Тотеnтаnz / Пляска смерти. Книга для чтения на немецком языке

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IV

Fabian verließ rasch das Haus. Mit der gelben schweinsledernen Aktentasche unter dem Arm eilte er durch die Strassen. Er wurde häufig gegrüßt und zog selbst ununterbrochen den Hut. Die ganze Stadt kannte ihn und seine gelbe Aktentasche, denn er gehörte allen angesehenen Vereinen an, dem Musik- und Theaterverein, dem Tennisklub, dem Männerquartett, dem Verschönerungsverein und wie sie alle hießen. In den meisten dieser Gesellschaften bekleidete er irgendein Ehrenamt. Es gab auch keine öffentliche Veranstaltung in der Stadt, bei der er nicht eine Rolle gespielt hätte.

Das städtische Treiben gefiel ihm und ließ ihn die vielen Monate Kuraufenthalt in einem langweiligen Herzbad vergessen. Das Hupen der Autos, das Klingeln der Trambahnen, die dahineilenden Menschen erfüllten ihn mit einem neuen, starken Lebensgefühl.

Fabian war ein gutaussehender Mann, stattlich und mit vorzüglicher Haltung. Mit seinen vom Urlaub gebräunten Wangen, seinen lockeren braunen Haaren und seinen frischen graublauen Augen war er eigentlich zu hübsch für einen Mann. Dazu galt er für einen der bestgekleideten Männer der Stadt, der die peinlichste Sorgfalt auf sein Äußeres verwendete.

Die Stadt schien sich während seiner Abwesenheit nicht im geringsten verändert zu haben, und erst als er aufmerksamer hinsah, bemerkte er eine Wandlung in vielen Dingen.

Der Buchhändler Dillinger, der auch sein Lieferant war, hatte sich vergrößert und den Nachbarladen dazugenommen. War es nicht erstaunlich? Früher schien dieser Dillinger Demokrat mit stark sozialistischer Färbung zu sein, manche nannten ihn sogar einen Kommunisten, und jetzt hatte er sein Schaufenster voller Parteiblätter und Postkarten der heutigen Machthaber. Selbst in dem Schaufenster des Juweliers Nicolai entdeckte er eine Führerbüste, die unter einem Lorbeerbäumchen stand. Einige Häuser weiter war die Auslage des Schneiders März, angefüllt mit gelben und braunen Tuchrollen. Oder sah er sie heute das erste Mal?

Auch sonst entdeckte er noch da und dort Embleme, Abzeichen, Photographien und Führerbüsten, aber vielleicht waren sie ihm früher gar nicht aufgefallen?

Dann bog er zum Rathausplatz ein, auf dem, wie jeden Mittwoch und Sonnabend, Wochenmarkt abgehalten wurde. Er blieb stehen, um sich an dem geschäftigen Treiben zu erfreuen und die Sonne zu genießen. Dann suchte er sich den Weg zwischen Hausfrauen, Bauernweibern und Stapeln von Gemüsekörben, um zu seinem Lieblingsbrunnen zu gelangen, der in einer Ecke des Platzes stand. Seit Jahren hatte er ihn täglich erblickt, und es war selbstverständlich, dass er ihn heute mit besonderer Freude, wie einen alten Freund, begrüßte. Eine schlanke Jünglingsgestalt, die auf dem Becken des Brunnens stand, spiegelte sich träumerisch in der Wasserfläche, der Brunnen wurde Narzissbrunnen genannt. Auf dem Marmorbecken war mit deutlichen Lettern sein Name eingemeißelt. Der Brunnen stammte von seinem Bruder Wolfgang, den er liebte und bewunderte.

Wahrhaftig, es war eine Schande, dass er Wolfgang nicht mehr als einige flüchtige Karten aus seinem Urlaub geschrieben hatte! Er machte sich Vorwürfe und beschloss, seinen Bruder heute als ersten zu besuchen, mochten alle anderen sich noch etwas gedulden.

Das Rathaus, das nur einige Schritt vom Marktplatz entfernt lag, war ein modernes Barockgebäude, das prunkvoll und verschwenderisch gebaut war und doch einen nüchternen und leeren Eindruck machte. In einiger Entfernung von der breiten, repräsentativen Haupttreppe führte ein zweiter, schmaler Eingang hinauf zu den Büroräumen. Diesen benutzte Fabian, der die Rechtsabteilung der Stadt leitete, daneben aber noch eine umfangreiche Praxis als Rechtsanwalt betrieb. Er stieg eilig die Treppe zu seinen Amtsräumen empor, ohne jemand in dem kahlen, frostigen Treppenaufgang zu begegnen.

