Disruptive Thinking

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Der große Appetit

»Software is eating the world«, hat der Netscape-Gründer Marc Andreessen einmal formuliert. Man kann es auch so ausdrücken: Der Hunger mancher Software-Giganten ist unersättlich. Sie möchten die ganze Welt verspeisen. Man fängt klein an, in einer Nische. Dort kann man üben, wie das geht, andere zu verspeisen. Manche bekommen dann richtig Appetit. Und sagen es auch laut und deutlich. Der bisherige Chef von Uber zum Beispiel. Von ihm wissen wir: Uber ist angriffslustig und hat ständig Lust auf mehr. Zuerst Limousinenservice, dann Onlinevermittlung von Fahrdienstleistungen, strategisch gezielt ausgebaut als Plattform zur Vermittlung von Fahrgästen und privaten Fahrern, dabei immer weiter expandierend, Hindernisse und Konkurrenten aus dem Weg räumend. In Deutschland bisher nicht so erfolgreich. Aber das soll sich nach dem Willen des Uber-Gründers Travis Kalanick auch irgendwann ändern.

Dann geht es nicht mehr um den Angriff auf die Taxibranche, dann kommt der Angriff auf die Automobilindustrie. Kalanick sagt das ganz offen: »We want to get to the point that using Uber is cheaper than owning a car.« Und dann fügt er noch hinzu, ehe man Luft holen kann: Das ultimative Ziel sei »transportation that’s as reliable as running water«. Das geht natürlich nur, wenn das fahrerlose Auto kommt. Dann braucht es nun wirklich nicht mehr viele Taxifahrer. Und die Fahrdienste von Uber werden konkurrenzlos günstig. Oder es kommt die fahrerlose Drohne. Das wird dann etwas teurer. Aber wer braucht dann eigentlich noch eine E-Klasse oder einen 7er BMW? Wer wird dafür noch viel Geld ausgeben wollen? Vielleicht werden sich ein paar Leute den Luxus einer großen Limousine oder eines Sportwagens leisten. Doch wer kauft normale Klein- oder Mittelklassewagen? Außer den wenigen professionellen Abnehmern wie Uber? Es erfordert nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was das für die deutsche Automobilindustrie bedeuten könnte – an der, wie wir wissen, mindestens ein Fünftel der Arbeitsplätze in Deutschland hängt. Deshalb hat sich Daimler wohl schließlich auch auf einen Deal mit Uber eingelassen und ist damit zufrieden, seine Fahrzeuge künftig auch auf der Uber-Plattform anzubieten. Übrigens gibt sich ein Travis Kalanick mit der Automobilindustrie allein keineswegs zufrieden: »If we can get you a car in five minutes, we can get you anything in five minutes.«

Man ist geneigt, derartige Äußerungen für großsprecherisch zu halten. Doch vielleicht erinnern wir uns daran, dass die meisten – und gehören wir nicht selbst zu den meisten? – vor ein paar Jahren Amazon für einen Onlinebuchhändler gehalten haben. Amazon ist von Jeff Bezos strategisch gezielt als Plattform konzipiert und ausgebaut worden. Heute wissen wir, dass Amazon das meiste Geld mit Cloud-Services verdient, die es Unternehmen anbietet. Die Cloud-Sparte Amazon Web Service ist das am schnellsten wachsende und profitabelste Geschäft von Amazon geworden.

Plattformstrategien zu konzipieren, erfordert andere Fähigkeiten, als klassische Produkt- oder Firmenstrategien zu entwickeln. Das haben viele Unternehmen in Deutschland und Europa nicht oder erst ziemlich spät verstanden. Mit dem Fünf-Kräfte-Modell von Michael Porter kommt man da nicht mehr weit, mit dem Modell der »Hypercompetition« nur etwas weiter. Man muss Märkte, Wettbewerber und potenzielle Wettbewerber mit anderen Augen sehen lernen. Man muss vernetzt denken und mit Netzwerken spielen können. Man muss sich radikal öffnen für das Fremde und Unbekannte, Grenzen weit verschieben und gleichzeitig strikt auf den Eigennutzen bedacht sein und die eigenen Grenzen gekonnt sichern können. Man muss kooperativ sein und egoistisch. Ziemlich verrückt und sehr systematisch. Man muss neugierig sein auf die Vielfalt und Komplexität dieser Welt und sich gleichzeitig konsequent fokussieren können. Mit einem Wort: Man darf nicht kompliziert, sondern man muss auf überraschende Weise einfach sein. Jedenfalls wenn man mithalten will. Wenn man das alles will. Wenn man nicht noch ein paar andere, bessere Spielzüge im Repertoire hat. Aber haben wir das?


