Karl -ausgeliefert

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»Wer weiß das schon? Wer weiß das schon? Opi riecht nach Pitralon.« Wieder musste er leise kichern.

»Auf, auf. Wasser ist zum Trinken da. Auch. Auf.« Die Flasche, die kaum einen halben Liter fasste, war leer, und auch der Blechnapf gab nichts mehr her. Er spürte, dass er sich erleichtern musste. Seine Blase war gefüllt und sandte schmerzhafte Impulse aus. Das gemarterte Gehirn suchte verzweifelt nach einer Lösung, fand jedoch keine. Doch. Eine Idee. Vielleicht konnte man ihn hören. Und ihm helfen. Er konnte doch hier nicht einfach unter sich lassen. Das war der erste logische Gedanke, seit er hier unten war. Rufen. Doch was?

»Auf, auf, doch, doch. Auch, auuuuuch. Dooooooch. Auf, auf!«, rief er, so laut es seine Stimme hergab. Wieder und wieder rief er, doch niemand kam, um ihn aus seiner Not zu befreien. Als er es schließlich nicht mehr aushalten konnte, nutzte er die gesamte Länge der Halskette und erleichterte sich an der Wand. Sein eigener Urin spritzte ihm auf die Füße und er spürte, wie das von ihm erzeugte, warme Rinnsal eine Pfütze um ihn herum bildete, einen See, in dem er nun stand. Auf Zehenspitzen ging er zurück zu seiner Liege und setzte sich. Plötzlich ging das Licht an und die Helligkeit stach ihm in die Augen, die er reflexartig schloss.

»Halloooo? Doch, doch. Kommen Sie. Doch, auf!«, rief er.

Er öffnete die Augen einen Spalt und hielt seine Hände schützend vor das Licht, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Er konnte die peinliche Pfütze sehen, die er selbst erschaffen hatte und unweit davon lag etwas. Die Kette um seinen Hals erlaubte es ihm nicht, den Gegenstand zu erreichen, doch es gelang ihm, das Teil mit den Füßen zu sich zu ziehen, indem er sich auf den Boden legte und so die Kette um seine Körpergröße verlängerte. Es war ein Kleidungsstück. Ein Overall. Schnell zog er das einteilige Kleidungsstück an und fand in den Taschen ein Paar graue Wollsocken, die er ebenfalls anzog.

»Danke, danke!«, rief er und freute sich wirklich sehr über das Geschenk. Er strahlte über das ganze Gesicht und rief immer wieder.

»Danke Anke, Anke, danke, auf, auf. Doch. Auch.« Das war hier nicht so übel. Er hatte seine Liege, und wenn er schlief, gab ihm jemand zu Trinken und zu Essen. Und man hatte ihm nun auch noch diesen schönen, warmen Anzug geschenkt. Und Socken. Das Schlafmittel, das dem Wasser zugesetzt war, begann zu wirken und er schlief bereits, als das Licht wieder erlosch. Auf, auf. Auch. Doch.

Sieben

»Faszinierend.« Gerald Picard sah in den offenen Abwasserkanal. Der Polizeioberkommissar war nun schon seit einer Stunde am Tatort, und als Leiter des SEK gab es für ihn eigentlich nicht mehr viel zu tun. Es gab derzeit keine Informationen über Identität oder Aufenthaltsort des Täters oder der Täter. Dennoch hatte ihn der Chef der neu gegründeten SOKO »Karl« gebeten, hierzubleiben. Paul Gruhlich und er waren seit Jahren befreundet und hatten in ihrer gemeinsamen Zeit im Kriminalkommissariat unzählige Fälle bearbeitet und die meisten aufgeklärt. Dabei war ihre Arbeit stets von gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Als man Picard die Stelle des Leiters eines Spezial-Einsatzkommandos anbot, hatte er mit einem lachenden und einem weinenden Auge angenommen. Freunde waren Paul Gruhlich und er dennoch geblieben, und manchmal trafen sie sich, um aktuelle Fälle zu besprechen oder einfach nur, um über alte Zeiten zu palavern.

»Was denkst du?«, fragte Gruhlich seinen alten Partner.