Als er aber die Tür seines Büros aufsperren wollte, fand er, dass von innen schon ein Schlüssel steckte. Er trat verwirrt zurück. Hatte er sich im Stockwerk getäuscht? In diesem Augenblick näherten sich Schritte, die Tür wurde geöffnet, und ein junger, hochaufgeschossener Mann stand vor ihm. Er hatte ein langgezogenes, hölzernes Gesicht, und besonders an den Wangen glaubte man noch die derbe Arbeit des Schnitzmessers zu erkennen. Sein Teint war unrein und der eines verbummelten Menschen.

«Sie wünschen». fragte der junge Mann mit dem hölzernen Gesicht frostig und rauh, wobei er ihn von oben herab musterte.

Fabian blickte ihn mit offenem Munde und albernem Gesichtsausdruck an. Er glaubte zu träumen und suchte sich angestrengt das rätselhafte Erscheinen des jungen Mannes zu erklären, der fast einen Kopf größer war als er.

Während er langsam zurückwich, blickte er in das unbewegte, gefrorene und dabei hochmütige Gesicht des jungen Mannes, und in dieser Sekunde glaubte er ihn zu erkennen. Dieser junge Mann war einmal Rechtsgehilfe bei Justizrat Schwabach gewesen, eine Art Praktikant und Volontär, den er einige Male kurz in irgendeiner juristischen Frage gesprochen hatte. Er hieß Schillinger oder so ähnlich. Soviel er sich erinnerte, war er ein verkommener Student, der sich keines besonders guten Rufes erfreute und nur wenige Prüfungen mit Ach und Krach bestanden hatte. Justizrat Schwabach, der keiner Fliege ein Leid antun konnte, hatte ihn einige Zeit aus lauter Gutmütigkeit oder irgendwelchen anderen Gründen beschäftigt. Er galt seit langer Zeit als fanatischer Parteianhänger, und Fabian erinnerte sich nun, ihn öfter mit der Sammelbüchse getroffen zu haben.

«Herr Schillinger – wenn ich nicht irre». sagte er endlich, «Sie sehen, dass ich einigermaßen erstaunt bin». Im gleichen Augenblick fand er seine Fassung zurück, und es gelang ihm sogar sein bestechendes Lächeln.

Der lange junge Mann machte eine steife Verbeugung, es sah aus, als verbeuge sich nur der Oberkörper, während der Unterkörper unbeweglich blieb. Gleichzeitig verzog er die wulstigen Lippen, was ein Lächeln bedeuten sollte. «Schilling, ich bitt», antwortete er kühl. «Wenn ich nicht irre, Herr Doktor Fabian». Da Fabian nickte, öffnete er die Tür weiter und lud ihn mit einer ungelenken Bewegung ein, einzutreten. Mit etwas freundlicherer Stimme setzte er hinzu: «Bitte treten Sie ein. Ich bin seit einer Woche zum Leiter der Rechtsabteilung ernannt worden. Über Ihre persönliche Verwendung gibt wohl der Brief Auskunft, der für Sie seit vielen Tagen bereitliegt». Der junge Mann ging mit steifen großen Schritten zum Schreibtisch und überreichte Fabian einen Brief in einem braunen Umschlag, der sofort als amtlich zu erkennen war. «Darf ich bitten».

Fabian fühlte, wie seine Knie schwach wurden und sein Herz heftig pochte. Dieses Herz, da sieht man es wieder, ganz gesund werde ich wohl nie mehr werden, ging es ihm durch den Kopf. Schlimme Ahnungen erfüllten ihn.

«Wir haben uns zuweilen bei Justizrat Schwabach gesprochen, Herr Kollege Schilling». sagte er zu seinem eigenen Erstaunen sehr ruhig, indem er den Brief entgegennahm. «Aber Sie waren doch lange Zeit vom Justizrat weg, glaube ich». fügte er hinzu, in einem Ton, als wolle er ein langes Gespräch einleiten.

«Ich habe einige Prüfungen nachgehol», entgegnete Schilling und wandte den Blick den hohen Fenstern zu, um anzudeuten, dass er keine Lust zu einem langen Geschräch habe. Er wandte sogar den Kopf zur Seite, so dass Fabian die Pickel und unreinen Pusteln auf seiner Wange erkennen konnte.

«Einen Augenblick darf ich wohl noch stören? Es ist ja ein dienstliches Schreibe», wandte er sich höflich an den jungen Mann.

«Aber ich bitt», erwiderte Schilling gleichgültig, ohne den Blick zu wenden. Ohne jede Rücksicht deutete er Fabian an, dass er ihn möglichst rasch wieder los sein wollte.

Schon aber hatte Fabian das Schreiben überflogen: Er war bis auf weiteres beurlaubt und sollte sich zu weiterer Verfügung bereit halten. Und da stand auch der Name des neuen Herrn, den Fabian gestern zum erstenmal gehört hatte: Taubenhaus.

