b) Überstaatlich anerkannte Gewährleistungen des Demokratieprinzips
511
Ausgehend von den nationalen Verfassungstraditionen hat sich ein gemeinsamer Minimalkonsens entwickelt. Gewisse Gewährleistungen der Demokratie sind somit von allen Mitgliedstaaten anerkannt und in internationalen Verträgen festgehalten. So sind nach Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur
→ Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)
alle Vertragsparteien der EMRK – und damit auch alle Mitgliedstaaten der EU – dazu verpflichtet, „in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten“. Ähnliches besagt Art. 21 Abs. 3 der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
(1948), wonach der Wille des Volkes „die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt“ bildet und dieser Wille „durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wahlverfahren“ zum Ausdruck kommen muss. Auch Art. 25 Buchst. b) IPbpR garantiert jedem Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht bei „echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist“. Das periodische Wahlrecht zu den repräsentativen Körperschaften stellt somit einen wesentlichen, allgemein anerkannten Aspekt des Demokratieprinzips dar.
512
Im Kopenhagener Abschlussdokument des Treffens über die menschliche Dimension der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) – Vorgängerin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE; dazu
→ Internationale Kooperationspartner
) – im Jahr 1990 wird das Erfordernis freier, geheimer und fairer Wahlen in angemessenen Zeitabständen ebenfalls proklamiert. Überdies werden dort weitere Kernaspekte des Demokratieprinzips festgehalten. Dabei handelt es sich u.a. um eine repräsentative Regierungsform, das Recht auf die Gründung politischer Parteien, den Minderheitenschutz, die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung sowie das Bestehen demokratischer Grundrechte wie der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit.
2. Unionsrechtliches Demokratieverständnis
513
Das Demokratieverständnis der EU geht auf das der Mitgliedstaaten zurück. Der Grund für das Vorhandensein einer demokratischen Komponente in der Europäischen Union besteht darin, dass die Union mit ihrer Rechtsetzungsgewalt auch Rechte der EU-Bürger einzuschränken in der Lage ist. Nach geläutertem Demokratieverständnis ist dies allerdings nur durch demokratisch legitimierte Organe möglich. Die in den Mitgliedstaaten wurzelnde Demokratieidee ergibt sich bereits aus
Art. 2 EUV
, wonach die Demokratie einen Wert darstellt, der allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist. Nichtsdestotrotz bestehen auch zwischen den Mitgliedstaaten Unterschiede in Bezug auf die konkreten Ausgestaltungen des Prinzips. Insofern ist stets von einem modifizierten unionsrechtlichen Demokratieprinzip auszugehen.
Art. 9 EUV
normiert dazu zunächst die Gleichheit aller Unionsbürger sowie die
→ Unionsbürgerschaft
. Dieser Artikel, der als redaktionell und systematisch misslungen kritisiert wird, hebt den bürgerschaftlichen Aspekt des Demokratieprinzips hervor. Bedeutung gewinnt er insbesondere in der Zusammenschau mit Art. 10 und
Art. 11 EUV
.
a) Grundsatz der repräsentativen Demokratie
514
Die Kernbestimmung zum unionsrechtlichen Demokratieverständnis bildet
Art. 10 Abs. 1 EUV
, der den Grundsatz der repräsentativen Demokratie festhält. Danach wird die Herrschaftsmacht innerhalb der Union – wie grundsätzlich auch in den Mitgliedstaaten – nicht direkt durch die Unionsbürger, sondern durch von ihnen bestimmte und somit demokratisch legimitierte Repräsentanten ausgeübt. Demnach muss grundsätzlich jedes Handeln der EU vom Willen der Unionsbürger getragen sein.
Art. 10 Abs. 2 EUV
konkretisiert diesen Grundsatz speziell für die EU dahingehend, dass die Unionsbürger „auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“ sind (
Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1 EUV
). Darüber hinaus werden die Mitgliedstaaten „im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen“ (
Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV
). Die EU beruht somit auf einem sog.
doppelten Legitimationsstrang
.