Eine andere Größenordnung

Bis 2020 sollen auf Chinas Straßen 5 Millionen Autos mit alternativem Antrieb fahren – die Regierung der Volksrepublik setzt dafür viele Hebel in Bewegung. Zum Beispiel bekommen die Käufer eines Elektroantriebes bis zu 7000 Euro Prämie. Die Ladestationen werden überall im Land gebaut. Rund 30 000 sollen es schon sein. Doch wer entwickelt und fertigt die Fahrzeuge? Natürlich – wenn möglich – vor allem chinesische Unternehmen, unterstützt mit internationalem Know-how, das eingekauft wird. Wie das geht, hat man u.a. aus dem Profifußball gelernt. Nur wird hier strategisch noch größer gespielt. Das Engagement im Silicon Valley ist eine der möglichen Spielvarianten. Die andere heißt: Wir bauen das alles bei uns im Lande auf. Und zwar noch schneller. Zum Beispiel in Shenzhen, bekannt für sein gigantisches Entwicklungstempo, genannt »Shenzhen-Tempo«. Hier wurde 2016 FMC gegründet, die sogenannte Future Mobility Corporation. Die Gründer sind Tencent (das größte Internetunternehmen Chinas), Harmony (chinesischer Händler von Luxusautomobilen) und Foxconn (Hersteller von Elektronikteilen mit etwa 1,3 Millionen Mitarbeitern, der u. a. für Apple, Intel und Sony produziert). Das Ziel: »Wir wollen das Apple der Automobilindustrie werden«, sagt der CEO des neuen Mobility-Unternehmens, Carsten Breitfeld. Er war bis Anfang 2016 zwei Jahrzehnte lang bei BMW und zuletzt dort für den i8 verantwortlich. Breitfeld gehört neben einigen anderen Topmanagern und -entwicklern von BMW, Daimler, Google und Tesla zum Führungsteam des chinesischen Unternehmens, das – wie man munkelt – Gehälter zahlt, die tatsächlich sonst nur im internationalen Profifußball bezahlt werden. Ein Start-up, bei dem fraglich ist, ob man es so bezeichnen soll. Zumal es innerhalb von drei Jahren das erste serienreife Automobil auf die Straßen bringen will. Ein Elektro-Geländefahrzeug, das etwa 45 000 Dollar kosten soll. Für Carsten Breitfeld lautet die Frage: Wie kommen wir möglichst rasch »von der alten Welt in die neue Welt? Wir haben keinen Ballast aus der Vergangenheit.« So kann man es sehen. Man kann es auch anders sehen: Hier wird das Innovator’s Dilemma mit Geld und Macht ausgehebelt. Oder es wird jedenfalls versucht. Mit unbeschreiblich viel Geld und unsagbar viel Macht – ökonomischer und staatlicher Macht. Die Widersprüche für hiesige Unternehmen – ob groß und arriviert oder klein und am Anfang – werden dadurch nicht geringer. Wie wollen wir uns darauf einstellen? In Kreuzberg, Leipzig, Sindelfingen? In Berlin oder Brüssel?

Oder gehen wir einfach dorthin, wo die Startbedingungen für Innovatoren besonders günstig sind und alles so schnell geht wie in Shenzhen oder in Singapur? Manche tun das, beispielsweise der Unternehmer Jürgen Schaar, der für die Gründung seines Unternehmens Blockchainfirst Singapur gewählt hat und dies so kommentiert: Hier in Singapur gibt es ein Start-up, »dessen Geschäftsmodell es ist, Unternehmensgründungen in der Blockchain über sogenannte Smart Contracts durchzuführen. Innerhalb von 24 Stunden ist die Firma geschäftsfähig und alles wird über die Blockchain abgewickelt.« Doch wie verwandelt man Schnelligkeit in Größe?