Fabian erblasste. Seine schlimmen Ahnungen hatten sich erfüllt. Aber er sammelte sich rasch, trat auf den jungen Mann zu und reichte ihm die Hand. «Herzlichen Dank, Herr Schillin», sagte er in liebenswürdigem Ton und fügte hinzu: «Wenn Sie beim Durchsehen der Akten auf den einen oder anderen Punkt stoßen, über den Ihnen eine Aufklärung nötig erscheint, so klingeln Sie mich einfach an, ich stehe Ihnen gern zur Verfügung. In der Sache Kraus und Söhne zum Beispiel sind ja die Wasserrechte reichlich verworren».

Trotz der Erregung, die ihn erfasst hatte, gelang es ihm, in kühler Sachlichkeit mit dem jungen Mann zu sprechen, der von triumphierender Schadenfreude bis zum Rande angefüllt war. «Vielen Dan», sagte der junge Mann, ohne Fabian eines Blickes zu würdigen. «Ich werde Sie von Fall zu Fall anrufen, schön. Die Sache Kraus und Söhne ist ja schon lange nicht aktuell, die Firma ist doch jüdisch». Er machte wieder eine steife Verbeugung, und Fabian verließ das Zimmer.

V

Als Fabian die Tür hinter sich zugezogen hatte, lachte er vor sich hin. «Du wirst noch manchmal anrufen, du eingebildeter Ese», dachte er wütend. Langsam ging er durch den Korridor und schöpfte Atem.

Der Schrecken war ihm tüchtig in die Glieder gefahren, das musste man sagen. Noch immer fühlte er ein leises Zittern in seinen Knien, aber schon begann er seine Lage mit größerer Ruhe und Klarheit zu betrachten. Besaß er nicht einen Anstellungsvertrag mit der Stadt? Man konnte ihm doch nicht ohne weiteres den Stuhl vor die Tür setzen[19], oder? Es war wahrscheinlich, dass man diesen jungen Taugenichts unterbringen wollte und für ihn selbst einen anderen Posten bereithielt, einen bedeutenderen, gewichtigeren Posten.

 

In diesem Augenblick sah er einen kleinen, etwas beleibten Herrn die Treppe herauf stürmen und an sich vorübereilen. Der kleine, dicke Herr hatte den Hut ins Genick gerückt und eilte auf die Tür eines benachbarten Büros zu, die er hastig aufschließen wollte. An seiner Eile und seinem hastigen Wesen erkannte er ihn. Es war Baurat Krieg, ein guter Freund von ihm. Er rief ihn an, gerade als er ins Büro schlüpfen wollte.

Der Baurat wandte den Kopf. «Lieber Freun», rief er erfreut aus und so laut, dass es im Korridor widerhallte. «Ja, da sind Sie also wieder! Kommen Sie doch zu mir herein, damit ich Sie mir genau ansehen kann». Dann eilte er Fabian mit aufrichtiger Freude entgegen und schüttelte ihm die Hand. «Sie müssen mir von Ihrem Urlaub erzählen, lieber Freund! Also wieder glücklich von den Toten auferstanden». fügte er hinzu, während er Fabian in sein Büro nötigte.

Der Baurat hatte ein quecksilbriges Wesen, das sich in jeder Bewegung und jeder Geste ausdrückte. Er war klein, hatte ein rundes Bäuchchen, gesunde volle Backen und einen ergrauten Spitzbart. Wie immer trug er eine flotte Lavallierebinde[20] aus schwarzer Seide. «Was haben Sie denn da». unterbrach er plötzlich Fabian und deutete auf den braunen Brief, den Fabian auf seiner Aktentasche trug. Bevor er aber Fabians Antwort abwartete, sprang er zu einer Tür, stieß sie auf und steckte den Kopf hinein.

Im Nebenzimmer arbeitete sein Personal, und man hörte eifrige Schreibmaschinen klappern.

«Ich wollte nur sehen, ob die Luft rein ist. Man kann nicht vorsichtig genug sein, seit der Neue im Hause is», sagte er mit gedämpfter Stimme, indem er die Tür wieder schloss. Erneut deutete er auf den braunen Brief Fabians. «Ich wette, es ist der gleiche Brie», rief er lachend, «den Dutzende von Kollegen erhielten».

