Immer über die Kimm

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„Fakt ist, dass du aus dem Internat geworfen wurdest. Wir müssen jetzt überlegen, wie es mit dir weitergehen soll.“ Er setzte das Bierglas bedächtig auf die Tischplatte und starrte Bernd durchdringend an.

„Er kann hier aber nicht bleiben.“ Sagte Bernds Tante Stiefmutter hilfreich und sah ihren Ehemann besorgt an. „Wir müssen einen Weg finden, dir deine Zukunft zu ebnen.“ „Hier kann er nicht bleiben,“ bekräftigte Annemarie entschlossen. „Hier kannst du nicht bleiben.“ Sagte sein Vater überflüssigerweise, denn Bernd hatte bereits verstanden, dass er hier nicht bleiben konnte. „Ja,“ sagte Bernd. „Wir müssen jetzt einen Weg finden. Was stellst du dir vor, würdest du gern werden?“ „Ich weiß nicht.“ „Du kannst nicht hierbleiben,“sagte Annemarie bestimmt. Ich will nicht hierbleiben, dachte Bernd entschlossen. „Du hast keinen Schulabschluß,“ sinnierte sein Vater. „Ich weiß,“ sagte Bernd „Ich verbitte mir deinen Zynismus. Dies ist eine ernsthafte Unterhaltung. Ich will wissen, was du werden willst.“ „Seeman?“ Fragte Bernd unsicher. „Prima. Das ist ein schöner Beruf,“ meinte sein Vater erfreut und erleichtert. „Ich will ihn hier aber nicht haben,“ Tante Annemarie war ganz versessen, Bernd umgehend loszuwerden. „Wenn er Seemann wird,“ sagte sein Vater gereizt an die Adresse seiner Ehefrau, „dann kann er eh nicht hier bleiben. Dann fährt er zur See. Auf einem Schiff. Wir haben hier kein Schiff.“

Was die Seefahrt betraf, war Bernd vorbelastet. Zweimal war er dem Tod durch Ertrinken nahe gekommen. Einmal war er während eines Enterversuches am Ende eines Taues über Bord des gestohlenen Ruderbootes grad an der tiefsten Stelle der Krückau gegangen und durch die vereinten Kräften der anderen Steppkes wieder über die Wasseroberfläche gezogen worden, nachdem seine Lederhose sich vollgesogen hatte. Ein anderes Mal hatte der Sohn der Freundin seiner Mutter, der ihn im Alter weit übertraf, vergeblich versucht, ihn am Badestrand der Krückau zu ertränken, was seine und Bernds Mutter schließlich zu verhindern vermochten, worauf ihm nahe gelegt wurde, dass man so etwas nicht machen dürfe. Andererseits wusste Bernd aber nicht, ob man auf See mehr kotzen müsste als in einem Auto oder in einem Zug. Und so stimmte er zwar nicht freudig, aber bestimmt, der Idee zu und begann Seemann zu werden.

Sein Vater bemühte sich schon am folgenden Tag, fleißig Informationen zu sammeln und kam bald zu der ernüchternden Erkenntnis, dass die Ergreifung des Seefahrtberufes umständlicher war, als in der Euphorie des ersten Gedankens hatte vermutet werden können. „Unerläßlich ist eine strotzende Gesundheit,“ sagte er, “die hast du wohl. Auch weit sehen musst du können. Hast du Probleme mit dem Sehen? Weitere Voraussetzungen sind die Fähigkeiten Lesen, Schreiben, Hören.“ „Das kann er nicht. Er hört nie, wenn ich ihm etwas sage.“ „Du kannst doch sehen?,“ Bernds Vater starrte ihn scharf an, so als ob er sich vergewissern wollte, dass Bernd Augen im Gesicht hatte, wie jedermann sonst. „Alles muß vom Amtsarzt bestätigt werden. Du brauchst einen Reisepaß. Ich werde die Termine in München machen. Damit das vorangeht. Und du die Welt sehen kannst.“