515
Demokratische Legitimation wird hier zunächst durch die Wahl zum
→ Europäischen Parlament
als Repräsentationsorgan der Unionsbürger gewährleistet (s. a.
→ Europäisches Parlament: Wahlrecht
). Ausformungen dieses Legitimationsstrangs bilden u.a. das aktive und passive Wahlrecht der Unionsbürger bei den Wahlen für das Europäische Parlament (
Art. 22 Abs. 2 AEUV
), das Wahlverfahrensrecht (
Art. 223 Abs. 1 AEUV
) und die Wahlrechtsgrundsätze des
Art. 14 Abs. 3 EUV
, wonach die Parlamentarier in „allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt“ werden. Daneben vermittelt die demokratische Rückbindung der im
→ Europäischen Rat
und im
→ Rat (Ministerrat)
vertretenen Regierungsmitglieder an die jeweiligen nationalen Parlamente einen zweiten Legitimationsstrang (zur Tragfähigkeit der demokratischen Legitimation s.
Rn. 520
–524). Der Einfluss der nationalen Parlamente auf die Willensbildung innerhalb der EU wurde mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages beachtlich gestärkt (
→ Europäische Union: Geschichte
). So regelt
Art. 12 EUV
nunmehr Informationsrechte hinsichtlich Entwürfen von Gesetzgebungsakten (dazu
→ Rechtsakte
) und Anträgen für den
→ Beitritt (zur EU)
. Des Weiteren gewährleistet die Norm Mitwirkungs- und Kontrollrechte, insbesondere im Verfahren zur
→ Vertragsänderung
sowie in Bezug auf die Einhaltung des
→ Grundsatzes der Subsidiarität
und des
→ Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
. Ferner sind die nationalen Parlamente an der Bewertung der Durchführung der Unionspolitik i.R.d.
→ Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
zu beteiligen und in die politische Kontrolle des
→ Europäischen Polizeiamtes (Europol)
und in die Bewertung der Tätigkeit der
→ Einheit für justizielle Zusammenarbeit der EU (Eurojust)
einzubeziehen.
b) Teilhaberechte der Unionsbürger
516
Art. 10 Abs. 3 S. 1 EUV gewährleistet den Unionsbürgern das Recht, „am demokratischen Leben der Union teilzunehmen“. Eine Konkretisierung dieser Teilhaberechte findet sich in
Art. 24 UAbs. 2
und
Art. 227 AEUV
in Form des Petitionsrechts sowie in
Art. 24 UAbs. 3
und
Art. 228 AEUV
in Form des Beschwerderechts zum Bürgerbeauftragten. Ferner hat jeder Unionsbürger nach
Art. 24 UAbs. 4 AEUV
ein Fragerecht gegenüber den
→ Organen und Einrichtungen
der EU.
517
Mit
Art. 11 EUV
sind weitere Teilhabemöglichkeiten hinzugetreten. So enthält
Art. 11 Abs. 1 EUV
das Gebot, den Unionsbürgern und repräsentativen Verbänden die Möglichkeit zu bieten, ihre Ansichten in „allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen“. Nach
Art. 11 Abs. 3 EUV
hat die
→ Europäische Kommission
Betroffenenanhörungen durchzuführen. In gleichem Sinne sieht
Art. 11 Abs. 2 EUV
den „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft“ vor.
Art. 10 Abs. 3
und
Art. 11 EUV
weisen somit Elemente partizipativer und assoziativer Demokratie auf. Hervorzuheben ist auch
Art. 11 Abs. 4 EUV
, der die
→ Bürgerinitiative
als Element direkter Demokratie auf Unionsebene einführt. Wie auf nationaler Ebene stellen Formen direkter Demokratie auch in der EU die Ausnahme dar.
c) Offenheit und Bürgernähe
518
Art. 10 Abs. 3 S. 2 EUV legt fest, dass Entscheidungen auf EU-Ebene „so offen und bürgernah wie möglich getroffen“ werden. Dem Erfordernis möglichst bürgernaher Entscheidungen dient insbesondere der Grundsatz der Subsidiarität. Danach darf die EU in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur dann tätig werden, wenn die dortigen Ziele durch Maßnahmen auf Unionsebene „besser“ zu verwirklichen sind (vgl.
Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV
). Vorrangig sollen Entscheidungen somit auf Ebene der Mitgliedstaaten getroffen werden. Dies dient dem Schutz nationaler Identitäten, ermöglicht aber auch mehr Partizipation und effizientere Lösungen (dazu ausführlich
→ Grundsatz der Subsidiarität
).
519
Mit der Offenheit der Entscheidungen wird ferner das Transparenzgebot angedeutet, welches u.a. in
Art. 11 Abs. 2 EUV
erwähnt wird. Danach müssen die Entscheidungen der EU möglichst verständlich und nachvollziehbar sein, um politische Kontrolle zu ermöglichen. Dies setzt zunächst den Zugang zu Dokumenten der Organe und Einrichtungen der EU voraus (vgl.
Art. 15 Abs. 3 AEUV
). Auch sind
→ Richtlinien
und
→ Verordnungen
der EU im Amtsblatt zu veröffentlichen und mit einer Begründung zu versehen (
Art. 296 f. AEUV
). Seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages sind zudem die Sitzungen des Rates öffentlich, wenn dieser über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät und abstimmt (
Art. 16 Abs. 8 EUV
;
→ Rechtsetzungsverfahren
). Ein besonderer Aspekt der Offenheit und Bürgernähe ist zudem die Veröffentlichung der Unionstexte in sämtlichen Amtssprachen einerseits und die Kontaktaufnahmemöglichkeit der Unionsbürger mit den Organen und Einrichtungen der EU in den betreffenden Sprachen andererseits (dazu ausführlich
→ Sprachenregime der EU
).
D
›
Demokratieprinzip (Stephan Hobe)
› III. Vorwurf des Demokratiedefizits
III. Vorwurf des Demokratiedefizits
520
Seit jeher sieht sich die EU dem Vorwurf des sog.
Demokratiedefizit
s
ausgesetzt. Plakativ heißt es dabei, die Union würde am Kriterium der
Demokratie
scheitern, würde sie sich selbst beitreten wollen. Das Problem wurzelt in der Willensbildung in der EU. Es ergibt sich v.a. aus der Stellung des Rates, welcher das Hauptrechtsetzungsorgan der EU darstellt, obwohl er aus Regierungsvertretern zusammengesetzt und somit nur mittelbar demokratisch legitimiert ist. Die Position des Europäischen Parlaments wurde zwar durch den Vertrag von Lissabon – insbesondere durch die Erhebung zum Co-Gesetzgeber im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (
Art. 289
,
294 AEUV
) – gestärkt, doch kommt dem Rat nach wie vor eine wesentliche Rolle bei der Gesetzgebung zu. Insbesondere hat das Parlament weiterhin kein Gesetzesinitiativrecht (dazu
→ Rechtsetzungsverfahren
).
521
Auch die degressiv proportionale Sitzverteilung (s.
Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3
,
4 EUV
), welche zu einer Unterrepräsentation der bevölkerungsreichen und Überrepräsentation der bevölkerungsschwachen Mitgliedstaaten im Parlament führt, trägt zum Demokratiedefizit bei. Diese ungleiche Repräsentation der Unionsbürger stellt einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit dar, da der Erfolgswert der Stimmen nicht gleich ist. Allerdings gehört die Wahlrechtsgleichheit gerade nicht zu den explizit in
Art. 14 Abs. 3 EUV
genannten Wahlrechtsgrundsätzen. Auch dient das degressiv proportionale System der Wahrung des Grundsatzes der Gleichheit der Staaten (Näheres
→ Europäisches Parlament: Wahlrecht
).
