Disruptive Thinking

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Nichtwissen und Fragen

Wenn ich von Nichtwissen spreche, dann ist das nicht tiefsinnig gemeint, sondern ganz unmittelbar, konkret und praktisch.

Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Zukunftsfragen, mit Innovationen und mit dem Thema Transformation. Ich habe im Silicon Valley mit Pionieren der digitalen Ära bereits in einer Zeit gesprochen, als viele noch glaubten, Apple wäre eine Nischenfirma. Ich habe viele Veränderungsprozesse von Unternehmen begleitet und zahlreiche Innovationsworkshops, Zukunftswerkstätten und Leadership-Programme durchgeführt.

Manchmal, ich gestehe es, habe ich gedacht, mich könnte nichts mehr überraschen. Doch in den letzten Jahren ertappe ich mich oft bei der Wahrnehmung: Das Tempo der Veränderungen nimmt in unheimlicher Weise zu. Die Verdrängung von Altem durch Neues passiert in immer kürzeren Abständen. Täglich. Stündlich. Minütlich. Viele Leser werden das Gefühl kennen. Und das hat mit unserem Thema zu tun. Disruptionen, Brüche und Umbrüche, wohin wir schauen. Nicht nur in der Technik. Nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft. Und immer häufiger müssen wir zugeben: Das wissen wir nicht. Oder wussten es bis gestern nicht.

Das heißt auch: Manches Faktum, das ich auf den folgenden Seiten schildere, kann überholt sein, wenn Sie als Leserin oder Leser dieses Buch in den Händen halten. Die Veränderungsgeschwindigkeit ist so hoch, dass bereits morgen ein neues Geschäftsmodell oder ein neues Unternehmen das Neue von heute alt aussehen lassen kann. Das ist ein Wesenszug dieser disruptiven Zeit. Bisweilen scheinen sich die Ereignisse zu überschlagen. Wir kommen kaum noch nach. Auch deshalb ist das Anerkennen des Nichtwissens im Wissen so wichtig für disruptives Denken. Es ist eine Voraussetzung zur Meisterung dieser kreativen Revolution.


Besonders relevant ist es für Manager und Führungskräfte, die heute über Zukunftsstrategien und langfristige Investitionen zu entscheiden haben. Etwa in der Automobilindustrie. Heute müssen sie entscheiden, welche Modelle in vier oder fünf Jahren auf den Markt kommen. Ich habe mit mehreren Automobilmanagern darüber gesprochen und immer wieder gehört, wie schwer ihnen diese Entscheidung fällt. Auch die beste Szenarienarbeit, auch die beste Research-Tätigkeit der klügsten Innovationsteams vermögen daran nicht zu ändern.

Das ist keine neue Erkenntnis für all diejenigen, die sich mit Komplexität und mit dem Thema Entscheiden unter Bedingungen der Unsicherheit beschäftigen: »Nur die prinzipiell unentscheidbaren Fragen können wir entscheiden«, hat der österreichische Physiker Heinz von Foerster einmal so schön formuliert. Doch diese Erkenntnis erschien manchmal etwas theoretisch. Heute, in diesen disruptiven Zeiten, besitzt sie praktische Sprengkraft.

Man kann das negativ sehen, als Verlust von Wissen. Man kann es aber auch anders sehen: als Zugewinn für unseren Realitätssinn, verbunden mit der Aufforderung, mehr und intensiver zu fragen und eine neue Achtsamkeit im Führungsalltag zu entwickeln. »To be prepared for the unexpected!« Das meint Disruptive Thinking: das Nichtwissen trainieren, experimentieren und dabei eine neue Form der Achtsamkeit entwickeln. Das kann vielleicht dazu führen, dass wir uns von manchem lösen, was wir in Zukunft nicht mehr brauchen, und dafür manches entwickeln, was überraschend einfach ist.

Das Einfache wird schwer zu machen sein. Denn die sich wandelnde Welt ist ein Playground und zugleich ein Battleground. Das klingt martialisch. Aber so wird in manchen amerikanischen Tech-Companies geredet. Viele sind dort in einem kulturellen Milieu aufgewachsen, in dem die Game Industry keine unerhebliche Rolle spielt und die TV-Serie House of Cards als eine Spiegelung der Realität empfunden wird. Diese Dimension der Transformation sollten wir nicht unterschätzen.