Aber voran ging es auch bei bestem Willen nicht. Bernd war jetzt endlich fünfzehn Jahre alt, und damit qualifiziert, die Seemannslaufbahn zu beginnen, aber die Untersuchungen und die Einrichtung der Termine zu den Untersuchungen würden sechs Monate in Anspruch nehmen. Mindestens. Also wurde im Familienrat beschlossen, ihm eine sinnvolle Beschäftigung zuzuweisen, damit er nicht herumlungern und seine Tante Annemarie nerven musste. Gleichwohl kam einer sinnvollen Beschäftigung der wohlverdiente Urlaub des Vaters in die Quere, der an den sonnigen Gestaden in Griechenland abgehalten werden sollte, wohin man mit dem Auto fahren würde und Bernd praktischerweise mitnahm, damit er nicht allein in der Wohnung verbleiben musste, wo er möglicherweise, da keine Kontrolle ausgeübt werden konnte, Unsinn zu betreiben in der Lage wäre. In Kuchl am Hohen Göll lud man ihn bei einem Bauern ab, den man von vorherigen Besuchen gut kannte und der versprach, Bernd sinnvoll mit Arbeit für die Dauer von drei Wochen zu versorgen und ihn bei der Ernte einzusetzen beabsichtigte, so man sich finanziell einig werden würde, was spontan erfolgte. Während Vater und Stiefmutter sich am Strand im fernen Griechenland sonnten, begann Bernd Gras mit einer Sense zu mähen und Gras mit einer Karre zu den Kühen zu schieben. Dann wurde auf großer Fläche Heu gemacht und Bernd wurde zum ersten Mal in seinem Leben richtig besoffen, da er viel von dem frischen Most trank, der frei auf der Wiese feilgeboten wurde und zu aller Belustigung über die Halme zu stolpern begann. Die Bauerstochter war eine dralle Person, die er gerne ficken wollte und die ihn neckte und auf den Heuschober lockte und sich gerne ficken lassen würde. Jedoch war Bernd die Technik, obwohl er von ihr gehört hatte, weitgehend fremd und die Annäherungsversuche verliefen möglicherweise tollpatschig und in jedem Falle ergebnislos. „Ihr Sohn hat meine Tochter sexuell belästigt.“ Sagte der Bauer laut zu seinem Vater, als sie alle vor dem Auto standen, die Rückreise anzutreten. „So?“ Sagte sein Vater und stieg ein. „Er ist zu nichts nütze,“ bekräftigte die Stiefmutter auf dem Beifahrersitz und stieg aus, den Sitz zurückzuklappen, damit Bernd hinten Platz nehmen konnte, wo eine Plastiktüte für alle Fälle bereitgelegt worden war. „Ich hoffe, du hast sie nicht geschwängert,“ sagte Bernds Vater während der Fahrt und Bernd überlegte, was er möglicherweise alles falsch gemacht haben konnte. Und was noch verbesserungswürdig zu sein hatte.

Bernd wurde Schlosser. Ein oder zweimal die Woche fuhr er mit dem geliehenen Fahrrad der Tante nach Fürstenfeldbruck und besuchte die Berufsschule, in der er mit seinem Norddeutschen Akzent als Saupreuße auffiel; die anderen Werktage verbrachte er in der Schlosserei und lernte, wie man die große Trennscheibe richtig hielt, nachdem er beim ersten Versuch in die Scheibe gegriffen und beinahe einen seiner Zeigefinger verloren hatte. Bernd verdiente eigenes Geld und begann Überstunden zu machen, was ihm verboten wurde, da er nicht aus armer Familie stammte. An den Wochenenden radelte er in den Wald und streifte umher. Die Versuche bei dem Amtsarzt in München verliefen zufriedenstellend. Die Versuche in der Augenklinik ebenfalls, obwohl der Augenamtsarzt die konkreten Ergebnisse bezweifelte, mit der Bemerkung, dass Bernd keinesfalls so gut sehen würde können, als die Geräte anzeigten. Der Termin zur Aufnahme in der Seemannsschule Bremervörde rückte näher und dann fuhr sein Vater ihn mit dem VW und in Begleitung seiner Stiefmutter, die sichergehen wollte, ihn mit eigenen Augen abreisen zu sehen, zum Münchener Hauptbahnhof, wo Bernd in den Zug nach Bremen stieg. „Laß es dir gut gehen. Sieh dir die Welt an. Komm nicht wieder ohne saubere Kleidung.“ Sagte er und schüttelte Bernd bewegt die Hand. Die behütete Kindheit hatte nunmehr ein definitives Ende genommen.