522
Überdies darf die besondere Struktur der Union nicht verkannt werden. Die EU ist zwar „mehr“ als eine bloße Supranationale Organisation, doch ist sie kein Bundesstaat (
→ Europäische Union: Strukturprinzipien
). Ein dahingehender Wille ist auch nicht erkennbar. Weiterhin verfügt sie über kein eigenes Staatsvolk, das durch ein Parlament vertreten werden könnte. In einem solchen
Staatenverbund
kann demokratische Legitimation naturgemäß nicht in gleicher Weise wie in einem Bundesstaat hergestellt werden. Erforderlich ist vielmehr eine bloß
strukturangepasste Grundsatzkongruenz
, also ein demokratischer Standard, der den Besonderheiten der EU Rechnung trägt (s. auch
→ Konstitutionalisierung
).
523
So erkennt auch das BVerfG an, dass die Europäische Union, „a und soweit“ sie nur abgeleitete öffentliche Gewalt ausübe, „den Anforderungen nicht vollständig zu genügen“ brauche (BVerfGE 123, 267 – Lissabon; ähnlich BVerfGE 89, 155 – Maastricht). Das Europäische Parlament wird vom BVerfG als bloß „zusätzliche Quelle für demokratische Legitimation“ gesehen (BVerfGE 123, 267 – Lissabon). Angesicht des
→ Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung
und „solange eine ausgewogene Balance der Unionszuständigkeiten und der staatlichen Zuständigkeiten erhalten bleibt, kann und muss die Demokratie der Europäischen Union nicht staatsanalog ausgestaltet sein“ (BVerfGE 123, 267 – Lissabon).
524
Je mehr Befugnisse auf die EU übergehen, desto höhere Anforderungen sind an die demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament zu stellen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass eine Erweiterung der legislativen Macht des Parlaments auch eine Beschneidung des Grundsatzes der Subsidiarität mit sich bringen könnte. Überdies wurden mit dem Vertrag von Lissabon wichtige Schritte in diese Richtung gemacht, indem sowohl das Europäische Parlament gestärkt als auch die Beteiligung der nationalen Parlamente erweitert wurde. Zudem wird eine gewisse Kompensation des Defizits über das sog.
Prinzip der doppelt
-
qualifizierten Mehrheit
im Rat erreicht, wonach nicht nur die Stimmen von 55 % der Ratsmitglieder aus mindestens 15 Staaten, sondern zusätzlich auch von 65 % der Unionsbevölkerung erforderlich sind (
Art. 16 Abs. 4 UAbs. 1 EUV
) (Näheres
→ Rat
). Ferner könnte die demokratische Legitimation durch eine stärkere Rückbindung der Regierungsvertreter an die nationalen Parlamente gefördert werden (s. z.B. für Deutschland das
Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
, EUZBBG). Trotz der anhaltenden Kritik in Bezug auf die – gewiss ausbaufähige – demokratische Legitimation der EU ist nicht zu verkennen, dass bereits beachtliche Fortschritte erzielt wurden.
Anmerkungen
Der Autor dankt Frau
Matina Jozi
herzlich für die wertvolle Unterstützung bei der Erstellung des Beitrages.
D
› Dienstleistungsfreiheit (Michael Rafii)
Dienstleistungsfreiheit (Michael Rafii)
I.
Allgemeines
525 – 528
II.
Berechtigte und Verpflichtete
529, 530
III.
Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit
531 – 548
1.
Keine abschließende Regelung des Sachverhaltes durch Sekundärrecht
532, 533
2.
Eröffnung des Schutzbereiches der Dienstleistungsfreiheit
534 – 547
a)
Persönlicher Schutzbereich
535 – 538
b)
Sachlicher Schutzbereich
539 – 546
c)
Grenzüberschreitender Sachverhalt
547
3.
Keine Bereichsausnahme, Art. 62 i.V.m. Art. 51 UAbs. 1 AEUV
548
IV.
Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit
549 – 556
1.
Diskriminierungsverbot
550 – 552
2.
Beschränkungsverbot
553 – 555
3.
Beeinträchtigungen durch Private
556
V.
Rechtfertigung
557 – 564
1.
Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes
558 – 562
a)
Ordre-Public-Klausel
559, 560
b)
Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls
561, 562
2.
Verhältnismäßigkeit
563, 564
Lit.:
C
.
Calliess/S
.
Korte
, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011;
B
.
