Collapse

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Sein Ziel einer sanften Erdlandung schien für ihn jedoch noch in unerreichbarer Ferne. Lautlos stieß er sich ab und glitt Zentimeter für Zentimeter über die Schwelle seines Sitzes hinaus in die Schwärze des allumfassenden Vakuums. Sekundenlang fühlte er Zufriedenheit, als fände er zwischen zwei Welten durch ein nicht näher zu erklärendes Gleichgewicht einen schwebenden Ausgleich. Tief atmete er durch seinen Helm das vorbereitete Luftgemisch ein. Das All vermittelte ihm ein Gefühl von absoluter Ruhe und Entspannung, wie in grenzenloser Macht über den Dingen zu schweben, um doch auch im selben Augenblick jene unendliche Hilflosigkeit zu fühlen, die das Wissen um die lebensfeindliche Umgebung in ihm erweckte.

Jetzt belächelte er seine Vorstellung eines mehr oder weniger gigantischen Fallschirmsprungs. Es war anders, majestätischer und glückserfüllender, als er es sich je hätte ausmalen können.

Ohne die Verbindung einer rettenden Leine, die ihn bei einer Fehlfunktion seines Anzuges wieder in die schützende Umgebung der Kapsel hätte bringen können, ließ er sich durch den Schwung des Absprungs zur Erde hin in waagerechter Position hinaustragen.

Sparks vollführte eine Rolle vorwärts, ein sanftes Drehen in Zeitlupe um die eigene Achse und richtete sich dann mit Hilfe der Instrumente in eine Schräglage zur Erde aus. Die Positionskorrektur erfolgte über Pressluftdüsen, die den jeweiligen Neigungswinkel zur Erde ausbalancierten.

Die Anziehungskraft war in dieser Höhe nicht zu spüren, aber dem Erdball, der sich ihm so majestätisch präsentierte, würde sich der Student bald mit einer Geschwindigkeit nähern, die kein Mensch vor ihm je erreicht hatte.

Minutenlang genoss er die schwerelose Vorwärtsbewegung, die ihn alles andere um sich herum vergessen ließ. Er hoffte, dass dieses Gefühl nie enden würde.

Lediglich der Raumgleiter, der in der Ferne nur noch als winziger Punkt auszumachen war, erinnerte ihn daran, dass er sich bereits wenig später mit einer Geschwindigkeit von tausendsiebenhundert Meilen pro Stunde der Atmosphäre nähern würde. Sein Herz schlug jetzt schneller. Mit steigender Erwartung fieberte er der maximalen Beschleunigung entgegen. Die Instrumentenanzeige, die Sparks als digitale Spiegelung in seinem Helmvisier ablesen konnte, registrierte einen ersten Reibungswiderstand. Schnell erhitzte sich die Außenhaut seiner Kohlefaserummantelung. Kleine Partikel lösten sich von den winzigen Hitzeschildpailletten, die wie Schuppen auf der Außenumhüllung den Reibungskräften der Atmosphäre entgegenstanden. Vereinzelt spiegelten sie sich in der metallisch schimmernden Oberfläche, bis sie sich schließlich in rotglühenden Schweifen aufzulösen begannen.