Fabian nickte, er war erleichtert zu hören, dass er sein Missgeschick mit vielen anderen teilte. «Waren es Dutzende». fragte er, ohne seine Freude zu verbergen. Seine Unruhe war völlig verschwunden, und er hatte seine gewöhnliche gute Laune zurückgefunden. «Ja, Dutzende. Mit einem Wort, alle Herren, die sich bis heute noch nicht für die Partei begeistern konnten. Auch ic», lachte der Baurat und deutete mit dem Finger auf seine Brust, «auch ich erwarte den Brief täglich, täglich! Ja, lieber Freund, wir werden wohl noch alle in den sauren Apfel beißen[21] müssen, ob wir wollen oder nicht. Nun, lassen Sie es gut sein, lieber Freund, was soll Ihnen schon passieren? Ein Anwalt mit einer glänzenden Praxis, der eine Pracht heiratete, die ihm vier Häuser in die Ehe brachte, haha? Aber sehen Sie mich an, ich bitte Sie! Ich habe nur ein paar lumpige Groschen auf der Bank und dazu zwei junge Töchter, die täglich anspruchsvoller werden. Sehen Sie, lieber Freund, ich werde wohl wieder als Bauführer anfangen müssen oder als Zeichner in einem Baubüro, wie». Er lachte voller Galgenhumor und wühlte in seinen grauen Haaren. «Aber betrachten Sie nur unseren guten Krüger».

«Ja, ihm ist es schlimm ergangen, wie ich hörte».

«Der arme Theo, er ist zu bedauern». Baurat Krieg stieß einen leisen Pfiff aus. «Schlimm, sehr schlimm».

«Aber ein so außerordentlich tüchtiger Mann wie Krüger wird doch leicht wieder eine Stellung finde», sagte Fabian.

Der Baurat zuckte die Achseln. «Leicht wird er es nicht habe», entgegnete er bekümmert. «Eine Behörde darf ihn nicht aufnehmen, und private Firmen bringen nur selten den Mut dazu auf. Dazu hat die Presse seinen guten Ruf völlig zerstört, sie hat kein gutes Haar an ihm gelassen[22]».

Fabian blickte ihn verwundert an. «Aber Krüger war doch überaus belieb», rief er aus.

«Früher, ja, früher einmal». versetzte Krieg. «Die Zeiten haben sich gewaltig geändert. Ein Mann, der jede Nacht in den Weinstuben saß und mit was für fragwürdigen Leuten? Nicht mit mir oder Ihnen, mein Lieber, nein, mit sozialdemokratischen Stadtvätern und üblerem Gesindel. Ein Mann, der bei den Freimaurern[23] eine maßgebende Rolle spielte? Man will ihm ja den Prozess machen».

«Den Prozess».

«Ja, den Prozess». nickte der Baurat. «Er soll städtische Gelder verschleudert haben. Da fuhr er zum Beispiel mit seiner Kleinen im Sommer abends auf die Dörfer, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Das kostet natürlich Benzin und Öl, und der Stadtsäckel muss es bezahlen. Und dann hat er, nun hören Sie, häufig mit seiner Flamme privat telefoniert, mindestens dreimal am Tag, dreimal». Der Baurat lachte, dass seine roten Bäckchen glänzten. Er lachte vor allem über Fabians verblüfftes Gesicht. «Daraus will man ihm einen Strick drehen, sehen Sie».

«Sollte man es für möglich halten». fragte Fabian ungläubig.

«Was für ketzerische Gedanken». rief Krieg aus. «Sie wissen noch immer nicht, woher der Wind weht? Es muss wieder Ordnung herrschen in deutschen Landen. Wenn Sie Partei sind, können Sie machen, was Sie wollen, wenn Sie aber nicht Partei sind, haben Sie sich in Tugend zu üben. Haben Sie übrigens schon Ihren Bruder Wolfgang gesprochen». fügte er hinzu.

«Ich werde ihm heute noch guten Tag sage», erwiderte Fabian. Der Baurat beugte sich vor. «Ihr Bruder Wolfgang ist auch so ein Ketzer, ein ganz fürchterlicher Ketze», sagte er lachend.

Und er erzählte, dass sie vor ein paar Tagen zusammen in der «Kuge». saßen, einige Freunde, Lehrer Gleichen war dabei und sein Bruder Wolfgang. Das Gespräch sei auf Redefreiheit und freie Meinungsäußerung gekommen, und bei dieser Gelegenheit sei Wolfgangs Rebellengeist zum Ausbruch gekommen. «„Haben wir, meine Herren“, begehrte Wolfgang auf, „haben wir zweitausend Jahre gegen Pfaffen und Könige gekämpft, um uns jetzt einen Maulkorb anlegen[24] zu lassen? Nein und dreimal nein! Ich werde meine Meinung sagen, und wenn sie mich auch vor eine Kanone binden, wie die Engländer es mit den Hindus getan haben sollen.“ Im Lokal waren ein paar Gesellschaften, die schon aufzuhorchen begannen. Am runden Stammtisch saßen auch Leute von der Partei und spitzten bedenklich die Ohren. Einer war etwas Höheres, nach den Sternen und Abzeichen am Kragen. Auch dieser da saß dabei». Der Baurat deutete mit dem Daumen nach rückwärts. «Dieser eingebildete Esel, Ihr Nachfolger».