Leupold
, Die Dienstleistungsfreiheit der Europäischen Unionsrechte, JURA 33 (2011), 762;
E
.
Pache
, Dienstleistungsfreiheit, in: D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl. 2014, 417;
M
.
Rolshoven
, Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs, 2002.
D
›
Dienstleistungsfreiheit (Michael Rafii)
› I. Allgemeines
I. Allgemeines
525
Die Dienstleistungsfreiheit gewährleistet gemeinsam mit der
→ Niederlassungsfreiheit
umfassend die Freiheit der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung in der Europäischen Union. Die Dienstleistungsfreiheit erfasst die Konstellationen, in denen der Dienstleistungserbringer seinen Produktionsstandort nicht dauerhaft verlegen kann oder möchte. Wie auch die anderen Grundfreiheiten (
→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren
) dient sie der wirtschaftlichen Integration in der Europäischen Union (
→ Binnenmarkt
) und gehört insoweit zu den „fundamentalen Grundsätzen bzw. den „Grundprinzipien des Vertrages“ (EuGH, Urt. v. 17.12.1981, 279/80 – Webb –, Rn. 17; Urt. v. 19.1.1999, C-348/96 – Calfa –, Rn. 16). Ihre praktische Bedeutung hat in den letzten Jahrzehnten aufgrund des gestiegenen Anteils des Dienstleistungssektors an der Wirtschaftsleistung in der Europäischen Union stark zugenommen. Der Abbau von Handelshemmnissen im Dienstleistungsverkehr ist daher ein wesentlicher Faktor für die zukünftige Entwicklung der Wirtschaft in der Europäischen Union.
526
Die Dienstleistungsfreiheit ist im Titel IV des Dritten Teils des AEU-Vertrags in den
Art. 56–62 AEUV
gemeinsam mit der
→ Arbeitnehmerfreizügigkeit
, der Niederlassungsfreiheit sowie der
→ Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit
geregelt. Sie erlaubt das Anbieten und die Erbringung von Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat und den Aufenthalt in dem Mitgliedstaat zu diesem Zweck. Die Kunden von Dienstleistungen verfügen spiegelbildlich über das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um die dort angebotenen Dienstleistungen in Empfang nehmen zu können. Neben diesem personenbezogenen Inhalt erfasst die Dienstleistungsfreiheit Sachverhalte, in denen lediglich die Dienstleistung selbst die Grenzen überschreitet. In diesen Konstellationen weist die Dienstleistungsfreiheit einen der
→ Warenverkehrsfreiheit
ähnlichen Produktbezug auf (zu den verschiedenen Erbringungsvarianten s.u.
Rn. 543
).
527
Die Dienstleistungsfreiheit enthält für die Leistungserbringer ein spezielles Diskriminierungsverbot und ein Beschränkungen entgegenstehendes Freiheitsrecht. Im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs werden daher das allgemeine Diskriminierungsverbot (
→ Diskriminierungsverbot, allgemeines
) aus
Art. 18 UAbs. 1 AEUV
und das allgemeine Freizügigkeitsrecht (
→ Freizügigkeit, allgemeine
) aus
Art. 21 AEUV
verdrängt (EuGH, Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 51 f.; Urt. v. 19.6.2014, C-53/13 – Strojirny Prostejov –, Rn. 32). Ist der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit dagegen nicht eröffnet, wie etwa für den Zugang zu unentgeltlichen staatlichen Bildungseinrichtungen, kann eine Berufung auf das allgemeine Diskriminierungsverbot erfolgen (EuGH, Urt. v. 13.2.1985, 293/83 – Gravier –, Rn. 26).
528
In Übertragung der Rechtsprechung des
→ Europäischen Gerichtshofs (EuGH)
zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist davon auszugehen, dass die Dienstleistungsfreiheit in Art. 15 Abs. 2 GRCh nur innerhalb der Grenzen und Bedingungen der
Art. 56 ff. AEUV
gilt (vgl. EuGH, Urt. v. 4.7.2013, C-233/12 – Gardella –, Rn. 39). In welchem Umfang das Grundrecht de