Neue, grenzüberschreitende Kombinationen

Kann man den Großen überhaupt Paroli bieten? Vielleicht wenn man bereit ist, selbst vernetzt und groß zu denken. Das hieße, genau das zu tun, was in Festvorträgen gerne gesagt wird, aber im Alltag so unendlich schwierig zu realisieren ist: »out of the box« oder »über den Tellerrand hinaus« zu denken. Also über den eigenen Bereich, über die eigene Firma, über die eigene Branche hinaus zu denken, Lösungen »in between« zu entwickeln, Kooperationen und Allianzen einzugehen. Nach den Akteuren Ausschau zu halten, die mit einer anderen Kompetenz und aus einem anderen Blickwinkel heraus an ähnlichen Fragen arbeiten. Zum Beispiel überall dort, wo es um »smarte« Lösungen geht, um die »smart city«, um das »smart home«, um »smart mobility«, »smart grids« oder »smart health« – also dort, wo die Vernetzung selbst das eigentliche Thema ist. Überall dort werden vernetzte Innovationen gefordert, »kombinatorische Innovationen«, wie das der niederländische Innovationsforscher Paul Iske nennt, oder »crosssektorale Innovationen«, wie Stephan A. Jansen sie fordert. Ist es nicht genau das, was BMW in Kooperation mit Intel und Mobileye versucht, um beim Thema autonomes Fahren »vorausschauend« mit dabei zu sein?

Disruption ist nicht dasselbe wie Digitalisierung

Natürlich kann man in einem sehr allgemeinen Sinn davon sprechen, dass die digitale Transformation selbst ein disruptiver historischer Prozess ist. Ein Industriezweig nach dem anderen, ein gesellschaftlicher Bereich nach dem anderen wird davon erfasst. Von den Medien bis zum Einzelhandel, von der Automobilbranche bis zu den Finanzdienstleistern, von der Industrie über die Bildung bis zur Medizin und so weiter und so fort. Aber dies ist im Begriff der digitalen Transformation ohnehin enthalten. Doch nach meiner Beobachtung müssen noch ein paar Ingredienzien mehr dazukommen. Zum Disruptiven gehört zum Beispiel das Nichtwissen, also die Bereitschaft, das Undenkbare zu denken, sich auf das Überraschende einzustellen und nicht einfach das Vorhersagbare bloß gedanklich zu reproduzieren. Oder die Skalierung, also die Fähigkeit, das Kleine durch Vernetzung und neue Kombinationen groß zu machen (eine Fähigkeit, die nicht allein auf dem gekonnten Einsatz von Technologie beruht). Andernfalls wäre es für jedes Unternehmen, das die Digitalisierung konsequent vorantreibt und das bewährte Modell des Business Model Canvas einsetzt, ein Kinderspiel, disruptiv zu sein. Und wir hätten Zehntausende disruptive Organisationen im Lande. Kleine, mittelgroße und große. Was ersichtlich nicht so ist.

 

Das ist übrigens auch so ein Dilemma: Das Business Model Canvas von Alexander Osterwalder war vor ein paar Jahren so etwas wie eine disruptive Management-Innovation. Viele haben dadurch zum ersten Mal die Bedeutung des Themas Geschäftsmodelle verstanden. Ein gigantischer, auch für die Autoren wirklich überraschender Erfolg. Aber nun, da das Modell zu einem »global standard used by millions of people in companies of all sizes« geworden ist, wie es in der Werbung heißt, wird die Disruption zu einem Paradox: Man wird mit diesem Modell zwar immer noch gerne arbeiten, aber eben im Bewusstsein, dass alle Wettbewerber das gleiche Tool nutzen, um ihre Innovation zu modellieren.

Disruption ist also noch etwas anderes als Digitalisierung. Und disruptiv denken ist noch etwas mehr, als ein neues Produkt mit digitaler Technologie zu entwickeln, das vom Marketing als bahnbrechend verkauft wird. Christoph Keese hat das sehr schön am Beispiel eines Rasenmähers aus deutscher Fertigung illustriert, der natürlich digitalisiert war und angeblich voll automatisiert funktionierte. Letzteres aber nur unter allen möglichen Restriktionen. Und nur wenn der willige User bereit war, ein paar Extraschichten einzulegen, um ihn auf einem vorher von ihm selbst mit einem Draht begrenzten Stückchen Erde zum Laufen zu bringen. Das alles, weil dieses Produkt von A bis Z nicht vernetzt gedacht, entwickelt und gefertigt wurde. Übrigens eine exzellente deutsche Firma, die Keese bereitwillig über den Hintergrund dieser Geschichte Auskunft gegeben hat. Und sie selbst als ein Lehrstück verstanden hat. Bosch, denn um diese Firma handelt es sich, gehört denn auch zu den Unternehmen, die in den letzten Jahren das Thema Vernetzung auf allen Ebenen ganz neu angegangen sind.