»Sieht mir nach Vollprofis aus. So etwas derartig genau zu planen und durchzuführen, ohne dass es Zeugen gibt, ist fast unmöglich. Ich meine, dieser Grothner war doch besser bewacht als Fort Knox. Die wussten genau, was passieren würde, wenn der Wagen mit den Leibwächtern angegriffen würde. Dabei haben die nichts weiter gemacht, als den zu ankern. Und die von der Spurensicherung finden nicht den geringsten Hinweis. Um so eine Nummer abzuziehen, brauchst du Profis, wenn du mich fragst.«

Gruhlich nickte. Ein Streifenbeamter wagte sich an die in zivil gekleideten Polizisten heran und blickte den Leiter der SOKO fragend an.

»Was ist?«, fragte Gruhlich.

»Als wir zum Tatort fuhren, kam uns ein Fahrzeug entgegen. Kann sein, dass das die waren, die das hier gemacht haben, oder? Ich hatte die Sicherungskamera an, wollen Sie mal sehen?«

Picard sah Gruhlich an.

»Was für ein Schaf. Zeigen Sie mal, Sie Top-Ermittler!« Die drei gingen zu dem Streifenwagen, der neben etwa dreißig anderen Einsatzfahrzeugen vor Grothners Villa geparkt war. Der uniformierte Beamte wies auf den Beifahrersitz und setzte sich selbst hinter das Lenkrad. Auf einem kleinen Display konnte man die Aufnahme, die die Bordkamera in Fahrtrichtung gemacht hatte, betrachten. Gruhlich hatte auf dem Sitz neben dem Streifenbeamten Platz genommen und sah auf das Display. Die Sequenz dauerte nur zwei Sekunden. Man sah einen dunklen Kombi entgegenkommen. Scheinbar nur ein Insasse.

»Bringen Sie das unverzüglich ins Kommissariat und übergeben es den Kollegen der Technik. Ich will Halter und Adresse. Zeit läuft!«, sagte Gruhlich in strengem Ton und stieg aus dem Einsatzfahrzeug.

»Der muss doch an der Unfallstelle vorbeigekommen sein«, sagte Picard.

»Nein, da ist niemand vorbeigekommen, die Straße war völlig blockiert durch den Laster«, entgegnete Gruhlich.

»Dann ist er erst danach auf die Landstraße gekommen. Wahrscheinlich ein Bauer, der nichts mitbekommen hat.«

»Oder einer der Täter«, schloss Gruhlich.Gerald Picard saß zu Hause auf seinem Sofa und war damit beschäftigt, seinem Laptop beizubringen, wie man Urlaubsfotos zu einer Dia-Show zusammenstellt, als sein Telefon schellte.

»Was!«, sagte er in den Hörer, anstatt seinen Namen zu nennen.

»Paul hier. Der Wagen, der den Streifen entgegenkam, ist von einem Schrottplatz gekauft worden. Das Kennzeichen ist geklaut. Der Besitzer des Schrottplatzes ist vollkommen blöd. Kann sich nicht erinnern an den Kerl, der das Ding kaufte. Er sagt, dass jeden Tag irgendwelche Typen irgendwelche Teile kaufen, und ob denn die Kassiererin im Aldi wüsste, wie die Frau aussah, die um halb neun drei Liter Milch gekauft hat. Wir haben ihn in der Mangel, aber ich denke, dass dieser Schrotthändler das wirklich nicht mehr weiß. Vom Fahrer des Autos haben wir nur das Kinn. Der hatte die Sonnenblende heruntergeklappt.«

»Warum erzählst du mir das? Ich bin beim SEK, schon vergessen? Wenn du weißt, wer er ist und wo er steckt, sag mir Bescheid, dann hole ich ihn dir.« Ein wenig bedauerte Picard diese Antwort.

»Naja, ich dachte, du könntest hier mit einsteigen. Das ist eine Riesensache und die Presse überschlägt sich deswegen. Wir haben hier mächtig Dampf unterm Hintern und der Alte ist bestimmt dafür, wenn du nur für diese Sache zurückkommst. Man könnte dich abkommandieren, bis wir den Mann da rausgehauen haben.« Paul Gruhlichs Stimme klang fast flehentlich. Gerald Picard brauchte nicht sehr lange, um eine Entscheidung zu treffen.