Natürlich kann man fragen: Was soll das? Wir müssen in der digitalen Transformation erst unsere Pflicht erfüllen. Diese Auffassung ist ehrenwert und nachvollziehbar. Und die Hausaufgaben sind bekannt. Zum Beispiel eine saubere Stärken-Schwächen-Analyse durchführen und sich fragen: Wie weit sind wir mit dem Thema Digitalisierung in der Organisation? Wo sind wir gut, wo nicht so gut? Wo könnten welche Wettbewerber aus welchen Branchen disruptiv angreifen? Wie können wir uns davor schützen? Haben wir eine klare Vision und strategische Ausrichtung? Wie weit ist die Organisation einbezogen? Wie weit arbeitet sie schon vernetzt – und zwar nicht nur horizontal, sondern auch vertikal vernetzt? Brauchen wir neue Organisationseinheiten, die mit einem ganz neuen strategischen Ansatz arbeiten? Welche Mitarbeiter brauchen wir für den künftigen Weg? Haben wir genügend gute Softwareentwickler und genügend Teamplayer in unseren Reihen?

Ja, allein diese Fragen zu beantworten und daraus Maßnahmen abzuleiten, ist ein ziemlich herausforderndes Pensum, ein Pflichtprogramm, das viele Kräfte bindet. Fast alle großen innovativen Unternehmen beschäftigen sich direkt oder indirekt mit diesen Aufgaben. Manches davon wird hier auf den folgenden Seiten auch noch einmal aufgegriffen und eingehend behandelt.

Doch das gehört alles auf die Seite dessen, was wir schon wissen. Wie aber kommen wir zur anderen Seite? »How do you come to know things that you don’t know?«, bringt es John Kao, Jazzpianist und Kreativitätsforscher, auf den Punkt. Disruptive Thinking entsteht, wenn wir in der Lage sind, die Seiten zu wechseln. Von der Seite des Bekannten zu der des Unbekannten – und wieder zurück. Manchmal.

Bisweilen jedoch bleiben die Fragen. Unbequeme Fragen, denen wir nicht ausweichen dürfen, wenn wir alle Hausaufgaben der digitalen Transformation erledigt haben. Wo stehen wir dann? Und wo stehen die, von denen wir all das gelernt haben, als wir unsere letzte Reise ins Silicon Valley unternommen haben? Laufen wir nur den Entwicklungen hinterher? Oder schaffen wir etwas Eigenes? Und was wäre das? Wo führt eigentlich die ganze Aufholjagd hin? Was ist der »Next Level« der Entwicklung?

Und während wir uns mit diesen Fragen beschäftigen, fallen uns noch ein paar andere ein: Was ist eigentlich mit all den Menschen, die nicht so gut sind auf dem Battleground? Was machen wir mit denen, die nicht mitkommen bei dieser Aufholjagd? Wie schöpferisch sind wir in der Zerstörung? Und wie nachhaltig ist unsere Transformation?

Und hier schließt sich der Kreis. Wir erinnern uns an die Szenerie in Davos und die dort präsentierten Ergebnisse der Studie zum Thema Vertrauen. Wir werden uns ein wenig anstrengen müssen. Dazu brauchen wir mehr soziale Verantwortung und mehr spielerische Leichtigkeit. Auch dieser Widerspruch gehört zum Disruptive Thinking.

»Den Berg sehen. Den Berg nicht mehr sehen. Den Berg wieder sehen.«

Chinesische Überlieferung


Agieren oder nur reagieren?

Michael Mertens ist Mitglied des Vorstandes eines großen, international agierenden Luftfahrtkonzerns. Wie seine Kollegen steht er unter erhöhtem Druck von mehreren Seiten: von staatlich subventionierten Airlines, die im Hochpreissegment zu niedrigeren Kosten fliegen können. Und von Airlines, die im unteren Preissegment agieren und die Kunden mit immer günstigeren Ticketpreisen locken. Wie kommt er raus aus dieser Zwickmühle? Womit beginnen?

David Bean ist Operational Excellence Manager in einem Tochterunternehmen eines großen amerikanischen Pharmaherstellers. Er ist in letzter Zeit sehr angespannt. Die Konzernzentrale hat ein Kostensenkungsziel von 40 Prozent aufgestellt. Er und seine Kolleginnen und Kollegen sprechen sich gegenseitig Mut zu, haben aber keine Ahnung, wie sie das schaffen sollen.

