wo Suter hoffnungsvoll ans Werk geht, sieht sein Anwalt und inoffizieller Berater Böckli hingegen nur dunkle Wolken. Er schreibt Suter Ende Januar: «Moritz, Deine Macht geht nicht gleich weit wie Deine Haftung. […] Nach allem, was ich heute weiss, musst Du Dich von der Swissair Group distanzieren.» Er rät ihm dringend zurückzutreten, sollte der Verwaltungsrat die desolate Lage nicht erkennen. Suter hält im Februar 2001 noch durch, hofft, die Lage meistern zu können. Vergeblich. Am 7. März tritt er zurück – nach nur 44 Tagen, in denen er die Swissair geführt hatte. Er tut dies auch und vor allem auf Einwirken seines Anwalts, der ihm später schreiben wird: «Die Art, wie man mit Dir umging, war absolut inakzeptabel.» Und weiter: «Du hast um drei Minuten vor zwölf die Kurve genommen, nachdem ich Dir […] den sofortigen Rücktritt aus diesem aufgedrängten, äusserst gefährlichen Amt angeraten habe.»