Sparks gewann merklich an Geschwindigkeit, im ersten Moment ein angenehmes Gefühl. Wenn jetzt allerdings eine der Sicherheitseinrichtungen versagte, die Richtungskorrektur aussetzte oder eine undichte Stelle des Hochleistungsanzugs zu einem Druckverlust führen würde, er wäre unweigerlich in der Unendlichkeit des Alls verloren. Allein der Ausfall der Richtungskorrektur würde ihn schnell ins Trudeln geraten lassen und die dabei auftretenden Schleuderkräfte würden ab hundertzwanzig Umdrehungen pro Minute unweigerlich zur Ohnmacht führen. Zweihundert Umdrehungen wären tödlich. Würde die Druckpolsterung des Raumanzugs ein Leck aufweisen, der Unterdruck würde die Haut binnen kürzester Zeit extrem anschwellen lassen. Der Weltraum oberhalb der Stratosphäre war eine lebensfeindliche und risikoreiche Umgebung. Nachdem er nun die schützende Hülle des Space Gleiters einmal verlassen hatte, lauerten um ihn herum Gefahren, so zahllos wie Motten im Licht einer Lampe bei sommerlicher Abendschwüle. Bereits kleinste Partikel von Weltraumschrott, Körnchen versprengter Kometen oder gefrorenes Wasser schossen mit der Geschwindigkeit einer Pistolenkugel durchs All und hätten beim Auftreffen auf seinen Körper verheerende Folgen. Sparks hatte auch in diesem Moment die Worte seines Ausbilders im Ohr: »Der Weltraum ist keine Partyhure. Wenn du dafür bezahlst, weißt du nicht, was du oben für deine Kohle bekommst.«

Der Spezialanzug, dem Sparks sein Leben anvertraut hatte, war eine Maßanfertigung. Es bedurfte jahrelanger Forschungsarbeit, um die Protektoren, die Verteilung der Systeme sowie die Helmform so ergonomisch zu gestalten, dass der Atmosphäre möglichst wenig Widerstand entgegengesetzt wurde. Davon hing das Leben des Springers ab, wenn er die Atmosphäre zu durchdringen versuchte. Sparks verringerte immer schneller die Distanz zur Erde. Dabei unterstützten ihn sechs Pressluftdüsen, die sichere Kurskorrekturen unter schwierigen Bedingungen ermöglichten. Jetzt begannen die Konturen der Kontinente, Details anzunehmen. Aufgrund des steilen Fallwinkels konnte Sparks den in fahlem Blau flimmernden Horizont nur noch sehen, wenn er den Kopf in den Nacken legte.

Die Hitze steigerte sich auf ihren Höhepunkt. Mit über tausendsiebenhundert Meilen pro Stunde raste Sparks in die Atmosphäre. Fast augenblicklich durchbrach er die Schallmauer. Dabei schützte ihn die Helmkonstruktion, die speziell für die Belastungen des Durchbruchs entwickelt worden war. Momentan wiesen alle Instrumente auf das Funktionieren der Sicherheitssysteme hin und signalisierten den störungsfreien Ablauf für die Landung. Die erste Stufe der Bremsung würde bei dreitausend Meilen erfolgen. Noch waren es neun Meilen bis zur Erdoberfläche.

»Sieben Minuten noch zum Zielpunkt«, dachte er. Schon erblickte Sparks nähere Details auf dem amerikanischen Kontinent. Ein kleiner Bremsfallschirm entfaltete sich mit unmerklichem Ruck, den Sparks lediglich durch eine Korrektur seines steilen Eintauchwinkels sowie die Anzeige auf seinen Instrumenten wahrnahm. Erste Konturen von Bergen und Flüssen, deren Verlauf sich irgendwo am Horizont verlor, waren durch Wolkenlücken auszumachen.

Bei zweitausend Meilen aktivierte sich der zweite Bremsfallschirm, dessen Funktion hauptsächlich darin bestand, die Fallgeschwindigkeit auf die Belastungsgrenzen des Landefallschirms zu korrigieren. Wenige Sekunden nach der Auslösung wurde er bereits wieder abgesprengt, um bei unter einer Meile den Landefallschirm zu öffnen, der Sparks schließlich auf Sinkgeschwindigkeit reduziert zur Erde bringen sollte. Gelenkt durch das GPS-System landete er wenige Sekunden später zielgenau auf einem für den Landevorgang vorgesehenen Areal, nicht weit vom NASA-Space-Center in Houston entfernt.

Zwei Stunden sollte die ärztliche Routineuntersuchung nach Sparks Bergung noch dauern, bevor er endlich in den wohlverdienten Tauchurlaub mit seiner Freundin Judy fahren konnte. Der Student hatte die engagierte Journalistin vor sechs Monaten während eines der zahlreichen Interviews kennengelernt, die ihm zu erstem Ruhm als Weltraumtestspringer verholfen hatten.