Anne Aufwind arbeitet in der Personalabteilung eines großen Unternehmens der Telekommunikationsbranche. Sie befindet sich in einem echten Dilemma: Die Belegschaft muss noch weiter reduziert werden, sie muss jetzt in ihrer eigenen Abteilung Personal abbauen. Gleichzeitig ist es ihre Aufgabe, mit innovativen Programmen für eine Aufbruchsstimmung in der Belegschaft zu sorgen. Wie soll das gehen?

Heinz Wohlfarth ist in der Geschäftsführung eines mittelständischen Unternehmens in der Spielzeugbranche. Er spürt heftigen Gegenwind: Das klassische Geschäft mit dem Fachhandel wird schwieriger. Die großen Wettbewerber im Onlinegeschäft unterbieten die Preise und liefern immer schneller. Wie kann man da mithalten?

Sina Junker arbeitet an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt. Sie hat gemeinsam mit anderen Reformpläne zur Umgestaltung des Unterrichts ausgearbeitet. Und schon manches auf den Weg gebracht. Aber sie weiß nicht mehr, wie sie die Arbeitsbelastung schaffen soll. Es fehlen Lehrkräfte, überall wird gespart. Sie ist müde geworden und fühlt sich von der Bildungsbehörde im Stich gelassen. Gleichzeitig macht sie sich Sorgen über die politische Entwicklung. Neulich bekam sie mit, dass Thomas Gottschalk bei Maybrit Illner von »Disruptionen« sprach – das ganze Koordinatensystem sei »verrutscht«. Die Leute seien ratlos: »Helft mir, wie kann ich mich orientieren?« Sie fand seine Ratlosigkeit ansteckend.


Bodo Antwerpen gehört zur Führungsmannschaft eines renommierten Verlagshauses. Er war einige Zeit im Silicon Valley und leitet jetzt ein großes Transformationsprojekt. Mit seinen Kollegen spricht er häufiger über neue digitale Geschäftsmodelle. Immer wieder fällt das Wort »kannibalisieren«. Ganz cool. Aber richtig wohl ist ihm dabei nicht.

 

Sarica Connor hat nach ihrem Studium einen Job bei einem schnell wachsenden Berliner Start-up angenommen. Es geht ziemlich hektisch zu. Ständig werden neue Ziele verkündet. Von ihrem Chef liest sie manchmal Markiges über zweistelliges Wachstum mit neuen Geschäftsmodellen.

Stephan Gabriel ist leitender Innovationsmanager bei einem bekannten, weltweit agierenden Automobilzulieferer. Seine Organisation sucht nach bahnbrechenden Neuerungen für das Thema autonomes Fahren, gleichzeitig steht sie unter erheblichem Kostendruck. Er kommt gerade von einem großen Innovationskongress zurück, bei dem er viele Kollegen aus anderen Branchen getroffen hat. Viele sprachen über disruptive Innovationen. Könnte ihm das in seiner Situation helfen?

Matthias Herget leitet eine Bezirksdirektion einer großen deutschen Versicherung. Seine Mannschaft ist verunsichert. Die Ertragssituation war schon mal besser. Man munkelt viel. In letzter Zeit auch immer mehr über die neue Fintech- und Insurtech-Szene. Wie wird es weitergehen?

Das sind ganz unterschiedliche Personen (deren Namen bis auf zwei geändert wurden), die ich kenne, mit denen ich gesprochen oder zusammengearbeitet habe, tätig in unterschiedlichen Bereichen, konfrontiert mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen. Und doch können wir uns gut in ihre Situation hineinversetzen. Denn wir machen alle in dieser Zeit eine ähnliche Erfahrung: Die Belastung steigt. Der Druck nimmt zu. Das geht manchmal bis an die Schmerzgrenze. Manche machen sich Hoffnung, dass es anders wird. Manche haben das Gefühl, in einer Zwickmühle zu sein: Was sie auch tun, sie kommen nicht wirklich vom Fleck. Es scheint, dass die bisherigen Sicht- und Handlungsweisen nicht mehr richtig passen, dass alte Spielregeln nicht mehr für die neuen Spiele dieser Zeit taugen, dass die Raster unseres Denkens zu starr geworden sind.

