Frau ohne Welt. Teil 3: Der Krieg gegen die Zukunft

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Die nackte Lüge

Die Sensation des Jahres 1977 waren die so genannten Peep-Shows, die allerdings nicht überall zugelassen wurden, die Stadt Köln beispielsweise erteilte keine Genehmigung. München schon. Da gab es 1976 die erste, in Hamburg gab es zeitweise sieben. 1982 waren Peep-Shows soweit normalisiert, dass es passend dazu den Trallala-Schlager der Spider Murphy Gang gab Ich schau dich an – Peep, Peep. Im gleichen Jahr erging jedoch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, das solche Shows verurteilte, weil sie gegen die guten Sitten verstießen.

Was gab es da zu sehen? Echte Nackte wurden in künstliche Nackte umgewandelt, die natürliche Nacktheit, wie man sie etwa von FKK-Ständen kannte, wurde in einen Zusammenhang gestellt, in dem sie eine neue Wertigkeit erhielt. Frauen mutierten nach Münzeinwurf zu dreidimensionalen Bildern, zu »bewegten Bildern«, wie man in der Stummfilm-Zeit gesagt hätte; sie wurden zu Zwischenwesen im flirrenden Grenzbereich zwischen Menschen und bloßen Abbildungen von Menschen. In den zumeist in Orange gehalten Kabinen – »Nur einzeln eintreten« – boten sich beim Einwurf von 1,- DM Modelle in einem sensationellen Preis-Leistungs-Verhältnis dar. Die Girls zeigten »alles«, wie es reißerisch hieß, was mehr war, als in einem Schulmädchenreport gezeigt wurde, die Show lief »Non Stop«. Im Preis konnte man kaum weiter runtergehen. Es war der Höhepunkt einer Welle, zugleich der Ausverkauf. Aufregung und Gleichgültigkeit lagen direkt nebeneinander.

Non Stop ist nicht die Ewigkeit. Doch die Formel erinnert daran. Liebe will Dauer, sie will den zauberhaften Rausch des Verweile-doch-Gefühls. Bei einer geglückten Liebe ist man überrumpelt, man ist Teil eines Gesamtgefühls, das größer ist als das Fassungsvermögen eines einzelnen Menschen, weil es die Möglichkeit von einem Kind enthält und man dadurch von einem Hauch von Unsterblichkeit angeweht wird, so dass man meint, einen winzigen Anteil an der Unendlichkeit zu erhaschen.

Was konnte einem dagegen eine Non-Stop-Show bieten, die nur Sex, Sex, Sex aber keine Liebe versprach? Sex würde es auch nur in kleiner Dosis geben, die sofort als Überdosis wirken würde, als intensives Gefühl, das 100 Sekunden dauerte. Dann war Schluss. Man konnte nachwerfen, dann währte es noch einmal 100 Sekunden, war aber nicht mehr so intensiv und ohne Überraschungseffekt.

Der Betrachter war einer intimen Begegnung so nah, wie das bisher nicht möglich war und gleichzeitig weit von Berührungen und Küssen entfernt. Ihm wurde Zugang zu einem Teil gewährt, das Ganze jedoch verweigert. Der Betrachter befand sich in einer Kabine wie in einem Sciencefiction-Film, bei dem man in so eine Kabine tritt, um eine Zeitreise zu starten. Er hatte keinerlei Gemeinsamkeit mit den Nackten im Paralleluniversum. Die Räume waren streng getrennt, die Zeit verrann, der Countdown lief. Die beiden hatten den Weg, der zu einer vertrauten Nähe führt, nicht mehr persönlich und auch nicht gemeinsam zurückgelegt. Sie waren angekommen, ehe sie aufgebrochen waren. Aus so einer Begegnung würde keine Liebe folgen. Es war Sex pur. Es stimmte vorne und hinten nicht. Die Voraussetzungen waren falsch, und es gab keine Folgen. Die Intimität hatte kein Vorher und kein Nachher, sie war echt und unecht zugleich.