In Bremervörde fand Bernd rasch den Weg zu der Seemannsschule, die jedermann kannte und die mit ihrem Wahrzeichen, einem hohen Mast mit Wanten, weit sichtbar war. Er wurde in einem Schlafsaal einquartiert und reihte sich in eine Schar von wohl etwa neunzig Jungen ein, die alle herbeigeeilt waren, das Handwerk des Seefahrers zu erlernen und es als Moses zu beginnen. Es herrschte strikte Disziplin und die ersten sechs Wochen Ausgangssperre. Sie wurden in drei Wachen eingeteilt und von dem wachhabenden Bootsmann umhergescheucht. Bernd gehörte der Mittelwache an. Sie lernten den Kompaß auswendig. Vorwärts und rückwärts. Man musste den Kompaß kennen, damit man wusste, wohin man sich bewegte. Sie erlernten morsen, winken mit Flaggen, die Seestraßenordnung, Knoten, Spleißen, Feuerbekämpfung und Feuerverhinderung, Kuttersegeln und pullen auf der Oste bis Eingang Elbe, Segelnähen, wriggen, Seesackpacken, Marmeladenbrote für Alle schmieren, Kartoffelschälen, in Reih und Glied antreten, Jawoll vernehmbar brüllen, Wache stehen, scheuern und putzen, die Kleidung waschen und pflegen, sie wurden eingekleidet mit Pudelmütze, Latznietenhose und Khakihemd und hatten, als sie im zweiten Monat Landgang bekamen, großen Schlag bei den Mädchen in den Tanzdielen der Stadt, die sie nur nüchtern zu verlassen hatten, nüchtern verlassen mussten, da das Taschengeld knapp bemessen wurde und die sie pünktlich zu verlassen hatten, da um zweiundzwanzig Uhr antreten auf dem langen Flur und Meldung befohlen worden war. Nur am Sonnabend und nur nach fehlerfreier Weiterzählung einer von dem wachhabenden Bootsmann willkürlich genannten Stellung der Kompassrose, zu welcher Prozedur sich alle Landgänger auf dem Flur nach dem Abendessen um achtzehn Uhr in Reihe aufzustellen hatten, wurde der Landgang auch tatsächlich erlaubt.

Nach Erwerb des Kutter-, Feuer- und Rettungsscheins, sowie des Erste Hilfe Kurses, waren drei Monate vergangen und die Schlußprüfung stand bevor, die mit einer Mutprobe verbunden war und dem Nachweis der Fähigkeit, in großer Höhe unbeschwert zu arbeiten in der Lage zu sein, diente. Der große Mast, vor dem alle nach der theoretischen und der praktischen Prüfung in Reihe antraten, war über die Wanten auf der Backbordseite zu ersteigen und nach Querung der Saling in etwa fünfundzwanzig Meter Höhe, bei der es keinen Halt gab, auf der Steuerbordseite abzuentern. Diese Prüfung war obligatorisch und an ihr scheiterten nach Bernds Erinnerung vier oder fünf Leute, die die Heimfahrt antraten und sich auf einen weniger fordernden Beruf vorzubereiten begannen. Bernd hatte die Schlußprüfung bestanden und verweilte ein paar Tage müßig in der Schule, um dann zusammen mit einem Kameraden einen Dampfer zugewiesen zu bekommen, der in Hamburg in einem Trockendock liegen sollte und bei dessem wachhabendem Offizier beide sich umgehend zum Dienstantritt als Decksjungen zu melden hatten. Ohne Verzug und auf dem direkten Weg; wie der Bootsmann betonte, bevor er ihnen die Hände schüttelte und alles Gute wünschte. Das Berufsleben hatte begonnen.

 

Kapitel II
ENDLOSE WEITEN

An den Landungsbrücken in Hamburg Sankt Pauli angekommen, bestiegen beide, Tom Have, sein Kamerad aus der Schule und Bernd, mit ihren standesgemäßen Seesäcken, die von der Schule zugeteilt worden waren, auf der Schulter, eine Barkasse, die sie um etliche Docks herum zu einer Werft tuckerte, in deren Trockendock ihr Frachter liegen sollte und den sie alsbald als steil aufragenden, verrosteten Kasten in gewaltiger Größe und Höhe vorfanden. Ein steiles Fallreep mit unendlichen Stufen führte an Deck, wo sie niemanden vorfanden und zunächst ratlos umherstanden. Niemand war zu sehen und das ganze Deck war zugestellt und übersät mit Gerätschaften, Materialien, Schläuchen und Maschinen der Werftarbeiter, die wohl gerade Pause machten, oder deren Schicht beendet war. In einer Kammer mittschiffs, an deren Tür sie anhaltend pochten, riet ihnen ein Mann, den wachhabenden Offizier, der unter Umständen auf der Brücke zu finden sein würde, aufzusuchen und um Rat zu fragen.

„Kommt ihr von der Seemannsschule?“ Fragte dieser, als er oben auf der Brücke in dem Kartenraum, einen Schmöker lesend, vorgefunden wurde. „Wir haben euch schon erwartet. Geht nach achtern und meldet euch bei der Deckmannschaft. Die werden jetzt in der Messe hocken. Die weisen euch eine Koje zu und teilen euch ein. Ihr wisst doch wo achtern ist? Das ist der Aufbau am Arsch des Schlurrens. Da hinten.“ Er zeigte, wo dahinten wäre.