Fabian musste lachen, es war der gleiche Ausdruck, den er vor wenigen Minuten in Gedanken gebraucht hatte. «Schilling heißt e», sagte er.

«Ja, auch dieser Herr Schillin», fuhr Krieg fort. «Wir hatten ja alle Hände voll zu tun, Wolfgang zu beruhige», erzählte er mit großer Lebhaftigkeit, wobei er sogar die Hände rang. «Wenn Sie also heute zu ihm kommen, so bitten Sie ihn, beschwören Sie ihn, etwas mehr Zurückhaltung zu üben. Man könnte seine Worte auch einmal falsch auslegen, die Geheimpolizei ist zur Zeit wieder mächtig an der Arbeit».

Fabian versprach, die Warnung auszurichten, und erhob sich, um zu gehen. «Haben Sie den neuen Herrn der Stadt schon gesehen». fragte er, als er dem Baurat die Hand reichte. «Diesen Herrn Taubenhaus».

Der Baurat nickte. «Natürlich, ich habe oft mit ihm zu tu», erwiderte er. «Ein stattlicher Mann mit sehr gefälligen Umgangsformen. Über seine Fähigkeiten kann sich natürlich noch niemand ein Bild machen. Er kommt aus einer kleinen Stadt in Pommern, wo die Gänse und Ziegen auf dem Marktplatz herumlaufen, wie er selbst sagt. In erster Linie sieht er auf Pünktlichkeit im Dienst und auf peinlichste Sparsamkeit. Ich baue zur Zeit seine Dienstwohnung aus, und das ist wohl auch der Grund, weshalb ich noch nicht den braunen Brief habe». Krieg lachte. «Bei dem Ausbau der Wohnung freilich ist er durchaus kein Pfennigsuchser[25]. Nichts kann ihm fein und teuer genug sein! Selbst die Klinken an den Türen mussten durch neue aus schwerer Bronze ersetzt werden, und das Schlafzimmer —! So ein fürstliches Schlafzimmer haben Sie noch nicht gesehen, mein Freund».

«Sicherlich ist es ein schwerer Verlust für die Stadt, dass Krüger gehen musst», sagte Fabian, dem die Entlassung Krügers sehr naheging.

Der Baurat begleitete ihn zur Tür. «Ein schwerer, ein sehr schwerer Verlust». versicherte er aufrichtig. «Auch für mich ist es ein schwerer Verlust, wie ich Ihnen als Freund gestehen kann! Es war mir im Laufe der Zeit gelungen, Krüger für meinen Lieblingsplan zu erwärmen». Da er aus Fabians Blicken sah, dass ihm sein Lieblingsplan unbekannt war, hielt er ihn am Mantelknopf fest. «Sie scheinen meinen Lieblingsplan nicht zu kennen, verehrtester Freund». fuhr er mit neuem Eifer fort. «Wirklich nicht? Seit Jahren träume ich schon davon, den Platz vor der alten Reitschule umzubauen. Die Gebäude ringsum werden in Kolonnaden verwandelt, Laden neben Laden, verstehen Sie? Der Wochenmarkt wird dahin verlegt und alle Messen, so dass der Rathausplatz frei wird für eine gärtnerische Ausgestaltung. Auch der Brunnen Ihres Bruders bekommt einen würdigeren Platz».

«Die Idee scheint wirklich originell zu sei», versetzte Fabian, der nur flüchtig hingehört hatte.

Der Baurat strahlte vor Begeisterung. «Kommen Sie, kommen Sie». rief er. «Ich werden Ihnen sofort meine Entwürfe zeigen, die Sie gewiss begeistern werden».

Aber Fabian dankte, er habe heute noch vieles vor. «Ein anderes Mal, mein lieber Baurat, heute bin ich allzusehr beschäftigt».

VI

Die kurze Unterhaltung mit dem Baurat hatte Fabian in eine zuversichtliche Laune versetzt. Er war nun nahezu überzeugt, dass man einen prächtigen Posten für ihn in Bereitschaft hielt. Am liebsten wäre er zu diesem Herrn Taubenhaus gegangen und hätte ihm die Hand gedrückt: «Fabian, melde mich gehorsamst vom Urlaub zurück. Als siebzehnjähriger Freiwilliger im Weltkrieg bei der Artillerie eingetreten, zum Offizier avanciert, mit dem Eisernen Erster[26] an der Front ausgezeichnet, deutsch bis in die Knochen». Er lächelte zufrieden, als er über den Rathausplatz ging.