Es war eine neuartige Nacktheit. Sie kam unvermittelt. Raymond Chandler, der bekannt dafür ist, besonders kunstvoll ausformulierte Krimis zu schreiben, nutzt als Stilmittel gerne den Effekt der plötzlich hereinbrechenden Gewalt – »bring the man with the gun« –, um einen Schockeffekt zu erzielen. »Schockierend« war ein beliebtes Modewort der späten Sechziger, Orange galt als Schockfarbe. In Pornofilmen gehört der unvermittelte Schnitt – als täte sich jäh ein Abgrund auf – zur gängigen Dramaturgie, das Fehlen jeglicher Nuancen gehört zum Wesensmerkmal solcher Filme, zum Schockeffekt: eine Hausfrau bittet einen Handwerker in die Wohnung – Schnitt –, schon sie nur noch mit Strapsen bekleidet und beide sind mitten im Geschlechtsakt.

Mir kam das vor wie ein falscher Gebrauch von Starthilfekabeln. Solche Kabel wurden damals noch häufig gebraucht: Sie wurden mit Klammern an die Batterie des einen Autos angeschlossen, dann an die Batterie des anderen Autos, das so mit Energie versorgt wurde. Wenn man die Kabel nicht an dem zweiten Auto anbrachte, sondern gegeneinanderhielt, entstand ein Kurzschluss, der sich an einem Funkenflug entlud. Eine Energieübertragung fand nicht statt. Das zweite Auto kam nicht in Fahrt.

So wirkte die unvermittelte Nacktheit: Der Betrachter wurde ruckartig mit einer intimen Situation konfrontiert, als wäre es ein Kommunikationsangebot, doch es war nicht dazu gedacht, eine Verbindung – eine Energieübertragung – herzustellen. Es war kein echtes Entgegenkommen, es sah nur so aus. Es war ein falsches Signal wie bei einer Baustelle, wenn ein Verkehrslicht freie Fahrt signalisiert, die Strecke aber weiterhin gesperrt bleibt. Die Begegnung war folgenlos und banal, sie erinnerte nur noch vage daran, dass zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen weit reichende Bedeutungen damit verbunden waren, die nun alle fehlten.

Zu Zeiten des Vormärz wurden in einigen Städten verbotene Bücher der jungdeutschen Bewegung unter der Bevölkerung verteilt. Das bekannteste und umstrittenste war Wally, die Zweiflerin von Karl Gutzkow, ein gotteslästerliches Buch, ein »unsittlicher Anschlag auf die Religion«, wie es von Kritikern genannt wurde. Die tragische Heldin Wally kann den Mann, den sie liebt, nicht heiraten, sie ist für eine Konvenienz Ehe vorgesehen. In ihrer Verzweiflung begeht sie Selbstmord. Der Skandal der Geschichte ist vergleichbar mit dem, den einst die Leiden des jungen Werther von Goethe losgetreten hatten – auch bei Gutzkow geht es um die Grundsatzfrage, ob ein Selbstmord gerechtfertigt sein kann und ob die Liebe immer der Leitstern für alle Handlungen sein muss.

Es gab eine für damalige Verhältnisse geradezu unvorstellbare Szene: Wally zeigt sich dem Mann, den sie liebt, aber nicht heiraten kann, vollständig nackt und verbindet sich dadurch mit ihm wie in einer biblischen Szene, indem sie durch ihre ungeschützte Blöße symbolisch eine intime Beziehung mit ihm eingeht, selbst wenn die lediglich in dieser einen flüchtigen Begegnung liegt, bei der ihr Geliebter sie so sehen kann wie sonst niemand.

Zwischen der verzweifelten Nacktheit von Wally und der von den Modellen auf einem Peep-Show-Karussell, die nur noch in ein Gewand aus Popmusik gehüllt sind, liegt mehr als ein Jahrhundert. Die neue Nacktheit hatte keine Bedeutung mehr – einen Preis, aber keinen Wert. Sie war aller Zusammenhänge entkleidet. Es fehlte nicht nur die Wäsche und die Unterwäsche, es fehlte die Möglichkeit einer Beziehung, einer Verbindung, einer Sinnstiftung. Sie hatte keine Aussage mehr, kein Versprechen, keine Tragik, sie hatte nicht einmal einen Kunstwert. Sie war Betrug. Eine Bettelei um Kleingeld: Haste mal ne Mark?