„Noch so ein Arschloch,“ bemerkte Tom Have leise, als sie mit Ihren Seesäcken die Niedergänge hinabstiegen, um einen Weg über das Gerümpel auf dem Hauptdeck zu finden, das Achterschiff zu erreichen.

„So verrottet hab ich noch nie ein Schiff gesehen. Hoffentlich schwimmt der Kasten auch.“ Tom mußte es wissen. Er wohnte am Elbufer und hatte viele Schiffe gesehen.

Achtern fanden sie einen kleinen Aufbau und ein Schott, das auf einen dunklen Gang führte, hinter dessen erster Tür Stimmengewirr zu vernehmen war. Sie klopften laut, dass man hören möge und öffneten die Tür, um in einen verqualmten Raum zu starren, in dem sich allmählich viele Personen zu materialisieren begannen, die um zwei lange Tische, Backen genannt, auf parallelen Bänken saßen und Wolken von Tabaksrauch ausstießen, die sich durch die nun geöffnete Tür zu lichten begannen. Alle verstummten und musterten sie misstrauisch und erwartungsvoll.

„Zwei Deckjungen vom Heuerstall zur Anmusterung.“ Sagte Bernd laut. “Jemand zuständig?“ Aber keiner fühlte sich zuständig. „Bernd Meyer und Tom Have. Jemand soll hier sein und uns einweisen. Sagt der Wachhabende auf der Brücke.“

„Fritz,“ sagte ein älterer Mann,“ erheb dich und zeig denen die beiden leeren Kojen. Sie sollen sich umziehen und unten den Gang saubermachen.“

Fritz erhob sich, kam durch die Tür und bedeutete Tom und Bernd, ihm nach unten in das nächste Deck zu folgen, riß eine Kammertür auf und sagte, „einer hier,“ riß an einer weiteren Tür und sagte, „und einer hier. Ihr habts gehört. Was der Bootsmann gesagt hat. Zieht euch um und macht den Gang hier sauber. Wischen und so. Sucht euch Werkzeug. Liegt hier irgendwo rum. Und schmeißt den Dreck nicht über Bord, die Werftarbeiter mögen das nicht. Wenn es ihnen auf den Kopf regnet. Schmeißt den Dreck an Deck. Dann könnt ihr den Dreck über Bord schmeißen wenn wir auf See sind.“ Er ging und rief zum Abschied, „und beeilt euch. wir haben noch mehr Arbeit.“

„Noch so ein Arschloch,“ sagte Tom Have verhalten und blickte sich in dem dunklen Gang um. „Wie eine Rumpelkammer. Schutt, Schrott und Sperrmüll. Gib acht, dass du nicht kleben bleibst.“

Bernds Kammer war die exakte Kopie der Kammer Toms und des Ganges. Fetzen einer alten Tapete hingen von den Wänden. Der Boden war kniehoch bedeckt mit Papier, Pappe, leeren Bierflaschen und alten Klamotten, sowie mit aufgeschlitzten Matratzenteilen. Von der Decke perlte die abgeplatzte Farbe in großen Placken. Sie fanden in dem Müll auf dem Gang brauchbare Werkzeuge und Eimer und machten sich, wie befohlen, unverzüglich an die Arbeit, die sich endlos bis in die Nacht erstreckte. Schließlich war das Werk vollbracht. Der Gang und beide Kammern waren sauber und sie waren beide ziemlich fertig, als sie in die Kojen krochen, wo Bernd von seiner Kojenlampe einen elektrischen Schlag bekam, dass ihm die Haare zuberge standen. Die Sache mit der Seefahrt fing gut an und Tom meinte laut, “ich muß mir das noch überlegen. So hab ich mir das alles nicht vorgestellt. Ich werde mir das noch überlegen.“

Am folgenden Tag wurde Bernd zum Messedienst eingeteilt und machte somit Backschaft. Geschirr war zu spülen, Nahrung von Mittschiffs, wo die Kombüse von einem ebenso wortkargem, wie grimmigem Koch betrieben wurde, zu holen. Kaffee musste gebrüht und bereitgestellt werden. Die Backen und der Fußboden waren zu wischen, die Kakerlaken, die die Brotlaibe in den großen Brotkästen an der einen Wand belagerten, mussten verscheucht werden, um an das Brot zu gelangen, das in Scheiben feilzubieten war. In der Messe hielten sich nur relativ wenige Kakerlaken auf, da sie dort nicht sehr viel Ruhe genießen konnten. Dagegen waren sie unten im Wohndeck, dem Flur, zahlreich und verschwanden rasch hinter den Heizungsrohren, die als Fußleisten überall verliefen. Die Masse aber wohnte in den Kammern und insbesondere in Bernds Bett, aus dem sie an und in die Wände und die Decke flüchteten, sobald er sich hinlegte und nach einer Weile zurückkamen, über ihm und seiner requirierten Wolldecke, die vor Dreck starrte und sich kaum noch falten ließ, auszuschwärmen.