Aus scheinbar kleinen Vorfällen lernen und dabei noch einmal klein und von vorn anfangen, das ist ein Wesenszug von Disruptive Thinking. Das ist Disziplin und das ist Kunst. Wenn beides zusammenkommt und man viel Glück hat, entsteht daraus manchmal etwas Großes.

Denn digitalisierte Produkte, digitalisierte Verfahren, digitalisierte Vertriebskanäle, digitalisierte Insellösungen etc. – das ist alles nicht unser Problem. Das Problem liegt woanders. Es wird insbesondere im Alltag zu wenig vernetzt gedacht, geforscht, gearbeitet, gespielt und experimentiert. Im kleinen wie im großen Maßstab. Ich erlebe es immer wieder in der Arbeit mit Führungskräften, in Konzernen wie im Mittelstand: Vernetzung? Das finden alle wunderbar. Das wird großgeschrieben – in Einladungen zu Seminaren, auf Tagesordnungen, in Führungsgrundsätzen. Aber wenn es an die tägliche Arbeit geht, trifft man immer wieder auf Silodenken, Bereichsprioritäten, mangelnde Zuständigkeiten für Grenzthemen: Das ist meine Disziplin, mein Ressort, mein Baby – »Mit Ihnen teilt meine Ente das Wasser nicht, Herr Müller-Lüdenscheidt«. Jedenfalls so lange nicht, wie ich in erster Linie für die Produkte und Prozesse in meinen Bereich hierarchisch verantwortlich bin und hier Ergebnisse bringen muss. Während des Seminars finden es fast alle chic, sich mit den anderen Kollegen in der Gruppenarbeit oder abends bei einem Glas Wein zu vernetzen. Drei Monate später ist wieder alles beim Alten. Und man wundert sich, was sich da draußen auf den Märkten inzwischen so alles entwickelt hat.


Schwarze Schwäne, Einhörner und bunte Elefanten

»Man begegnet in der Prärie ganz so wie in den Ortschaften der zivilisierten Länder jener Übertreibungssucht, welche aus einer Mücke einen Elefanten macht«, heißt es in Winnetou 3 bei Karl May. Was aber, wenn die Übertreibung zum Spiel gehört? Die Disruptionsstrategien wichtiger digitaler Spieler setzen auf Übertreibung, auf die Überbietung, auf die Hoffnung, viel schneller und ganz anders wachsen zu können als herkömmliche Unternehmen. Disruption bedeutet in diesem Sinne die Verwandlung der Mücke in einen Elefanten, in einen starken, bunten Elefanten.

Unmöglich? Anatomisch, physikalisch, biologisch? Vielleicht, aber das ist eben das alte europäische Denken. In der digitalen, vernetzten, virtuellen Welt ist das sehr wohl möglich. Nach der Devise von Peter Thiel: »Start small and monopolize.« Mach es wie Facebook, Amazon, Instagram & Co.

Schon die Ankündigung, dass irgendwas bald das neue große Ding, »the next thing«, sein könnte, kann Wunder bewirken. Versuchen Sie mal, nicht an einen Elefanten zu denken, wenn von ihm die Rede ist. »Don’t think of an elephant!«