Wir spüren, dass irgendetwas nicht mehr richtig stimmt, zu eng geworden ist, vielleicht auch zu Ende geht, anders gemacht werden sollte. Vielleicht radikal anders? Disruptiv anders? Aber was könnte damit eigentlich gemeint sein? Geht es dabei primär um Technologie? Um Innovation? Oder auch um die Organisation? Oder bricht da gerade noch mehr auf in Wirtschaft und Gesellschaft? Und wie können wir das alles denken?

Wir wissen viel, können viel. Haben vieles schon mehr als einmal erlebt. Wir sind bereit, die Komfortzone zu verlassen, wie man so sagt. Wir kennen die wichtigsten Erfolgsstrategien der bekannten Erfolgsratgeber. Unser Werkzeugkoffer ist gut gefüllt. Wir haben gelernt, unsere Energien zu mobilisieren und auf ein Ziel hin auszurichten. Wir sind fokussiert, haben ein gutes Zeitmanagement, verstehen etwas von moderner Kommunikation. Wir sind gut vernetzt und unsere elektronischen Assistenten nehmen uns viel ab. Und doch haben wir das Gefühl: Wir sind Getriebene, gejagt von Augenblick zu Augenblick. Hauptsache, durch. Wir funktionieren, optimieren, reagieren. Oben wie unten. Aber wir sind uns nicht mehr sicher, ob wir noch tatsächlich vorausschauend agieren.

Wir möchten auf neue Gedanken kommen, Auswege finden, mehr Freiraum bekommen in der Strategie wie in der Organisation. Und ganz persönlich auch. Wir möchten aber auch verstehen, was da gerade passiert und wie es weitergeht. Und ich denke, dass dies zusammengehört. Beides zusammen hat etwas zu tun mit Disruptive Thinking: mit tiefgreifenden Brüchen und mit dem Denken dieser Brüche. Und dieses beginnt mit Bildern.

Alte Welt – neue Welt (1): Autobahnen und Bergwege

Jeder Leistungssportler weiß: Wettkämpfe werden »im Kopf entschieden«. Wir brauchen innere Vorstellungsbilder von dem, was vor uns liegt, Vorstellungen von der Art und Weise, wie wir vorgehen wollen, und Bilder von den Bewegungen, die unseren Alltag verändern werden. Lange Zeit hatten viele ziemlich einfache Bilder dessen im Kopf, was wir Fortschritt nennen: Alles schien irgendwie stetig und geradlinig voranzugehen. Und stets aufwärts. Schneller, höher, weiter. Immer mehr. Das Fortschreiten als Fortfahren – auf einer schnurgeraden Strecke. Der Weg in die Zukunft als Autobahn. Zunächst real, dann digital. Der Datenhighway war das Sinnbild und der dazu passende Begriff. Das Marketing der Informationstechnologien machte den Highway zum Leitmotiv. Bill Gates machte ihn zum Titelbild seines später in Millionenauflage verkauften Buches Der Weg nach vorn.

Dieses Bild suggerierte Gewissheit, Sicherheit, Eindeutigkeit. Und dementsprechend waren die Botschaften: Was vor uns liegt, ist berechenbar, gewiss, eindeutig. Du kannst auf uns bauen und uns vertrauen.

Das war die alte Welt, das alte Paradigma, das herkömmliche lineare Denken im Management und in der Führung: die Geradeausfahrt auf der Autobahn. Visualisiert als markante Linie von links unten nach rechts oben – wie die Wachstumsplanungen auf den PowerPoint-Charts. Eingerahmt von einem Kasten, einem Rechteck, einem Quadrat. Das kennen wir. Es gleicht dem Logo einer traditionsreichen, über viele Jahrzehnte sehr erfolgreichen und angesehenen deutschen Bank. Das leuchtete jedem ein. Aber es war höchstens ein geschönter Ausschnitt aus der Realität. Die Wirklichkeit ist selten linear. Die Wirklichkeit in dieser Zeit tiefgreifender Veränderungen schon gar nicht. Sie gleicht eher einem Bergweg. Mit vielen Höhen und Tiefen. Mit Ungewissheit. Mit begrenzter Sicht. Manchmal mit wunderbaren Aussichten. Und mit ziemlich tiefen Abgründen.