„Das macht nichts,“ sagte Dieter, der Leichtmatrose, der in der Koje unter Bernd schlief. „Das hält warm. Wenn wir in die Arktis fahren, wollen wir die Kakerlaken nicht missen.“

Dieter, Bernds Kammerkamerad, war sein Vorgesetzter. Alle Matrosen waren auch seine Vorgesetzten. Selbst der Jungmann, der bereits die zweite Stufe der Karriere des Deckdienstes erklommen hatte und somit ein Jahr lang zur See fuhr, war ein Vorgesetzter. Sie begannen Freude zu entwickeln, ihn und Tom Have, der an Deck eingesetzt wurde, Schutt und Müll umherzuschaufeln, zu scheuchen, wo immer sie ihrer ansichtig wurden.

„Ich muß mir das noch überlegen,“ sagte Tom Have. „Gibt ruhigere Berufe an Land.“

„In zwei Tagen docken wir aus,“ brüllte der Bootsmann in die Messe.“ Bis dahin muß das alles hier blitz und blank sein. Such dir einen Feudel.“ „Ich bin jetzt auf einem Schiff,“ sagte Bernd durch das Telefon, das er auf dem Werftgelände gefunden hatte, als der Bootsmann ihm eine Freistunde genehmigte, “in zwei Tagen laufen wir aus.“

“Das ist schön,“ sagte Bernds Mutter, „dann wirst du viel von der Welt sehen.“

„So ein Scheiß auch,“ fluchte Harry, “ich bin Zuhälter. Ich bin Wiener. Aber Zuhälter bin ich auf der Reeperbahn. Ich bin Zuhälter und habe zwei Ponnys laufen. Zwei junge Pferde. Die wird jetzt jemand anders reiten. So ein Scheiß auch. Ich bin auf der Flucht. Ich muß Hamburg verlassen. Ich muß Deutschland verlassen. Man will mich in den Knast sperren. Weil ich so einen verdammten Zuhälter in das städtische Krankenhaus geprügelt habe. Grad jetzt, wo es mir so gut geht.“ Er schlürfte den Kaffee, den Bernd ihm ausgegeben hatte, als er die Messe betrat und fragte, wo er sein Köfferchen hinstellen sollte. Harry hatte als Maschinenjunge über den Heuerstall angemustert und befand sich auf der Flucht vor den Häschern des Gesetzes, die ihm auf den Fersen waren, um ihn anderthalb Jahre in Santa Fu einzukerkern. Harry begann in der Heizermesse am Ende des Ganges zu leben und wurde dort als Messejunge eingeteilt.

„Noch so ein Arschloch,“ moserte Tom, als es ihm gelang, sich für eine Zigarette von Deck in die Messe zu stehlen. “Du hast hier einen guten Job.“ „Ich habe hier einen Scheißjob. Ich soll zusätzlich zu diesem Mist auch noch die Kammern der Decksmannschaft säubern.“

„Einer wird es machen müssen. Morgen laufen wir aus. Der Bootsmann sagt, wir fahren erst mal nach Kiel. Ich war noch nie in Kiel.“

„Du warst noch nie aus deinem Kaff irgendwo an der Elbe.“

„Meyer,“ brüllte ein Matrose und streckte den Kopf durch das Messeschott, “Heißt jemand hier Meyer? Haben wir einen Meyer?“

„Ich heiße Meyer,“ sagte Bernd überrascht.

„Wirklich? Hast du Eltern? Da stehen zwei Leutchen unten im Dock und wollen Meyer sehen. Was es so alles gibt. Melde dich beim Bootsmann ab, wenn du abentern willst. Sonst tritt er dir in den Arsch wenn du wieder aufgeentert bist.“

Mami und Stiefvater Paul standen als kleine Figuren ganz unten auf dem Deck des Schwimmdocks und ruderten wild mit den Armen als Bernd sich über die Reling beugte und sie seiner gewahr wurden. Oder seiner gewahr zu werden glaubten.