Eines der charakteristischen Modeworte der frühen siebziger Jahre, als es noch keine Bio-Läden – nur Reformhäuser – gab, war ein inflationär gebrauchtes Füllsel, mit dem das grün-alternative Lebensgefühl eingeläutet wurde: das lässige »echt«, das schnell zu seiner eigenen Parodie wurde. Zigarettenwerbung war noch selbstverständlich, da hieß es: »Für das Echte gibt es keinen Ersatz«. Es sollte echt sein. Unverfälscht. Ohne Zusatzstoffe. Die Beschwörung des Echten ging dem Gütesigel »Bio« voraus, das sich wenig später durchsetzen sollte.

Nackte Tatsachen gelten als wahr. Sandro Botticelli stellte sie um 1490 allegorisch dar: Wir sehen auf seinem Gemälde Die Verleumdung des Appelles eine nackte Frau, die mit einer Hand lässig ihre Scham bedeckt und die andere hochhält und mit ausgestrecktem Finger in den Himmel zeigt, als würde sie einen Schwur leisten. So wurde seinerzeit die »nackte Wahrheit« gesehen und auch verstanden. Sie war nicht nur unbekleidet, was bedeuten sollte, dass sie nichts zu verbergen hatte, sie verwies auch auf etwas Höheres, sie stand nicht für sich allein. Dagegen symbolisierte ein Modell in einer Peep-Show die »nackte Unwahrheit«. Wenn sich heute Femen, nackte Demonstranten von Extinction Rebellion, barbusige Radlerinnen, die für bessere Verkehrswege in die Pedale treten oder Teilnehmerinnen auf Schlampen-Paraden Sprüche auf die nackte Haut malen, dann vermittelt sie damit stets eine zusätzliche Botschaft. Auf der nackten Haut von solchen Frauen steht mit unsichtbarer Schrift geschrieben: Wer hier hinguckt, ist ein Sexist und hat sich mit seinem Blick bereits strafbar gemacht.

Wie echt sind Pornofilme? Wie wahr? Gerade bei den billigen Streifen, bei denen es keinerlei Drumherum gibt, kann man nicht sagen, dass die Darsteller einem etwas vorgaukeln. Die Darsteller geben nicht bloß vor, den Geschlechtsakt zu vollziehen – sie tun es wirklich. Trotzdem ist es nicht echt. Sie sind auch keine Darsteller im herkömmlichen Sinne, sie stellen etwas dar, indem sie es tatsächlich tun. Deshalb stellt sich auch die Frage nicht, ob sie gute, mittelmäßige oder schlechte Schauspieler sind. Sie sind gar keine. Im dekadenten Rom gab es Aufführungen, bei denen auf der Bühne jemand umgebracht wurde (die Rolle musste jedes Mal neu besetzt werden), so dass der bedauernswerte Sklave, der die Rolle zugewiesen kriegte, einen »nur gespielten«, aber zugleich »echten« Tod starb. Wie bei Pornofilmen: Sie »spielen« einerseits »nur«, sie »tun« es andererseits »wirklich«, sie begehen einen nur gespielten und gleichzeitig echten Verrat – an wem auch immer (Sie werden schon im stillen Kämmerlein ihres Gemüts wissen, an wem). Sie teilen intime Momente nicht mit Menschen, die ihnen lieb sind, sie tun es demonstrativ für ein anonymes Publikum, das ihnen gleichgültig ist oder das sie sogar verachten. Sie praktizieren ein Liebesspiel, das nicht zur Liebe führen soll, sondern für ein Publikum gedacht ist, das ausgeschlossen ist von richtiger Liebe und auch von einem Liebesspiel.

 

Das Unbehagen, das ich bei der Pornographie spüre, erlebe ich auch bei anderen Gelegenheiten, bei denen kein Unterschied gemacht wird zwischen »echt« und »nur gespielt«, zwischen »aufrichtig« und »vorgetäuscht«, etwa bei der Ausstellung »Körperwelten« von Gunther von Hagens, bekannt als Doktor Tod, bei der ich »echte« Leichen sehen kann, die gleichzeitig »nur« Ausstellungsstücke sein sollen und mit denen nicht mehr so umgegangen wird, wie man normalerweise mit Toten umgeht. Wenn wir aber nicht zwischen den verschiedenen Sphären unterscheiden, dann kommt es auch nicht darauf an, ob jemand wirklich eine Frau »ist« oder nur eine »spielt«, dann sind Wesen und Erscheinung deckungsgleich, die Form wird dann zum Inhalt.