Doch bis zum Elefanten ist es ein weiter Weg. Auf diesem Weg der Verwandlung wartet aber eine nicht minder begehrte Spezies aus dem Reich der menschlichen Fantasie: das Unicorn, das Einhorn. So werden bekanntlich die jungen Unternehmen bezeichnet, die der ersten, mühsamen Startup-Phase entwachsen sind und mit über einer Milliarde Dollar bewertet werden. Auch nicht schlecht. Da ist in den letzten Jahren schon eine recht stattliche Herde zusammengekommen. Uber gehört dazu, Airbnb, Spotify, Elon Musks SpaceX, das umstrittene Big-Data-Unternehmen Palantir oder die chinesischen Einhörner Xiaomi und Didi Chuxing (zum Zeitpunkt, da dies geschrieben wird). Oder Snapchat, der gelbe Geist, der 2011 aus der Flasche gekommen ist und nun die Herzen von Teenies entzückt. Immer nur ein paar Sekunden lang, dann verschwindet er wieder, hinterlässt aber in jeder Hinsicht bleibende Erinnerungen. Die Liste der Unicorns ist in den letzten Jahren rasant gewachsen. So wie die Menge des in sie investierten Kapitals. Und in allen Fällen geht es um Ideen und Erwartungen: um das Potenzial, das in die Firmen hineingelesen wird.

Und immer geht es um mögliches Wachstum, um scheinbar unmögliches gigantisches Wachstum. Nämlich um die Erwartung, dass eine zunächst mückenhaft kleine Start-up-Firma irgendwann märchenhaft exponentiell zu wachsen beginnt. Und mit ihr auch das investierte Kapital. Das ist die Kombination aus entfesselter Fantasie und Berechnung. Es könnte vielleicht mit dieser Firma klappen. Das Geschäftsmodell klingt vielversprechend. Die Mannschaft ist motiviert. Der Netzwerkeffekt ist absehbar. Denken wir groß und kühn. Es könnte sein, dass wir mit dabei sind, wenn XY richtig in die Gewinnzone kommt. Dann könnte das Geschäftsmodell, in das wir investiert haben, zu fliegen beginnen. Also sich in einen schwarzen Schwan verwandeln, in ein Wesen, das niemand auf der Rechnung hatte. So wie es Nassim N. Taleb beschrieben hat: Alle haben nur mit weißen Schwänen gerechnet. Aber irgendwann taucht dieser schwarze Schwan auf und bringt alles durcheinander und alle aus dem Konzept. Nur uns nicht, weil wir auf ihn gesetzt haben. Aber genau wissen wir es natürlich nicht.

Nur das ist gewiss: Die meisten Start-ups scheitern. Der Start-up-Boom, den wir überall in den Metropolen und gerade in Berlin erleben, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur ein Bruchteil der Neugründer sich auf dem Markt disruptiv durchsetzen wird. Wenn von 100 Gründungen – konservativ gerechnet – maximal 20 es schaffen, überhaupt zu überleben, werden von diesen 20 sicher nur einige wenige die Fähigkeit, die Kraft und die Schnelligkeit haben, wirklich disruptiv zu wirken. Welche das sein werden, können wir anfangs nicht wissen. Da geht es den Angreifern nicht anders als den Arrivierten. Das Nichtwissen im Wissen wird zum ständigen Begleiter der Akteure. »Wir wussten vorher auch nicht genau, wo es langgeht«, sagt Jens Müffelmann, der im Hause Springer den digitalen Umbau in entscheidender Position als »Stürmer« mit vorangetrieben hat. Man wusste nur, dass es galt, voll auf Angriff umzuschalten, wie Müffelmann es einmal gemeinsam mit seinem Kollegen Ulrich Schmitz in einem berühmt gewordenen, selbstironischen Tipp-Kick-Video in einem Hotelbett (https://www.youtube.com/watch?v=tIZPouEs_CM) veranschaulichte.

Das bedeutet die Ausweitung der Dilemmazone: Wenn du viel investierst und dabei ausdauernd bist, kannst du vielleicht unermesslich viel gewinnen. Das ist aber sehr unwahrscheinlich. Oder du kannst einiges verlieren. Das ist wahrscheinlicher. Kein Wunder, dass viele konservative Unternehmer da eher vorsichtig sind und sich dreimal überlegen, ob sie bei diesem Spiel mitmachen. Aber dann müssen sie auch damit rechnen, dass sie eines Tages von den neuen Akteuren abgehängt und verdrängt werden. Und alles erscheint irgendwie unwirklich. Für diesen Typus von Wachstum gibt es keine Präzedenzfälle in der Geschichte. Wohl auch deshalb greifen wir auf Bilder aus dem Reich der Fantasie zurück oder wir wählen Metaphern aus der Welt der Wetten und der Glücksspiele. Manchmal scheint unser Verstand mit all dem nicht mitzukommen, und wir sind dankbar, wenn uns jemand die neuen Wachstumsfantasien mit einem jahrtausendealten Märchen zu erklären versucht.