„Das ist ein riesiges Schiff,“ sagte Paul anerkennend,“ etwas verrostet.“

„Das ist alles Rost, Paul.“

„Mein Sohn fährt zur See,“ sagte Mami bewegt. „Ein tolles Schiff.“ „Sieh dir die Welt an.“

„Wie gern würde ich mitfahren.“

„Wir laufen morgen aus. Nach Kiel.“

„Nach Kiel. Wie gern würde ich mitfahren.“

„Ich muß jetzt gehen. Wir haben Kaffezeit. Die Leute wollen heißen Kaffee.“ „Laß es dir gut gehen. Und schreibe mal. Sieh dir die Welt an.“

Es wurden die Hände geschüttelt und sie winkten immer noch, als Bernd hoch oben wieder an Deck stand. Es war ein Abschied für zwölf anstehende Jahre.

Das Schiff dockte aus und wurde von einem Schlepper im Hafenbecken gedreht. Dann nahm es mit eigener Kraft Fahrt auf und dampfte langsam die Elbe flussabwärts.

Die Solveig war ein Motorschiff mit 5 859 Bruttoregistertonnen. Ein Frachter mit 5 Luken, 2 Masten und 10 Pfahlmasten. Er sollte 10 Knoten laufen können und wurde von 44 Mann Besatzung bedient. Neben Deck- und Maschinenpersonal führte es einen Funker, einen Zimmermann und einen Elektriker an Bord, der sich aber nicht um Bernds schadhafte Kojenlampe kümmern wollte. Das Schiff wurde von der Reederei Rickmersen im Stückgut und Trampverkehr eingesetzt.

Brunsbüttelkoog wurde erreicht. Die Solveig drehte an Steuerbord in den Kaiser Wilhelm Kanal ein. Morgens, am folgenden Tag, als Bernd von der Wache geweckt wurde, den Dienst in der Messe anzutreten, schwoite der Dampfer in kräftiger Dünung vor Anker in der Kieler Förde. Eine Stunde später traf Bernd auf Tom an der Reling Steuerbordseite und leistete ihm beim Kotzen Gesellschaft. Harry hatte es arger erwischt. Aus seiner Heizermesse war er an die Luvreling auf Backbordseite gerannt und hatte gegen den starken Wind gekotzt.

„Unglaublich,“ keuchte er in einer Würgepause, “die ganzen Fressalien standen waagerecht in der Luft. Dann kam das plötzlich alles zurück. Alles. Ich muß duschen gehen.“

Er stellte sich mit seinen Arbeitsklamotten unter die Dusche. Tom verschwand mit dem Kopf in der Toilette. Ein Leicht- und ein Vollmatrose halfen ihm dabei, während der Leichtmatrose zusätzlich die Wasserspülung bediente. „Das wird ihn erfrischen und ihm die Gesichtsfarbe zurückgeben,“ grinste er.

Ein anderer Matrose setzte sich in die Messe und zündete sich eine an. „Du musst dir Speck aus der Kombüse besorgen,“ sagte er geläufig und grinste. “Dann machst du einen Faden dran und schluckst das runter. Nicht ganz. Nur bis unterhalb der Klappe. Dann ziehst du an dem Faden und verschließt die Klappe. Dann brauchst du nicht mehr kotzen, weil du nicht mehr kotzen kannst, weil die Klappe zu ist.“

Bernd ließ das und begann erneut zu kotzen. Mit schneeweißen Knöcheln an beiden Händen an die Reling geklammert, würgte er blaue Galle heraus und fror dabei gottserbärmlich. Übelkeit im Auto und Zug kannte er zur Genüge. Das hier war etwas grundsätzlich anderes. Das hier war das Ende.

„Mach Kaffee,“ brüllte der Bootsmann, als er vorbeikam, „und hol den Slosch den der Smutje heute zusammengerührt hat. Es wird Mittag. Und sammel die Kakerlaken von den Deckenbalken. Ich mag das nicht, wenn sie mir in die dampfende Suppe fallen.“

„Und hol den Speck,“ grinste der Matrose Björn, als er hinter dem Bootsmann daherkam. „Den Speck. Vergiß den Speck nicht.“

„Speck,“ rief Bernd grinsend in Harrys Messe, als er wieder reden konnte, “Speck.“ Wie ein Blitz kam Harry herausgeschossen und rannte den Gang entlang die Reling zu erreichen.

„Vergiß den Speck nicht,“ brüllte Bernd hinterher und horchte auf das bereits im Gang einsetzende Würgen.

Speck war das Zauberwort, das aus den drei Neuen im Moment würgende Kreaturen mit dem Wunsch nach Totsein machte. Sie mussten nur an Speck denken, schon kam alles hoch was nicht mehr da sein konnte.