»Warum nicht. Frag den Alten, und wenn der abnickt, bin ich dabei. Mal was anderes.«

Acht

Die Verletzungen waren nicht schlimm, schätzte Marius. Eine Platzwunde am Kopf und vielleicht eine Gehirnerschütterung. Er hatte Karl Grothner in das halb verfallene Pförtnerhäuschen auf der Industriebrache der »Buttwanger«-Fabrik geschafft. Der Flachbau war zum Teil unterkellert, und Kleinhans hatte eine Pritsche und einen Eimer in den Vorratskeller des Gebäudes gebracht. Zur Sicherheit hatte er eine Kette an die Wand gedübelt, die seinem Gefangenen zwar erlauben würde, in dem kleinen Raum umherzugehen, die aber kurz genug war, um zu verhindern, dass er die Eingangstür des Kellers erreichte. Es gab hier weder Strom noch fließendes Wasser, und Marius hatte einen Stromerzeuger und Wasservorräte herschaffen müssen, um für die Dauer der Entführung ausgerüstet zu sein. Das Aggregat hatte er in einem kleinen Nebenraum platziert und sich davon überzeugt, dass keine nennenswerten Geräusche nach außen drangen. Danach hatte er provisorisch mithilfe von Verlängerungskabeln ein kleines Stromnetz installiert. Er hatte mehrere Lichtquellen, die er mit Strom versorgen musste, und ein Radio, um Nachrichten hören zu können. Außerdem musste er ja sein Mobiltelefon jederzeit laden können. Grothner in seinem Keller würde sich mit einer vierzig Watt Glühbirne als einzigen Luxusgegenstand begnügen müssen. Dafür gab es die Mahlzeiten frei Haus, die er auf einem Campingkocher zubereiten wollte. Es würde kein Lichtschein nach außen dringen, denn die Fenster in dem Gebäude waren mit Brettern zugenagelt. Das meterhohe Unkraut gab Zeugnis davon, dass hier schon seit Monaten niemand mehr gewesen war. Die stillgelegte Fabrik lag zu weit außerhalb der Stadt, um Jugendliche anzuziehen, die hier irgendwelche Feten feiern wollten oder Liebespärchen, die ein verstecktes Örtchen suchten. Marius kannte die Fabrik noch aus seiner Kindheit. Damals wurden hier große Tanks und Getreidesilos hergestellt. Wegen der Übergröße mancher Produkte machte es Sinn, die Herstellung der Riesenbehälter außerhalb der Stadt zu betreiben, damit sie auch problemlos abtransportiert werden konnten. Irgendwann hatte die Globalisierung die Käufer vertrieben, und die Fabrik schloss die Pforten. Ein guter Ort nun, um seinen Plan zu Ende zu führen, dachte Marius, als er diese Stelle wählte, die nur acht Kilometer vom Ort der Entführung entfernt war. Er ging davon aus, dass die Polizei ihn niemals so nah am Tatort vermuten würde. Die Vorbereitungen, die er getroffen hatte, kosteten ihn seine gesamten Ersparnisse. Marius betrachtete das als Investition. In der Ferne hörte er einen Hubschrauber, und wie ein Stromstoß durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass der Renault, mit dem er Grothner hergebracht hatte, aus der Luft zu erkennen sein würde. Und auch die Reifenspuren, die er nicht hatte vermeiden können, als er das Unkraut vom Eingangstor bis zu seinem Unterschlupf niedergewalzt hatte. Ohne auf Karl zu achten, der noch immer besinnungslos auf der Pritsche lag, rannte Marius aus dem Gebäude, um die Spuren zu verwischen und den Wagen irgendwie zu tarnen, bevor die Leute in dem Hubschrauber ihn entdecken konnten. Noch war das charakteristische Geräusch der Rotorblätter weit entfernt, aber Marius ahnte, dass die Polizei jeden Quadratmeter in einem Radius von etlichen Kilometern aus der Luft absuchen würde. Die Spuren, die der Renault in das Unkraut gedrückt hatte, konnte er unmöglich tarnen. Also machte er aus der Not eine Tugend, stieg in den zerbeulten Kombi und startete den Motor. Wie ein verrückt gewordener Fahranfänger stieß er mit dem Wagen vor und zurück. Er drehte Kreise mit dem Wagen, wendete und walzte so das Unkraut um das Haus herum nieder. Er hoffte, dass aus der Luft nun keine einzelne Spur mehr zu erkennen sein würde, sondern einfach eine Stelle, an der großflächig das Unkraut niedergedrückt worden war. Er rangierte den Wagen so dicht an das Gebäude wie möglich und stapelte alte, halb vermoderte Bretter auf das Dach und die Motorhaube des Autos. Er fand einige Euro-Paletten, die er rund um den Renault herum aufstellte. Er fragte sich, wie viele Dinge er bei der Planung noch übersehen hatte, und welche davon ihm zum Verhängnis werden könnten. Marius wurde bewusst, dass nun der gesamte Polizeiapparat hinter ihm her war. Er hatte hier nicht irgendeinen reichen Mann entführt. Er hatte Karl Grothner entführt, und man würde ihn jagen, bis zur Hölle und zurück. Alleine schon wegen des Toten, den es bereits gegeben hatte. Marius drängte die Gedanken an den Chauffeur zurück und betrat rasch wieder das flache Gebäude, um nach seinem Opfer zu sehen. Das Geräusch des Hubschraubers kam näher. Könnte sein, dass das Ganze schon in einer Stunde zu Ende war, sollten die Piloten Verdacht schöpfen und das Bodenpersonal herbeordern. Marius blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu hoffen.