Wieder blieb Fabian einige Augenblicke am Narzissbrunnen stehen. Schade, dachte er, indem er weiterging, dass Wolfgang so geringen Ehrgeiz besitzt. Man hatte ihm vor einem Jahr eine Professur in Berlin angeboten, aber er hatte es vorgezogen, hierzubleiben, wo er eine Lehrstelle an der Kunstschule bekleidete. Er hatte eine förmliche Angst vor Berlin und befürchtete, Berlin würde ihn zu stark in seiner künstlerischen Produktion hemmen. Schade, schade!

 

Sein Bruder Wolfgang lebte in Jakobsbühl, einem alten Dorf, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Dort hatte er sich von dem Erlös des Narzissbrunnens ein altes Bauernhaus gekauft, das inmitten eines Obstgartens lag. Nach Jakobsbühl führte eine Straßenbahn, aber das schöne Herbstwetter verlockte Fabian, zu Fuß zu gehen.

Er durchquerte den Norden der Stadt, wo zumeist Arbeiter wohnten, und kam an den ausgedehnten, modernen Werken Schellhammer vorbei, die gegen fünftausend Arbeiter beschäftigten. Sie hatten im wesentlichen den Wohlstand der Stadt begründet. Etwas später gelangte er aufs offene Land und in die alte Pappelallee, die nach Jakobsbühl führte.

Als Fabian die kleine hölzerne Gartentür neben dem Brunnen öffnete, nickte ihm die Wirtschafterin Wolfgangs, eine alte Bäuerin, aus dem niedrigen Küchenfenster zu. Durch eine kleine Diele gelangte er in Wolfgangs geräumigen Arbeitsraum, der so sehr mit Zigarrenrauch erfüllt war, dass er anfangs nichts unterscheiden konnte. Dann sah er bei dem hohen Atelierfenster, das in die Giebelwand des früheren Bauernhauses eingebaut war, zwei lebhaft plaudernde, zigarrenrauchende Männer in niedrigen Sesseln sitzen. Sie saßen vor einer lebensgroßen Figur, deren Ton noch feucht glänzte, auf einem runden Tisch vor ihnen standen zwei halbleere Weingläser. An dem hellen Arbeitskittel, dem wirren Schopf angegrauter dunkler Haare und der dünnen Virginia[27] im Mund erkannte er seinen Bruder, während die krausen braunen Haare den Lehrer Gleichen vermuten ließen, der häufig bei ihm verkehrte. «Empörend und schamlos». rief Lehrer Gleichen eben mit einer lebhaften Gebärde aus und griff nach seinem Glas.

Wolfgang erblickte ihn zuerst, sprang auf und eilte ihm entgegen. «Der Frank». rief er erfreut aus. «Seht an, der Frank».

Auch Lehrer Gleichen erhob sich, um ihn zu begrüßen, und augenblicklich fiel Fabian wieder der Zauber seiner weichen schönen Stimme auf. «Welch eine angenehme Überraschung». fuhr der Bildhauer fort. «Du kommst gerade recht zu unserer kleinen Beratung, und wir wollen dich mit einem Gläschen begrüßen». Dabei öffnete er einen großen, mit roten Rosen bemalten Bauernschrank, der Reihen von Flaschen und Gläser aller Größen enthielt. Einige Gläser und eine Flasche stellte er auf die Tonkiste neben der noch feuchten Figur. «Ein Portwein, sage ich dir, Frank, der einen Toten aufwecken kann». rief er frohgelaunt aus und goß die Gläser voll, während er den Bruder mit zärtlichen Blicken betrachtete. «Ich habe mich nämlich heute entschlossen, den Akt endlich fertigzumachen und ihn im Oktober zur großen Ausstellung nach München zu schicken. Das also ist es, worüber wir uns beide besprachen. Dass du nun noch dazugekommen bist, Frank, betrachte ich als ein günstiges Zeichen des Himmels».

Fabian wandte den Blick zu der noch feuchten Tonfigur hin. «Der Kettensprenger». rief er aus. «Endlich also bist du soweit».

Wolfgang nickte. «Ja, das ist e», sagte er. «Er soll nun endlich fertig werden. Natürlich wird es noch einige heiße Wochen kosten». «Sie kennen ja Wolfgan», mischte sich Gleichen ein. «Er ist nie zufrieden. Ich behaupte aber, auch nur die kleinste Veränderung wäre ein Verbrechen».

Der Bildhauer lachte. «Am Rücken ist noch manches zu verbesser», widersprach er. «Nun, noch vier Wochen und dann mache ich Schluss. Ich verspreche es Ihnen, Gleichen». Er gab viel auf Gleichens Urteil.