 

In der Nacht lichteten sie Anker und fuhren in die raue See hinaus. Es wurde alles noch schlechter. Die Ostsee kochte und der Dampfer, der ohne Ballast fuhr, stampfte und kränkte von einer Seite zur anderen. Harry war fertig und hatte sich in seine Koje verkrochen. Die Heizer und Öler mussten sich ihren Fraß persönlich von Mittschiffs holen und fluchten wild. Tom kauerte außer Sicht hinter einem Lukensüll und pumpte gierig frische Seeluft in die Lungen. Das half etwas. Wenn man dabei leicht stöhnte. Bernd schleppte das Essen heran und kochte den Kaffee und klammerte sich an die Reling, bis zwei Matrosen ihn ergriffen und in dem Scheißhaus ausgiebig erfrischten. Das half auch etwas. Als Bernd am folgenden Morgen frühzeitig durch Knirsch- und Knackgeräusche erwachte, lag der Dampfer still. Vor Gotland lagen sie im Eis fest und warteten auf den Eisbrecher, der Mittags kam und eine Rinne in eine große Bucht, die ringsum von dichtem Tannenwald eingeschlossen war, brach. Das Kaff, von dem ein paar Häuser zu sehen waren hieß Slite. Hier luden sie an der Pier Portland Zement in Säcken und fuhren drei Tage später hinaus auf die glatte Ostsee.

Es ging bei ruhiger See durch den großen Belt nach Norden. Im Kattegatt war es ruhig, aber im Skagerak, in dem Bernds Opa väterlicher Seite mit dem kleinen Kreuzer Frauenlob im 1. Weltkrieg versunken war und vielleicht noch irgendwo am Grund schwappte, sollte es stürmisch sein, wie der Funker verbreitete und die wachfreie Deckmannschaft begann, alles zu laschen.

„Mach das hier alles seefest,“ sagte der Bootsmann zu Bernd, “soll kräftig wehen. Kaputtes Geschirr wollen wir nicht haben. Mach deinen Laden hier seefest. Und sammel die Kakerlaken von den Deckenträgern. Ich will das nicht haben, wenn sie mir in die Suppe fallen. Wenn ich einlöffel. Ich hab dir das schon mal gesagt. Ich sag dir das andauernd.“

„Ich hab sie auch alle eingesammelt und unten im Gang ausgesetzt. Es kommen aber immer neue.“

„Ja, die vermehren sich rasch. Sammel halt öfter. Und setz sie mittschiffs aus. Dann haben die Offiziere auch was davon. Wir fahren nach Persischer Golf. Da ist es warm. Vielleicht gehen sie dann an Land. Gut daß wir keine mexikanischen Kakerlaken haben. Die sind fünfmal so groß. Wenn die mir in die Suppe fallen spritzt das alles über meine Kleider. Gut dass wir keine mexikanischen Kakerlaken haben. Mach das hier mal alles richtig sauber.“

„Das ist hier alles richtig sauber.“

„So? Na gut, mag sein. Ich muß gehen, die Leute zur Arbeit anregen. Ich kann nicht den ganzen Tag mit Klönen vergeuden. Hör auf zu fressen bevor wir im Skagerak sind. Hör halt nicht zu, wenn der Björn mit seiner Speckscheiße kommt. So ein Theater wie vor ein paar Tagen wollen wir nicht. Kotz auf Vorrat. In deiner Freiwache. Sag das dem anderen Moses. Wie immer der heißt.“

Im Skagerak ging es heftig zur Sache. Eine steife Briese blies aus Nordwest und die See schwappte über das vordere Deck. Die Decksjungen wechselten sich beim Kotzen ab und Harry verschwand wieder in seiner Koje und drohte jedem, der ihm auch nur nahe kommen sollte, Prügel an, sobald er sich erholt haben würde.

Über die Nordsee und durch den Ärmelkanal wurde die Biskaya erreicht, die sich ruhig verhielt, was ungewöhnlich war und alsbald stampfte der Dampfer in Sichtweite von Kap Finisterre an der portugiesischen Küste entlang nach Süden, um durch Gibraltar und das westliche Mittelmeer die algerische Küste und Algier zu erreichen, wo gebunkert werden mußte.