 

Neun

»Weiter hinten kommt ein Parkplatz, elf Uhr. Danach die Straße Richtung Nord-Nordost.« Der Copilot hatte eine laminierte Landkarte auf den Knien und gab seine Anweisungen an den Piloten des Hubschraubers weiter. Der Auftrag lautete, im Radius von zwanzig Kilometern alle Straßen und Parkplätze abzufliegen, um nach einem blauen PKW Ausschau zu halten, der mutmaßlich von den Tätern benutzt wurde. Die SOKO »Karl« ging davon aus, dass das Fahrzeug irgendwo getauscht worden war, um die Spuren zu verwischen. Also musste der Kombi irgendwo stehen, wenn man ihn nicht in einem der kleinen Seen hier versenkt hatte, was aber unwahrscheinlich war. In etwa dreißig Metern Höhe überflog die Maschine nun seit drei Stunden das Gebiet um den Tatort herum. Das Suchgebiet war in zwei Sektoren geteilt, der andere Halbkreis wurde von Kollegen des LKA überprüft, da ihrer Dienststelle nur ein Hubschrauber zur Verfügung stand.

»Parkplatz ist leer. Zieh mal rechts rüber, da ist eine alte Fabrik oder so etwas.« Die Stimme klang verzerrt durch die Kopfhörer. Der Pilot zog die Maschine langsam nach rechts und ließ sie eine Zeitlang über dem Gelände der ehemaligen Buttwanger-Fabrik in der Luft stehen. Dann drehte er den Hubschrauber langsam, so dass sie das gesamte Gelände absuchen konnten.

»Flieg mal zu dem Tor da«, sagte der Copilot, und kurz darauf schwebte die Maschine dicht über einem Bungalow, der etwa dreißig Meter vom Eingangstor des umzäunten Geländes entfernt stand.

»Das Tor ist zu, sieht nicht aus, als sei jemand hier gewesen.« Der Pilot ließ die Maschine noch tiefer sinken, die Kufen des Hubschraubers waren nur noch zwei Meter vom Flachdach des Pförtnerhauses entfernt. Durch ein Fernglas schaute der zweite Mann angestrengt in Richtung des Tores und bemerkte eine Kette, mit der das Tor noch zusätzlich verschlossen worden war.