Robert Merle hatte lange vor Ronald Reagan in einem Science-Fiction-Roman vorausgesehen, dass in Amerika eines Tages ein Schauspieler Präsident werden würde. Seit John F. Kennedy hatte sich eine Entwicklung in diese Richtung angedeutet: die Grenzen zwischen echt und gespielt wurden dünner. Schon die Bezeichnung »Atomtests« war irreführend; denn solche Tests waren nicht etwa Versuche, bei denen etwas ausprobiert wurde, so wie man eine Testfahrt mit einem Auto unternimmt, um zu sehen, ob man es kaufen will oder nicht. Atomtests waren Ernstfälle, die schwere Schäden anrichteten. Man durfte sich nicht täuschen: Man konnte auch bei einer Probefahrt einen Unfall haben. Verletzungen, die man sich dabei zuziehen würde, wären nicht weniger schmerzhaft, weil es nur eine Probefahrt war. Das Handbuch der Extinction Rebellion heißt ausdrücklich This Is Not a Drill: dies ist keine Übung, es gilt.

Als meine Tochter etwa acht war, von einer Tyrannosaurus Rex-Ausstellung hörte und nicht sicher war, ob diese Urviecher wirklich ausgestorben waren, fragte sie sicherheitshalber nach, ob die Saurier »in echt« wären oder »mit Batterie«. Diese – zugegeben – vorläufige Einteilung nutze ich immer noch. Bei vielen Erscheinungen habe ich den Eindruck, dass sie gar nicht »in echt« sind, sondern nur »mit Batterie«.

Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose

Wir versuchen, so gut es geht, Distanz zu signalisieren, wenn wir Abstand halten wollen – es geht nicht immer gut. Für viele war die Deutsche Demokratische Republik nicht echt, nicht gültig; manche taten so, als gäbe es sie gar nicht. Sie war nur eine sich fälschlicherweise selbst so bezeichnende »Demokratie«, deshalb wurde DDR bei der Bild-Zeitung in Anführungsstriche gesetzt. Solche Gänsefüße, wie Jean-Paul sie nannte, waren schon im Dritten Reich als ironisierende Anführungsstriche ein verbreitetes propagandistisches Stilmittel. Victor Klemperer erklärt das ausführlich in seinen Tagebüchern und Untersuchungen zur LTI Lingua Tertii Imperii, der Sprache des Dritten Reiches: jüdische »Rechtsanwälte« wurden durch solche Anführungszeichen heruntergestuft zu so genannten Rechtsanwälten; sie waren also keine wirklichen Anwälte, sie wurden nur so genannt.

Heute schreibt man »besorgte Bürger« in Anführungsstrichen, um deutlich zu machen, dass man ihnen die Sorgen nicht abnimmt. Die Tüttelchen sind inzwischen wieder inflationär verbreitet, sie werden sogar pantomimisch eingesetzt, als hätten unsere Gespräche neuerdings Untertitel, die man durch nervöse Fingerzeichen ergänzen muss, um anzuzeigen, dass alles gar nicht so gemeint ist. Wir reden wie listige Kinder mit schlechtem Gewissen, die hinter dem Rücken die Finger kreuzen.

Im Jahr 2012 wurde im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung eine Studie erstellt, in der die so genannte antifeministische Männerrechtsbewegung untersucht und als besonders gefährlich präsentiert wird. Diese »Studie« (um auch mal solche Zeichen zu verwenden) ist wissenschaftlich ohne jeden Wert, sie wurde nichtsdestoweniger durch den Lehrstuhl für Soziologie, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, den Ilse Lenz innehatte, abgesegnet. Wir erfahren nicht, was es mit diesen Männerrechtlern tatsächlich auf sich hat, wir lernen aber, welche Vorwürfe man ihnen macht: Sie denken essentialistisch, also wesentlich. Hinrich Rosenbrock, der Verfasser dieser »Studie«, tut so, als wäre es neuerdings verboten, wesentlich zu sein und als hätte er da einen Verein entdeckt, der sich das berühmte Zitat von Angelus Silesius – »Mensch werde wesentlich« – in die Satzung geschrieben hat. Rosenbrock zeigt auf, dass die von ihm untersuchten Männer ihr Weltbild »essentialistisch« begründen und dass sie »essentialistische Geschlechtsvorstellungen« teilen, sie lassen auch einen »essentialistischen Geschlechterdualismus« erkennen oder sogar »essentialistische Familienvorstellungen«. »Essentialistisch« kommt dermaßen oft vor, dass man den Text gut als Sprachübung für Leute mit einem S-Fehler nutzen könnte. Man fragt sich allerdings, was so »gefährlich« daran sein soll, wenn jemand wesentlich sein will. Das wird nicht zur Diskussion gestellt, es ist vorausgesetzt. Selbstreflexion darf man bei so einer »Studie« nicht erwarten; der theoretische Tiefgang entspricht dem künstlerischen Niveau, das für Bilder gilt, die nach der Methode »Malen nach Zahlen« gefertigt werden.