Das unheimliche Schachbrett

Erfolgreiche amerikanische Wissenschaftler und Manager sind meist begnadete Geschichtenerzähler. Storytelling gehört zu ihrem Handwerk. Sie sind in der Lage, jedes noch so abstrakte oder vertrackt erscheinende Thema in überzeugender Weise narrativ zu veranschaulichen. Die besten Geschichten werden weitererzählt, von Kollege zu Kollege, von den Medien, im Netz. Nach einer Weile verbreiten sich die Geschichten dann sehr schnell, um nicht zu sagen: exponentiell. Womit wir beim Kern der Geschichte angelangt sind. Eine Geschichte in der Geschichte. Sie nimmt ihren Ausgang mit einer Beobachtung von Gordon Moore, einem der Gründer von Intel, aus dem Jahre 1965. Er stellte fest, dass sich die Leistungsfähigkeit von Computern (genauer: die Anzahl von Komponenten auf einem integrierten Schaltkreis) alle zwölf Monate verdoppelte. Wie das auf längere Sicht weitergehe, sei natürlich unsicher. Aber man könne annehmen, dass diese Entwicklung mindestens zehn Jahre anhalte. Es sollte sich in den nächsten Jahrzehnten herausstellen, dass Gordon Moore gut beobachtet hatte – auch wenn aus den zwölf später 18 Monate werden sollten.

Seine Beobachtung erhielt den griffigen Titel »Mooresches Gesetz«, machte weltweit die Runde und gehört heute zum Basiswissen. Dabei ist es streng genommen kein Gesetz, jedenfalls keines vom Charakter eines Naturgesetzes. Sondern es ist eine aus der bisherigen Entwicklung abgeleitete Prognose mit nur begrenzter Gültigkeit. Namhafte Experten und Wissenschaftler aus der Chip-Industrie haben darauf seit geraumer Zeit hingewiesen: »Das Mooresche Gesetz ist am Ende«, sagte Thilo Maurer, der Halbleitertechnologie für IBM erforscht, in einem Spiegel-Interview vom März 2013. »Es gibt physikalische Grenzen, an denen wir nicht rütteln können.« Ich sollte hinzufügen: solange neue technologische Lösungen, beispielsweise eine neue Generation von Superchips, die mit der Extrem-Ultraviolett-Lithografie hergestellt werden, noch nicht aus dem Teststadium hinaus sind. Sie könnten unsere Vorstellungen von Grenzen weiter verschieben.

Doch dann gibt es noch eine weitere Geschichte. Sie erscheint manchen viel faszinierender. Ins Spiel gebracht hat sie zuerst der Futurist und Erfinder Ray Kurzweil, und zwar bereits 1999 in seinem Buch Homo S@piens.

Für ihn stößt nichts an eine Grenze. Das »Gesetz« vom steilen exponentiellen Wachstum, von einem Wachstum, dem keine Grenzen gesetzt sind, gilt nicht nur für die Rechenleistung von Computern, sondern es ist ubiquitär. Es lässt sich verallgemeinern: Es gilt nicht nur für die Informationstechnologie, sondern auch für Umsätze, Erträge, Firmen, Industrien. Jedes Jahr oder alle zwei, drei Jahre eine Verdoppelung, das ist dauerhaft überall möglich. Die gesamte Wirtschaft, ja die gesamte menschliche Evolution (die er vor allem als eine Evolution der Technik versteht) ist in ein neues historisches, wie er sagt: »planetarisches« Stadium des exponentiellen Wachstums eingetreten. Da kann nichts dazwischenkommen, wie im richtigen Leben. Die Kurve wird also nicht irgendwann mal abflachen (oder in eine S-Kurve übergehen) – nein, für Kurzweil handelt es sich um ein Gesetz.