»Hier ist er nicht«, konstatierte er, und die Maschine gewann wieder an Höhe, drehte ab und bald hörte man das Motorengeräusch nur noch aus der Ferne. Der enorme Wind, den die Rotorblätter verursacht hatten, hatte Bretter und Europaletten davongewirbelt. Das blaue Dach eines Kombi, der dicht an der Außenwand des Bungalows geparkt war, war nun deutlich zu erkennen. Der Hubschrauber hatte direkt über ihm in der Luft gestanden, doch sie hatten ihn nicht gesehen.

Zehn

Sie hatten ihn. Sie hatten ihn. Sie hatten ihn. Gebetsmühlenartig spie sein Gehirn die Worte aus. Der unglaubliche Lärm, den der Hubschrauber direkt über ihm machte, war kaum zu ertragen. Sicher seilten sich bereits schwarz gekleidete Männer zu ihm herab und in wenigen Sekunden würde er gefesselt in einem Polizeiwagen sitzen. Die kürzeste Entführung aller Zeiten. Marius hielt sich die Ohren zu. Tränen rannen über sein Gesicht.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, brüllte er so laut er konnte. In dieser Sekunde fühlte er tiefste Reue über das, was er getan hatte. Tiefstes Bedauern über den Tod von Grothners Fahrer. Und die Lächerlichkeit seines Vorhabens wurde ihm überdeutlich bewusst. Marius ahnte, dass sein Leben nun zu Ende war. Sein Leben in Freiheit zumindest. Er kniete auf dem dreckigen Boden im Hauptzimmer des Hauses und wiegte den Oberkörper vor und zurück. Erst nach Minuten nahm er wahr, dass der Hubschrauber fort war. Nur in der Ferne konnte man sein Brummen hören. Sie suchten weiter, sie hatten ihn nicht gefunden. Marius bekam einen Weinkrampf, sein ganzer Körper bebte und es brauchte einige Zeit, bis er sich so weit gefasst hatte, dass er das Haus verlassen konnte. Die Bretter waren vom Dach des Renaults geweht worden und die Euro-Paletten lagen verstreut umher. Bis auf das gleichmäßige Brummen in einiger Entfernung war nichts zu hören. Marius sammelte die Bretter wieder ein und tarnte das Auto erneut. Er glaubte nicht, dass die Polizei noch einmal herkommen würde, warum sollten sie zweimal an derselben Stelle suchen? Er hatte offensichtlich richtig gehandelt, als er die Kette, die das Eingangstor zum Gelände verschloss, wieder an die alte Position gebracht hatte. Nichts sollte auf seine Anwesenheit hindeuten. Langsam fiel die Spannung von ihm ab und nun wurde es Zeit, sich um seinen Gast zu kümmern.

Elf

Die Benommenheit wich langsam und Sequenz für Sequenz kehrte die Erinnerung zurück. Sein Fahrer hatte laut geschrien, dann gab es einen fürchterlichen Ruck, als der Mercedes in den Lastwagen gekracht war. Die Airbags hatten ausgelöst, doch der Aufprall war so verheerend, dass er trotz des Schutzmechanismus hart mit dem Kopf auf die Sitzlehne des Beifahrersitzes geprallt war. Dann war die Schwärze über ihn gekommen. Noch hielt er die Augen geschlossen. Es rauschte in seinen Ohren, als könne er sein Blut fließen hören. Es war kühl. Fakt. Er war bei einem Unfall verletzt worden. Fakt. Er lebte. Fakt. Er befand sich nicht mehr in seinem Auto. Fakt. Seine Handgelenke waren gefesselt. Fakt. Etwas lag um seinen Hals. Fakt. Es roch muffig, wie in einem Keller. Fakt. Wenn etwas wie Scheiße aussah, wie Scheiße roch und sich wie Scheiße anfühlte, dann ist es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Scheiße. Fakt ... Karl Grothner öffnete die Augen.