Warum aber wird ein Essentialismus abgelehnt? Weil jemand, der wesentlich sein will, nicht so leicht davon zu überzeugen ist, dass eine Geschlechterrolle ausschließlich sozial konstruiert ist. Genau das sollen wir aber glauben. Es ist ein zentrales Gebot des Gender-Mainstreaming, das sich so radikal auf soziale Einflüsse verengt, dass alles, was nicht dazugehört; also alles, was zum Wesen, zur Biologie und zur Geschichte eines Menschen gehört, ausgeblendet und ignoriert wird, als existierte es nicht.

Als er noch Markus Ganserer hieß und sich für einen Sitz für die Grünen im Bayrischen Landtag bewarb, war er Vater zweier Kinder und stellte sich »vehement gegen Eingriffe in die Natur«. Ein Naturbursche, ein echter Kerl. Dann wurde gemeldet, dass er sowohl als Mann als auch als Frau lebte. Privat wollte er seine weibliche Identität pflegen, im Landtag aber weiterhin als Mann auftreten und sich für die Rechte von Transgender-Menschen einsetzen. »Es braucht mehr Sichtbarkeit für das Thema und eine breitere Akzeptanz«, meinte er. Nun nennt er sich Tessa Ganserer und verkündete Anfang des Jahres, dass er zukünftig »ausschließlich als Frau« leben und auch bei der politischen Arbeit entsprechend auftreten wolle: »Ich bin Frau, mit jeder Faser meines Körpers. Nun auch Frau Landtagsabgeordnete«.

Er ist der erste Transsexuelle in einem deutschen Landesparlament und wird von einer Woge der Zustimmung getragen. Nur wenige sind noch irritiert, wie ein FDP-Abgeordneter, der Ganserer als »Dragqueen« bezeichnete. Tessa Ganserer, formerly known as Markus Ganserer, wies das sogleich zurück und erklärte, dass das eine Beleidigung sei. »Ich verkleide mich nicht«, stellte der ehemals männliche Abgeordnete fest, der gerade eine Seidenbluse und eine Perücke trug, und fügte kulant hinzu. »Ich bin nicht nachtragend. Das kriegen wir schon hin«.

Es hätte mir auch passieren können. Ich habe schon einige Dragshows gesehen, die, wie ich zu meiner Überraschung bemerkt habe, ausgerechnet in der Südsee besonders beliebt sind. Ich hatte mich meistens gut amüsiert. Mir war sofort klar, dass es nicht etwa Frauen »in echt« sind, sondern welche »mit Batterie«. Doch der Spaß ist vorbei. Daher sollte ich auch nicht mehr so darüber reden. Es gibt schon Fälle, in denen harte Strafen verhängt werden, wenn jemand »mis-gendert«, also eine falsche Bezeichnung für eine Trans-Person verwendet. Welche ist richtig? Das ist nicht klar. Klar ist nur, dass man es leicht falsch machen kann.