Mit frischem Brennstoff ging es gemächlich weiter nach Port Said, wo im Hafen beide Anker geworfen und dann mit Leinen das Heck des Schiffes an die Pier verholt wurde. Es dauerte nicht lange und Ferdinand aus Berlin, wie sich der Ägypter nannte, kam mit großem Hofgefolge an Bord. Ferdinand war der reichste Händler in diesen Breiten und wurde nicht müde, auf diesen Umstand beharrlich hinzuweisen. Tom Have war für diese Woche in den Messedienst eingeteilt worden und Bernd arbeitete an Deck, wo es jedoch nichts zu tun gab, außer das bunte Treiben rundherum zu beobachten und an der Reling zu lungern. Schon beim Einlaufen wurde der Dampfer von Dutzenden, bunt bemalten Holzbooten umringt, in denen jedermann saß und frenetisch winkte, der irgend etwas zu verkaufen hatte oder glaubte, irgendetwas zum Verhökern zu haben. Oder hoffte, etwas stehlen zu können. Über Leinen mit angeknoteten Bastkörben tauschte die Mannschaft an der Reling gegen Zigaretten allen nur erdenklichen Kram ein. Es gab bunte Tücher mit ägyptischen Schriftzeichen, Stoffkamele in allen Größenlagen, ausgestopfte Alligatoren in kleineren Ausführungen, Sitzkissen, lederne Handtaschen, Beutel für Gott weiß was, Brieftaschen mit Stickmustern, Obst, Schnitzereien, Textilien. Als Tauschgut dienten außer Zigaretten und englischen Pfunden auch alte Klamotten, defekte Uhren und Schuhe, wie auch Leinen, Wurfleinen und dergleichen, die gestohlen und heimlich über Bord geworfen werden mussten. Hier ging Bernds Heuer von monatlich sechzig Mark, 3 englische Pfunde, restlos für Unterhemden und ein wenig Ausstattung für die Kammer drauf.

Nachmittags zogen sie sich an den beiden Ankern in das Hafenbecken und reihten sich in einen Konvoi ein, der den Kanal ansteuerte und nach Port Suez zu laufen begann. Fünf, sechs Boote der Händler hatten sie mit dem Ladegeschirr an Bord gehievt und nahmen sie nach Süden mit, um sie am anderen Ende wieder auszusetzen. Das Gefeilsche ging an Deck munter weiter und begann die Arbeit zu behindern und allen auf den Wecker zu fallen. Besondere Aufmerksamkeit hatte Händlern gewidmet zu werden, die Affen mit sich führten. Übermittelt war, dass diese dressierten Affen über die Reling offene Bullaugen ansonsten verschlossener Kammern erreichten und diese leer räumten, indem sie das lose Inventar in an der Bordwand liegende Boote, oder bei Fahrt, in Bastkörbe warfen. Lustig und bunt, suchte doch jeder seinen persönlichen Vorteil und betrog alle anderen. Bernd besaß eine Uhr, von der er sich nur schwer trennen wollte, gleichwohl sie nicht lief und Zeiger und Glas mit UHU angeklebt waren, was weiter nicht auffiel, wenn man sie am Handgelenk zur Schau trug. Diese Uhr konnte er gegen eine billigere Uhr eintauschen, die, gleichwohl nicht so hübsch, so doch offenbar lief. Jedenfalls wurde er mit einem der Ägypter rasch einig und sie trennten sich in dem Bewusstsein, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Aber am späten Nachmittag lauerte ihm die Verwandtschaft auf der Poop hinter dem Decksaufbau zahlreich auf und verfolgte Bernd über das Deckshaus und zweimal drum herum, bevor sie ihn täuschten und er in die aufgestellte Falle geriet, in der er seine Neuerwerbung sogleich wieder einbüsste.

Zu Einbruch der Dämmerung am gleichen Tage rasselte plötzlich der Maschinentelegraph und die Schraube begann schäumend rückwärts zu drehen. Der voraus laufende englische Flugzeugträger war auf Grund geraten und verstopfte den Kanal. Jedoch hielt die Verstopfung nicht lange vor, denn aus der Weiche, die vor ihnen lag, preschten zwei starke Schlepper hervor und zerrten ihn wieder in die Fahrrinne zurück. Der Konvoi nahm Fahrt auf und kroch dem Bittersee entgegen, wo Anker geworfen wurde, den Gegenverkehr passieren zu lassen und alle Gelegenheit erhielten, sich von Deck in die außerordentlich salzigen Fluten zu stürzen, denn es war unerträglich heiß. Am folgenden Tag bereits wurde Port Suez passiert, die Händlerboote und der Lotse bei Fahrt aussenbords gesetzt und in das Rote Meer vorgestossen, das seltsam und faszinierend erscheint. Rote, schroffe Felsen, unterbrochen von gelber Wüste, kein Leben, kein Rauch. Nichts. Im südlichen Teil der langgestreckten See liegen ein paar Inseln aus aufgetürmten Felsen zwischen denen riesige Wasserschildkröten an der Bordwand entlangtreibend, beobachtet werden konnten. Auch kleine Wale machten sich von Zeit zu Zeit durch Zeigen der Buckel und Abblasen der Luft bemerkbar. Ebenso konnten mühelos Haie erspäht werden.