Eine rissige Betondecke, abblätternde weiße Farbe. Stockfleckig. Daran, provisorisch befestigt, ein rotes Stromkabel, an dessen Ende eine Glühbirne schwaches Licht in den Raum warf. Er hob seine zusammengebundenen Hände und begutachtete den Kabelbinder, der ihm ins Fleisch schnitt. Die Kopfverletzung schmerzte. Nicht zu ändern, weswegen er den Schmerz in seine Realität integrierte. Karl drehte den Kopf nach rechts. Eine Kellerwand. Putz war herabgefallen und gab den Blick auf stellenweise grau patinierten, roten Klinker frei. Sein Blick tastete jeden Quadratzentimeter des Raumes ab, in dem er sich befand. Er nahm einen Eisenring wahr, der an der hinteren Stirnwand befestigt war. Er sah die Kette und folgerte, dass das Ende dieser Kette ebenfalls in einem Ring endete, der um seinen Hals lag. Die Situation war klar. Er war entführt worden. Karl Grothner schloss seine Augen wieder und dachte nach. Derzeit gab es für ihn keine Handlungsalternativen. Er brauchte mehr Informationen, um Entschlüsse fassen zu können. Grothner versuchte mit seinen gefesselten Händen zu ertasten, ob er vielleicht an sein Smartphone, das in der rechten Innentasche seines Sakkos steckte, kommen könnte, musste aber einsehen, dass es absolut unmöglich war, das Gerät aus der Tasche zu ziehen. Was waren das für Verbrecher, die ihrem Opfer das Handy ließen? Er konnte das Smartphone durch den Stoff spüren und versuchte nun, es durch Drücken und Schieben von außen aus der Innentasche zu befördern. Für eine Sekunde konnte er die glatte und kühle Oberfläche des Gerätes an seinem Kinn fühlen, nachdem es aus der Tasche gerutscht war. Er konnte nicht verhindern, dass das Smartphone von der Pritsche fiel und mit einem kühlen Geräusch auf dem Kellerboden aufschlug. Dieses klackende Geräusch initiierte eine Millisekunden dauernde Erinnerungssequenz in Grothners Gehirn. Der Kopf seines Fahrers war aufgeplatzt, als er mit brachialer Gewalt gegen die Windschutzscheibe geprallt war. Teile der Schädeldecke und blutig-graue Gehirnmasse waren an ihm vorbeigeflogen und mit einem schmatzenden Geräusch an der Heckscheibe gelandet, bevor er selbst das Bewusstsein verloren hatte. Dann war die Szene vorbei und Grothner wusste, dass sein Fahrer bei dem offenbar bewusst herbeigeführten Unfall zu Tode gekommen war. Das ließ Rückschlüsse auf die Gewaltbereitschaft seiner Entführer zu. Fakt. Er versuchte, sich auf der schmalen Pritsche aufzurichten, doch dazu fehlte ihm die notwendige Kraft. Also drehte er sich auf die rechte Seite, um so, mit den ebenfalls gefesselten Beinen voran, langsam von der Pritsche zu gleiten. Es gelang ihm, und nun kniete er vor dem Smartphone, das, mit dem Display nach unten, auf dem grauen Betonboden lag. Seine Entführer waren offensichtlich ziemliche Dilettanten, sonst hätten sie ihm wohl kaum das Handy gelassen. Er griff nach dem Gerät und hielt es zwischen seinen gefesselten Händen, drehte es mit den Fingern um und musste erkennen, dass das Display vollkommen zerstört war. Grothner betätigte den kleinen Schalter, der das Smartphone sonst aus dem Standby-Betrieb erweckte, doch nichts tat sich. Das Gerät war bei dem Unfall zerstört worden. Fakt. Es gelang ihm, das Handy in seine rechte Sakkotasche zu stecken und sah sich nun im Raum um. Der Raum mochte drei mal zwei Meter Grundfläche messen. Eine Treppe führte an der Stirnseite des Raumes nach oben. Diese mündete an einer grauen, fleckigen Stahltür. Kaum, dass ein Blick auf diese Tür fiel, hörte er, wie sich von außen jemand daran zu schaffen machte. Er hatte keine Gelegenheit, sich wieder auf die Pritsche zu legen, und so schwang die Tür nach innen auf und Karl Grothner und Marius Kleinhans begegneten sich zum zweiten Mal. Kleinhans trug wieder den Motorradhelm und hielt kurz inne, als er Grothner auf dem nackten Betonboden knien sah. Das getrocknete Blut in seinem Gesicht verlieh der Situation etwas sehr Erschreckendes. Karl hatte die gefesselten Hände vor sich gehalten, es sah aus, als betete er. Dass er in dieser Situation den Blick nach oben gerichtet hatte, verstärkte den ersten Eindruck, den Marius vom Multimillionär Karl Grothner erhielt. Ein erbarmungswürdiger Anblick. Marius hatte sich seinen Text bereits zurechtgelegt. Er schwitzte unter seinem Helm, die ganze Situation war für ihn fast unerträglich. Er wollte das nicht. Wollte nicht wie ein Tier sein, das Menschen umbringt und dafür sorgte, das jemand, und sei es Karl Grothner, so unwürdig auf dem Boden knien musste. Und dennoch musste er das jetzt durchziehen.