Gewünscht und mancherorts bereits vorgeschrieben ist der Gebrauch des Gender-Sternchens oder die Verwendung von als neutral geltenden Formen wie »Elter 1 und 2« statt »Vater« und »Mutter«, damit Rücksicht genommen wird auf alle, die sich unwohl fühlen könnten, wenn sie daran erinnert werden, dass sie nicht wie normale Väter und Mütter sind. Bisher haben wir noch wenige prominente Fälle von Transmenschen, die uns in ihre Probleme mit ihrer Identitätsfindung hineinziehen wollen. Eine Freundin von mir sah eines Morgens so übernächtigt aus, dass sie sich nicht unter Leute traute, es sei denn, so sagte sie, ich würde vorangehen und an alle, die ihr entgegenkommen, Sonnenbrillen verteilen, so dass man sie nur durch getönte Gläser sehen könnte. Es war ein Scherz. Trans-Personen machen keine Scherze. Sie wollen uns vorschreiben, wie wir sie sehen und ansprechen sollen. Wenden wir uns Lann (geborene Antje) Hornscheidt zu. Hornscheidt betrachtet sich selbst als »neutrois«, als »entzweigendernd« und möchte, dass wir ihr neues Selbstverständnis übernehmen und sie nicht mehr mit den Pronomen, die wir üblicherweise verwenden, ansprechen. Hornscheidt bittet ausdrücklich darum, »respektvolle Anreden, die nicht Zweigeschlechtlichkeit aufrufen« zu verwenden und »zweigendernde Ansprachen wie ›Herr‹, ›Frau‹, ›Lieber‹, oder ›Liebe‹ « bei einem Kontakt zu meiden.

Wir sollen nicht einmal den akademischen Titel erwähnen, den sie einst erworben … Oh, schon falsch: »sie« ist unerwünscht … kurz: wir sollen »Professx« (ausgesprochen: Professiks) sagen oder »Profex Drex«, im privaten Rahmen gerne »Lann«, einfach »L« oder »pers«. Professx Hornscheidt meint, dass man, wenn man wirklich ein bewusst nicht-diskriminierendes Sprachhandeln pflegen will, am besten an jedes Subjekt ein »ex« anhängt. Man kann so ein »ex« auch als Pronomen verwenden (Warnung: keine Gewähr, dass es der neueste Stand ist).

Bei der Podiumsdiskussion im Rahmen des Evangelischen Kirchentages unter dem Motto »Für eine sanfte Revolution der Sprache«, bei der es um »einladende Impulse für die Genderdebatte« gehen sollte, durfte ich gegen vier Befürworterinnen und Befürworter der gerechten Sprache mein zartes Stimmchen erheben und saß direkt neben René_Hornstein, als »Vorstand Bundesverband Trans*« angekündigt, der so wie Professx Hornscheidt ebenfalls nicht mit »er« oder »sie« angesprochen werden wollte. Das machte es mir nicht leicht. Er (wie ich jetzt einfach mal sage) war halbseitig rasiert und machte den Vorschlag, dass man seine Kreativität nutzen möge, um eine passende Ansprache zu finden; manche würden ihn einfach »Chérie« nennen. Das ist jedoch kein Pronomen. Dummerweise ist es mir – so wie hier auch – immer wieder unterlaufen, dass ich doch ein »er« oder »ihn« verwendet habe, obwohl ich das nicht mehr tun sollte. Chérie, wie manche zu diesem Menschenwesen sagen, zuckte jedes Mal zusammen, als hätte ich diesem Wesen etwas angetan. Ich wurde aber nicht bestraft.

Im englischen Sprachraum hätte mir das passieren können, da wurden neue Pronomen wie »ze«, »con« und »thon« eingeführt. Zwar gibt es noch keine verbindliche Festlegung, welche davon bei welcher Gelegenheit zum Einsatz kommen sollen, doch es gibt schon Strafen, wenn man es falsch macht. In New York müssen Arbeitgeber, Ärzte oder Vermieter bis zu 250 000 Dollar zahlen, wenn sie ein falsches Pronomen gebrauchen. In Virginia wurde ein Lehrer entlassen. Eine Studentin, die er bisher mit »she« angeredet hatte, wollte plötzlich lieber mit »he« angeredet werden. Das tat er nicht. Zwar übernahm er den neuen Namen, den sie sich ausgedacht hatte, weigerte sich aber, das Pronomen, das er bisher genutzt hatte, zu ändern. Peter Vlaming war Sprachlehrer. Er ist es nicht mehr.

Es handelt sich keinesfalls um Kleinigkeiten – es sind auch gerade die kleinen Dinge, die uns so unwichtig erscheinen, dass wir ihretwegen nicht streiten mögen, die genutzt werden, um unser Ordnungssystem aus den Angeln zu heben. Kleine Dinge sind nicht klein. Wenn wir mit einer elementaren Kategorisierung wie »er«, »sie« und »es« nicht mehr unbefangen umgehen können und sie nicht mehr so nutzen können, wie wir es bisher getan haben, dann sind wir elementar verunsichert. Wenn wir darin eine moralische Frage von elementarer Bedeutung sehen, dann ist unser Moralempfinden elementar gestört.