Gleichen war nichts als ein kleiner Schullehrer, aber als Schriftsteller äußerst geachtet. Er schrieb besonders für Kunstzeitschriften.

Fabian kannte den «Kettensprenge». seit langer Zeit. Wolfgang arbeitete seit einem Jahr daran. Monatelang stand er zuweilen, in feuchte Lappen eingehüllt, unbeachtet in einer Ecke des Ateliers. Nun freute es ihn, dass Wolfgang die Arbeit endlich zu Ende gebracht hatte und sie ihm ganz außerordentlich gelungen zu sein schien.

Es war die Gestalt eines zarten Jünglings, der mit verhaltener Kraft und einem unmerklichen Lächeln der trotzigen Lippen die Glieder einer Kette über dem Knie sprengte. Nichts sonst. Die leicht vorgeneigte Haltung des Jünglings, das Aufatmen und Dehnen seiner Brust, die gebundene und unwiderstehliche Ballung seiner Kräfte schienen Fabian vollendet. Wolfgang verabscheute alles Übertriebene, Gewaltmäßige, Brutale, «mit Muskeln macht man keine Plasti», sagte er. Fabian gab seiner Bewunderung Ausdruck. «Herrlich». sagte er.

Erst jetzt aber sah Fabian, dass die Figur einen Sockel bekommen hatte, auf dem die Worte «Lieber tot als Skla». eingegraben waren. «Der Kettensprenger hat ja neuerdings einen Wahlspruch bekommen». sagte er. «Oder habe ich es früher übersehen».

Wolfgang schwieg eine Weile, dann lachte er auf. «Das ist ja die Sache». rief er aus. «Dieser Wahlspruch ist in erster Linie die Ursache, dass ich die Figur ausstellen will, und zwar gerade jetzt. Nicht wahr, Gleichen? Wir sprachen lange darüber».

Lehrer Gleichen nickte. «Es ist ein Protest». erklärte er, und flüchtige rote Flecke erschienen auf seinen fahlen Wangen. «Es ist ein Protest gegen würdelose Unterwürfigkeit». «Wird man den Protest nicht als Provokation empfinden». fragte Fabian.

Wolfgang zuckte die Achseln. «Es fragt sich sehr, ob man den Protest überhaupt als Protest erkennen wird. Wenn man ihn als Provokation empfinden sollte, um so besser. Mir ist alles einerlei. Jedenfalls werden Tausende den Protest sofort verstehen, und damit habe ich meine Absicht erreicht! Und nun wollen wir den Akt vorläufig wieder einhüllen».

Er legte feuchte Tücher um die Figur, dann verhüllte er den Sockel mit dem Spruch.

«Und nun wirst du uns erzählen, Frank, wie es in der Welt aussieh», wandte er sich an den Bruder. «Natürlich wirst du bei mir zum Mittagessen bleiben, das versteht sich von selbst. Gleichen hat schon zugesagt. Es gibt Pfannkuchen, die meine Retta herrlich zuzubereiten versteht. Setzen wir uns an den Tisch am Fenster».

Wolfgang war von einer fast immer gleichmäßigen Heiterkeit erfüllt, der Heiterkeit schöpferischer Menschen. Er war um zwei Jahre älter als sein Bruder, kleiner und stämmiger und hatte kräftigere und derbere Gesichtszüge. Sein Haar machte einen wirren und unordentlichen Eindruck und war schon stark von weißen Fäden durchzogen. Seine hellbraunen Augen waren ebenfalls von Heiterkeit erfüllt, aber sie hatten einen merkwürdigen, geheimnisvollen Ausdruck, den man nicht so rasch ergründen konnte. Im Gegensatz zu seinem Bruder schien er auf sein Äußeres geringen Wert zu legen. Sein heller Arbeitskittel war verknittert, voller Asche und Flecke trockenen Tons. Man sah deutlich, dass er mitten in der Arbeit steckte und Tätigkeit und Gedanken ihn erregt hatten. Er lachte häufig und sprach keineswegs die fließende, korrekte Sprache Fabians.

Lehrer Gleichen war etwas größer als beide, ein Mann mit krausen, fast schon völlig ergrauten Haaren, einem kantigen, zergrübelten Gesicht und düster glimmenden großen Augen. Er war sehr schweigsam, aber sobald er den Mund öffnete, war man aufs neue erstaunt über die Weichheit und Schönheit seiner Sprache.

Wolfgang zündete sich eine neue Virginia an und machte den Bruder auf die Glasur einer Schale aufmerksam, die auf dem Tische stand. «Es ist eine echte Sungschale[28], sieh sie dir aufmerksam an, Frank, ich will das Geheimnis ihrer Glasur ergründen». Sie sprachen über Glasuren und Wolfgangs Brennofen, auf den er besonders stolz war.