Bergweg, Ungewissheit, Übergangszeit: Wir spüren, dass das Alte nicht mehr richtig funktioniert, wir sehen, dass etwas Neues beginnt, ja manchmal wissen wir sogar, aus welcher Ecke es kommt. Doch dann wissen wir nicht mehr genau, was daraus wird, und wir können nicht mehr richtig planen. Schon gar nicht langfristig. Wir können nur jetzt anfangen zu gehen, experimentell die nächsten Schritte tun. Durchs Nichtwissen, durchs Chaos hindurch. Und irgendwann sehen wir vielleicht wieder besser und wissen, wo es langgeht.

Aber das neue Wissen werden wir nur bekommen, wenn wir die Autobahn verlassen, wenn wir anfangen, selbst das Gelände zu erkunden, wenn wir uns auf Überraschungen und Widersprüche einlassen und mit kreativem Vertrauen radikal Neues versuchen. Das ist ein wirklicher Bruch.

Alte Welt – neue Welt



Linear Nicht linear
Autobahn-Denken Bergweg-Denken

Autobahn oder Bergweg? Linearität oder Nichtlinearität? Eindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit? Widerspruchsfreiheit oder Widersprüchlichkeit? Das sind andere Bilder, andere Weltsichten, andere Strategien. Man könnte auch sagen, es sind die gegensätzlichen Pole einer spannenden Entdeckungsreise, eines Übergangs von einer alten Welt in eine neue Welt. Diese Reise ist nicht immer gemütlich. Deshalb brauchen wir eher ein »Offroad-Denken« als ein Autobahn-Denken. Disruptive Thinking ist Offroad-Denken.

Viele von uns haben in den vergangenen Jahren wohl ein paar Male von der »VUCA-World« gehört: vulnerable, uncertain, complex, ambiguous. Das klang irgendwie interessant, aber doch etwas weit weg und vielleicht zu abstrakt. Die Rede vom Klimawandel war da schon fassbarer. Da konnte man leichter kausale Beziehungen von Ursache und Wirkung diagnostizieren. Es war deshalb auch einfacher, Handlungsempfehlungen auszusprechen. Mit der VUCA-World ist das eine andere Sache. Sie ist nicht so anschaulich, und es ist recht unklar, was sich daraus ergibt. »Wenn Sie glauben, Sie wüssten, was Sie in der Zukunft erwartet, dann irren Sie«, erklärte der Anfang 2017 verstorbene große polnische Soziologe Zygmunt Bauman.

Der Battleground und die »order of magnitude«

Wir haben bereits vom Battleground gesprochen. So wird nicht nur in manchen amerikanischen Hightech-Firmen geredet. So lautet auch eine Serie von Pay-per-View-Events der an der New York Stock Exchange notierten World Wrestling Entertainment. Wettbewerb und Wettkampf liegen manchmal dicht beieinander.

Viele Manager aus Übersee sind in einem Milieu aufgewachsen, das stark von der Game Industry geprägt ist. Sie kennen sich aus in Strategiespielen, sie haben im Basketball, im Football, in der Army oder eben beim Wrestling gelernt, dass man nur als Sieger vom Platz gehen sollte. Diese Einstellung gehört ebenso wie der große Optimismus zur kulturellen DNA der amerikanischen Nation. Win-win-Situationen sind ganz schön, aber nicht im Sport, nicht in der Unterhaltungsindustrie, nicht in der Politik und nicht im Business, erst recht nicht im digitalen Business. Winner takes all. Das ist gnadenlos. Das hat jeder gelernt. Du kannst spielerisch sein, freundlich sein, charmant sein und viel Spaß haben. Aber du musst gewinnen. Am besten triumphal. Du kannst als Angreifer von ganz unten kommen, du kannst zwischendurch geschlagen werden und scheitern, oft scheitern, aber am Ende musst du triumphieren. Du musst »10 times better« sein. Und wenn du das noch nicht bist, musst du noch härter arbeiten, mehr lernen, dich weiter professionalisieren. Dann kannst du es den anderen zeigen.

Natürlich solltest du deine Überlegenheit nicht zu offen zeigen, wenn du global tätig bist. Es sei denn, dass dies deine Strategie ist, wenn du damit angeben möchtest, dass du ein Kämpfer und nicht einer von denen da oben bist. Aber schon als GI haben deine comrades und du die Welt in »wir« und »sie« aufgeteilt: in die Cowboys und die Indianer. Und wie es den Indianern ergangen ist, weiß man ja.