Auf der Suche nach einer geeigneten Erzählung, die diese nun nicht gerade bescheidene These veranschaulichen könnte, stieß Ray Kurzweil auf eine alte, wunderbare Legende, auf die märchenhafte Legende von der Erfindung des Schachspiels und vom Körnchen Reis: Ein weiser Mann im alten chinesischen Kaiserreich erfindet für seinen Kaiser ein besonderes Spiel mit besonderen Figuren auf einem besonderen Brett. Das Schachspiel. Der Kaiser ist darüber so entzückt, dass er dem Erfinder großzügig erklärt, er habe einen Wunsch frei. Der Erfinder erbittet sich Reis. Nicht eine Handvoll, sondern mehr. Aber doch überschaubar, so scheint es. Nämlich auf das erste Feld ein Reiskorn, auf das zweite das Doppelte, also zwei Reiskörner, auf das dritte wieder das Doppelte, also vier … und so weiter. Der Kaiser findet den Wunsch nur recht und billig, und er beginnt, ihn zu erfüllen. Doch irgendwann stellt er fest, dass die Sache ihm über den Kopf wächst.

 

Irgendjemand wird ihm irgendwann wohl auch geraten haben, zu rechnen. Vielleicht sogar der Erfinder selbst, weil er sich ausrechnen konnte, was sonst mit ihm geschehen würde. Spätestens in der zweiten Hälfte des Schachbretts wird das Spiel maßlos. Die gesamte Reisernte der Welt steht auf dem Spiel. Auf dem letzten Feld hätte der Kaiser 18 Billionen Reiskörner liefern müssen. Damit hätte man zweimal die gesamte Oberfläche der Erde bedecken können, einschließlich der Meere.

So weit kennen wir die Geschichte. Kurzweil spinnt sie weiter. Die Analogie wird für ihn zur Realität, zur geschichtlichen Realität des angebrochenen Zeitalters. Besonders angetan ist er von der zweiten Hälfte des Schachbretts. Für ihn ist die Sache völlig klar: »Wir« – die Menschheit insgesamt, nicht nur die digitalen Maschinen, nicht nur einige Technologiefirmen, nicht nur ein oder zwei Branchen – befinden uns mit dem anbrechenden neuen Jahrtausend auf der zweiten Hälfte des Schachbretts. Hier wird das Wirtschaftswachstum rasant und anhaltend sein und wir werden die Schwelle zu einer neuen intelligenten Lebensform überschreiten: die Vereinigung unserer Spezies mit der Computertechnologie.

Die Geschichte zirkulierte zunächst nur unter Eingeweihten. Und in dem Kreis derer, die ein Interesse an ihrer Pointe hatten – dem Versprechen der scheinbar mühelosen Reichtumsvermehrung. Also insbesondere unter Kollegen an der Wall Street. Nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 wurde es zunächst etwas stiller: Die Geschichte wurde kaum noch erzählt, es sei denn vom harten Kern der Väter der kalifornischen Singularity University (zu denen Ray Kurzweil selbst gehört), die 2008 gegründet wurde. Ihre Hartnäckigkeit wurde belohnt. Denn seit ein paar Jahren ist die Geschichte nun in aller Munde. Vor allem taucht sie in dem New-York-Times-Bestseller The Second Machine Age auf. Und zwar als Schlüsselerzählung. Die renommierten MIT-Autoren Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee bauen nahezu ihre gesamte Argumentation auf dieser Erzählung und auf dem Bild vom Schachbrett auf. Mehr noch: Ray Kurzweils Interpretation dieser Geschichte wird übernommen. Es wird nicht gefragt: Stimmt das Bild? Es wird nur noch gefragt: Sind »wir« schon auf der zweiten Hälfte des Schachbretts oder kurz davor, sie zu erreichen? Und ich kenne einige hochrangige Manager, die sich nach der Lektüre von The Second Machine Age die gleiche Frage stellen: Was passiert auf der zweiten Hälfte des Schachbretts? Fürwahr eine Frage von disruptiver Sprengkraft. In doppelter Hinsicht. Stimmt das Bild, dann bekommen wir – je nachdem, wie man es sieht – entweder ein neues, von manchen ersehntes, großes Reich der rasend schnell exponentiell gewachsenen Herrscher des Schachbretts oder es droht das Ende der Menschheit, so wie wir sie kennen. Doch was ist, wenn das Bild nicht oder nur teilweise stimmt?


Kann man Beobachtungen aus dem Bereich der Computer- und Halbleitertechnik einfach auf soziale Entwicklungen übertragen? Sind soziale Entwicklungen denkbar, die nicht mehr an Grenzen stoßen? Ist die Technologie das Modell der kulturellen Evolution?

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