Während sie plauderten, trat Wolfgangs Wirtschafterin ein, die Margarete hieß und Retta genannt wurde. Wolfgang war nicht verheiratet. Er war der Ansicht, dass Frauen und Kinder zuviel Unruhe ins Haus brächten und ein Künstler nur seiner Kunst leben sollte. Offenbar schien er sich ziemlich wenig aus Frauen zu machen, und Fabian hatte ihn nur einmal über eine Frau mit uneingeschränktem Lob sprechen hören, es war Frau Beate Lerche-Schellhammer, die sie schon seit ihrer Jugend kannten.

Diese Retta, eine ältliche, Bäuerin von der seltenen Häßlichkeit einer Hexe, trat ins Atelier und ging ohne alle Umstände auf Wolfgang zu. Dabei wurde sie immer kleiner, und ihre hageren Züge sahen unruhig und verstört aus. Es stände ein Auto vor dem Haus von Tierarzt Schubring, sagte sie aufgeregt, das käme ihr nicht geheuer vor. Die Leute deuteten hierher. «Nicht geheuer sieht das Auto aus». fragte Wolfgang und lachte.

Nein, nicht geheuer. Zwei Leute in Uniformen säßen darin, und den Chauffeur, den kenne sie. Es sei der gleiche Chauffeur wie damals, als sie den Pfarrer Rechtling mitnahmen nach seiner Pfingstpredigt. «Die Herren können Sie ja sehe», schloss Retta und schlich an eines der kleinen Bauernfenster, die auf die Straße hinausgingen.

Vor dem Haus des Tierarztes Schubring, der eine der geschmacklosen Villen bewohnte, die Wolfgang auf den Tod hasste, stand ein ganz gewöhnliches, ziemlich großes Auto. Der Chauffeur ging um das Auto herum und schlug das Verdeck hoch. Zwei Herren in brauner Univorm standen bei einem kleinen dicken Herrn in Zivil, dem Tierarzt Schubring. Der kleine Herr schien ihnen etwas zu erklären, wobei er auf das Haus des Bildhauers deutete.

«Sie deuten fortwährend hierher». wiederholte die alte Retta erregt, wobei sie vom Fenster zurücktrat. «Sie wollen gewiss zu Ihnen, Herr Professor».

Der Chauffeur öffnete den Schlag des Autos, und die beiden Herren in braunen Uniformen stiegen ein. «Sie kommen hierher, Herr Professo», wiederholte die Bäuerin in heller Angst. Ihr Gesicht war ganz gelb geworden. «Es war mir gleich nicht geheuer».

«Nun schön, Retta, weshalb die Angst? Sie wollen vielleicht ein Denkmal bei mir bestellen». scherzte Wolfgang.

Da rollte das Auto auch schon vor das Haus und hielt plötzlich an.

Retta zuckte zusammen. «Habe ich es nicht gesagt». flüsterte sie und krümmte sich noch mehr zusammen.

Schon hörte man die Glocke anschlagen. Sie gab nur einen heiseren Laut von sich.

«Gehen Sie hinaus auf die Äcker, Herr Professo», zischelte Retta zitternd. «Ich sage, Sie sind ausgegangen. Sonst haben Sie nichts als Scherereien».

Sie wollte zur Tür, aber Wolfgang hielt sie zurück.

Lehrer Gleichen wandte sich mit besorgter Miene an den Bildhauer: «Sagte ich es Ihnen nicht gleich damals in der „Kugel“? Sie waren zu unvorsichtig. Es sind Leute aus der Heiligengeistgasse, ich kenne sie».

Wieder schlug die Glocke an, der Draht rasselte vernehmlich. Gleich darauf wurde heftig an die Tür geklopft.

Nun wurde auch Fabian von Unruhe ergriffen. «Retta hat recht, gehe hinaus auf die Felder, Wolfgan», sagte er rasch. «Du ersparst dir Unannehmlichkeiten. Ich werde öffnen».

19j-m einen Stuhl vor die Tür setzen – уволить, выгнать
20Lavallierbinde f – шейный платок, повязанный особым образом
21in den sauren Apfel beißen – проглотить горькую пилюлю
22kein gutes Haar an j-m lassen – разобрать кого-л. по косточкам, зло сплетничать
23Freimaurer – масоны, вольные каменщики, религиозноэтическое движение
24j-m einen Maulkorb anlegen – (перен.) заставить кого-л. замолчать
25Pfennigsucher m – скряга, скупердяй
26Eiserner Erster – das Eiserne Kreuz – прусский военный орден первой степени
27Virginia – сорт сигар
28Sungschale f – чаша или блюдо династии Сун, правившей в Китае в IХ-ХIII вв.