Das gehört alles mit zum sozialen und kulturellen Kontext der digitalen Transformation, die eben mitnichten nur eine technologische ist. Auch wenn dies manche glauben, die Technologie mit Fortschritt gleichsetzen und gar nicht merken, dass sie mit ihrem Glauben die Richtung dieses Fortschritts mitbestimmen.

In amerikanischen Technologiefirmen spricht man manchmal auch von den »Four Horsemen«, die auf dem Battleground der digitalen Transformation als Dominatoren, als beherrschende Akteure gesehen werden. Der Marketingprofessor Scott Galloway hat diese Bezeichnung eingeführt. Auch hier lässt die Game Industry grüßen. Und natürlich ist auch das spielerisch gemeint. Jedermann weiß, dass die apokalyptischen Reiter nach der biblischen Offenbarung erst am Ende der Geschichte erscheinen sollen. Aber nun werden sie in die Gegenwart projiziert. Schon jetzt haben sie hier ihre Herrschaft errichtet. Wer sind die vier? Es sind Google, Apple, Facebook und Amazon. Ihnen wird eine besondere Macht zugeschrieben. Die Namen mögen sich ändern. Mancher mag insgeheim noch die chinesischen Herausforderer Alibaba oder Tencent dazurechnen. Oder sich fragen, ob Microsoft vielleicht auch noch Erwähnung finden sollte, wenn es um Marktmacht und Börsenwert geht. Oder vielleicht schon Uber? Aber das sind hier nur Nebenaspekte. Es geht um Größe, Macht, Herrschaft. Und um die Furcht, die sie einflößen – oder zumindest Ehrfurcht. Und das ist ein nicht unerheblicher Teil der Geschichte der Disruption bzw. der »Story behind«, wie man so schön sagt. Mit der Story wird gerechnet. Sie gehört zur Vision – nicht nur der Großen, sondern auch ihrer kleinen Herausforderer: Mach es »10 times better, 10 times faster and 10 times bigger«. Das ist die Devise.

Ursprünglich war »10 times better« eine Idee von Steve Jobs; heute ist sie eines der Innovationsprinzipien von Google alias Alphabet. Larry Page hat es seinen Mitarbeitern als »order of magnitude« eingeprägt: »Larry Page lives by the gospel of 10 ׫, so das Internetmagazin Wired. »10 × can light a fire in hearts, and it’s hard not to get excited and think that other, seemingly impossible things might also be possible«, so Astro Teller, der Mitbegründer des »Solve for X«-Events (das Entwickler und Erfinder mit Zukunftsideen unterstützt) und Leiter der »Google X Laboratories«, gegründet »for building moonshot ideas that can be brought to reality through science and technology – including Google Glass and self-driving cars«.

 

Übrigens ist sich keiner der vier Horsemen hundertprozentig sicher, ob und wie lange seine beherrschende Macht andauert. Das ist Teil des disruptiven Spiels und das gehört mit zum Nichtwissen. Man beäugt sich gegenseitig. Kann Apple in den nächsten Jahren noch etwas aus dem Hut zaubern? Wird Alphabet mit seinen Moonshots irgendwann richtig Geld verdienen? Wird die Strategie von Mark Zuckerberg in Indien aufgehen? Wer von den Herausforderern hat das Zeug dazu, den anderen ein Bein zu stellen? Doch gerade weil es diese Unsicherheit gibt, wird so unnachgiebig an der Vergrößerung der Macht gearbeitet. Und gerade deshalb wird das Streben nach einer Monopolstellung nicht als anrüchig empfunden. Ganz im Gegenteil. Das ist der Sinn des Spiels.

Peter Thiel, einer der Gründer von PayPal und manchmal einer der klügsten Köpfe des Silicon Valley, trat vor seine Studenten und erklärte ihnen, dass sie sich zweimal überlegen sollten, ob sie in irgendeiner Traditionsfirma arbeiten wollen, die sich noch im traditionellen Wettbewerb befindet. Wettbewerb sei eigentlich eine eher schlechte Idee. Man behindere sich gegenseitig, die Margen seien schlecht, folglich meist auch die Arbeitsbedingungen. Sie sollten sich etwas anderes, Besseres einfallen lassen: Gründet Unternehmen oder geht in Unternehmen, die mithilfe der digitalen Technologie und guter Planung richtig dynamisch und gigantisch wachsen. Bildet Monopole, »start small and monopolize«, das ist sein Rat an die Studenten, die die Welt erobern wollen. Als Entrepreneure, versteht sich.