Jordan Peterson wurde als »professor against political correctness« bekannt, weil er angekündigt hatte, keine gesetzlich verordneten Pronomen für Transgender-Personen zu verwenden. Sein Einwand, dass er sich die vielen neuen Pronomen, die sich jeder selbst ausdenken darf – darunter so originelle wie »wormself«, also »Wurmselbst« – nicht erahnen und sich auch nicht merken könne, wurde weggewischt mit dem Hinweis, er solle sie auf seinem Handy notieren. Als er erklärte, dass er das nicht tun wolle, wurde ihm vorgeworfen, dass er faul sei. Mehr noch: homophob, ein Menschenfeind. Peterson blieb beim Nein. Bei einer Verurteilung würde er keine Geldstrafen akzeptieren und wenn er ins Gefängnis müsste, in den Hungerstreik treten. In Kanada ist die Rechtsprechung besonders streng, da wird nicht nur die große, da wird gleich die größtmögliche Keule geschwungen. Das Gesetz Bill C 16 sieht vor, dass Mis-gendern nicht etwa als Kavaliersdelikt oder Unhöflichkeit gilt, sondern als Menschenrechtsverletzung. Man wird vor ein Menschenrechtstribunal – ein human rights tribunal – zitiert wie einst bei kommunistischen Schauprozessen. Es drohen existenzvernichtende Strafen. So ist es auch für Deutschland vorgesehen. Tessa Ganserer ist darauf vorbereitet: »Ich werde es auf keinen Fall akzeptieren, wenn jemand absichtlich das falsche Pronomen verwendet – oder mich mit ‚Herr‹ anspricht«.

 

Die Presse steht ungebrochen auf seiner Seite (oder muss es »ihrer« Seite heißen?). Ganserer wird uns in den verschiedenen Darstellungen, die durchgehend wohlwollend sind, als »echte Frau« oder »ganz normale Frau« dargestellt. Ohne Anführungsstriche. Alle machen mit. Wir sollen es auch tun. Wir sollen alte Vorstellungen abstreifen, als könnten wir das einfach so tun. Szenen wie aus dem Raum 101 im Roman 1984 haben wir hinter uns. Da werden dem Helden vier Finger gezeigt und er wird gefragt, wie viele er sieht: Ihm wurde beigebracht, fünf Finger zu sehen. Also sieht er fünf und sagt es laut: Es sind fünf Finger. So sollen auch wir uns belügen und mit Überzeugung sagen: Ja, da ist eine Frau, eine ganz normale Frau.

Da ist womöglich noch eine verzagte innere Stimme, die leise Einspruch erhebt: Ich erkenne da einen Mann in Frauenkleidern. Diese Stimme müssen wir abwürgen. Wir sollen uns sagen: Ich sehe ein, dass mich diese Stimme belügen will. Es ist eine echte Frau. Wenn ich kurzzeitig gemeint habe, da einen Mann zu erkennen, dann nicht etwa, weil ich einer optischen Täuschung erlegen bin, sondern weil da noch ein Restbestand von Irrtum vorliegt, der ausgemerzt werden muss. Es ist ganz allein mein Problem. Ich muss diese Schwäche überwinden, damit ich in dieser Gesellschaft weiterhin als jemand, der dazugehört, unbehelligt leben kann. Alle werden mir zu meiner toleranten Haltung gratulieren. Leute wie Hunt und Peterson sind isolierte Einzelgänger. In ihrem Kollegenkreis hatte niemand zu ihnen gehalten. Sie sind Sonderlinge, die man nicht länger dulden sollte.

Gibt es wirklich niemanden, der es wagt zu widersprechen? Doch. Vielleicht wird es bald schon jemanden geben. In den neuen Lehrmaterialien für einen »Sexualkundeunterricht der Vielfalt« wird bereits Zehnjährigen erklärt, was eine Dragqueen ist. Vielleicht traut sich eines Tages ein braver Schüler, sein neu erworbenes Wissen kundzutun, seine Stimme zu erheben – wie das Kind in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, das mit der Bemerkung »Aber der König ist ja nackt« das aussprach, was niemand zu sagen wagte – und laut zu verkünden: »Und er verkleidet sich doch. Das habe ich so in der Schule gelernt.«

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