»Ich helfe Ihnen, Moment.« Marius griff seinem Opfer unter die Arme und half ihm auf die Pritsche zurück. Grothner saß nun vor ihm.

»Sie wissen, was los ist?«, fragte Marius. Karl sah ihn nur mit stahlgrauen Augen an. Ruhig. Ganz in Ruhe schien er ihn zu scannen mit diesen Augen.

»Ich sage Ihnen jetzt die Regeln. Und wenn Sie die schön einhalten, sind Sie bald wieder ein freier Mann und unsere Wege trennen sich.« Marius Kleinhans fühlte, dass er der Situation kaum gewachsen war. Er hatte damit gerechnet, dass Karl weinen, ihn anflehen, ihn anschreien würde. Doch der saß nur da und sah ihn fast amüsiert an. Marius spürte, dass der Mann vor ihm nicht die geringste Angst hatte. Das war so nicht vorgesehen.

»Das läuft so: Sie bleiben ruhig und brav. Ich gebe Ihnen zu Essen und zu Trinken. Ich erpresse Geld für Ihre Freilassung, und sobald ich das habe, lasse ich Sie laufen. Machen Sie Ärger oder Stress, wird der Service hier schlechter. Ich werde Sie von den Fesseln befreien, Sie dürfen sich hier im Raum frei bewegen. Da hinten steht ein Eimer, da können Sie sich erleichtern. Es gibt eine Plastikschüssel mit Waschwasser und einen Lappen. Ein Handtuch gibt es auch. Ich habe Sie angekettet, Sie können also nicht zur Tür, so lang ist die Kette nicht. Wenn ich Informationen brauche, sind Sie kooperativ. Sind Sie das nicht, wird der Service auch schlechter, alles klar soweit?« Marius hatte sich vorgenommen, mit fester, dominanter und selbstbewusster Stimme zu sprechen. Ihm selbst kam es vor, als läge etwas Weinerliches, Schwaches und Zittriges in seinen Worten. Grothner hatte während seiner Rede nur kurz die rechte Augenbraue gehoben und war ansonsten regungslos geblieben.

 

»Haben Sie das verstanden?« Grothner hob nur die Arme, anstatt eine Antwort zu geben, den Blick fest auf die Augen gerichtet, die er als Einziges vom Gesicht seines Entführers durch das Visier des Motorradhelmes sehen konnte. Nervöse Augen, wie er feststellte. Mit einem Hauch von Resignation, fast Trauer in ihnen. Keine sehr intelligenten Augen. Fade, blaue Augen. Gerötet. Der Mann hatte geweint. Falten in den Augenwinkeln. Der Mann war zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Und Angst. Angst in diesen Augen. Und Ehrfurcht. Vor ihm. Und noch etwas. Etwas sehr Emotionales. Karl kannte das. Doch es fiel ihm in dieser Sekunde nicht ein. Er hatte es schon manches Mal in den Augen von Menschen, mit denen er zu tun zu haben gezwungen war, gesehen. Verstanden hatte er es nie. Gewissen. Das war es. Ein für Karl Grothner sehr surrealer Begriff. Marius Kleinhans griff in seine Gesäßtasche und förderte einen Saitenschneider hervor, mit dem er die Kabelbinder an Karls Händen und Füßen durchschnitt.

»Sind wir uns also einig?«, fragte er sein Opfer. Grothner hob die Oberlippe, bleckte die Zähne, seine Mundwinkel wiesen nach unten. Er lächelte.

»Und ob!«

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