Noch lebte der angehende Physiker ungezwungen von Konventionen und Zukunftsplänen in seiner kleinen Atelierwohnung in North Berkeley, aus deren Dachfenster er in der Nacht zu den Sternen am Himmel und gleichzeitig durch den teilverglasten Giebel auf den entfernten Lichterstrudel der Innenstadt blicken konnte. Dies ließ ihn immer wieder die Winzigkeit seiner selbst erfahren und führte ihm vor Augen, letztlich nur als Teil eines der vielen Irrlichter zu existieren, die sich dort unten in einem Meer von Lichtpunkten im Großstadtgetümmel verloren. Zwar war er nicht weniger ehrgeizig als seine Freundin Judy, und doch verlief sein Leben noch in den Bahnen eines Studenten, der nicht damit abgeschlossen hatte, vor dem Beginn einer beruflichen Karriere erst einmal alle Freuden zu genießen, die das Leben für ihn bereitgestellt hatte.

Den ersten Tag nach dem Sprung hatten Sparks und Judy überwiegend mit Faulenzen am Strand und Tauchgängen zu den Wracks nahe Crystal Beach verbracht. Während seiner Tauchgänge war es Sparks möglich, sich der Welt der Formeln zu entziehen und in einer anderen Welt, einem Universum an Stille und zeitloser Ruhe, zu entspannen.

Sparks lag ruhig im Wasser und lichtete mit seiner Unterwasserkamera Teile eines gesunkenen Fischtrawlers ab. Selbst im klaren Wasser von Crystal Beach erreichten die Sonnenstrahlen in der Tiefe von fünfundsechzig Fuß die beiden Taucher nur noch als schwach schimmernder, blauer Schein. Nicht weit von ihm entfernt schwamm Judy. Die Flaschenfüllung bereits aufgebraucht, signalisierte sie ihrem Freund, auftauchen zu wollen. Er folgte ihr.

Entspannt, mit leichten Bewegungen seiner Flossen, schwamm er der Wasseroberfläche entgegen. Dort setzte er die Brille ab, betrachtete die tiefstehende Nachmittagssonne, deren Strahlen abgemildert durch die Atmosphäre ihren Glanz verströmten und die Wellen um ihn herum in flüssiges Gold verwandelten. Auf dem Rücken schwimmend, erreichten Judy und Sparks das Ufer. Nach zwei Tauchgängen und gelungener Dekompression glaubte er, noch Druck auf den Ohren zu verspüren und beschloss, sicherheitshalber am nächsten Tag zu pausieren.

Auf dem Weg ins Hotel nach Galveston kündete Donner­grollen ein nahendes Gewitter an. Dunkle Wolken quollen am Horizont empor, und in der Luft lag spürbare Elektrizität, die sich wenige Meilen entfernt bereits durch grelle Blitze in den Boden entlud. Große Regentropfen klatschten vereinzelt auf die Frontscheibe, aber die aufziehenden Gewitterwolken hatten noch nicht die Dichte erreicht, um ihre Last endgültig in einem Platzregen oder Hagelschauer abladen zu können. Der Scheibenwischer setzte ein und verwischte die Tropfen mit den Resten von Insekten auf der Scheibe zu schmierigen Schlieren. Hart radierte der Gummi über die Scheibe. Sparks schaltete den Scheibenwischer aus. Durch das geöffnete Seitenfens­ter stieg ihm der unverwechselbare Duft salzhaltiger Seeluft in die Nase, die sich mit dem Aroma der Blütendolden des Oleanders der Vorgärten und der dampfenden Feuchte des Asphalts auf den Straßen zu einem einzigartigen, für diese Region so typischen Geruch vermischte.

 

»Riechst du das, Judy?«

»Ja, ich hatte den Duft schon heute Morgen auf dem Balkon in der Nase.«

»Das liebe ich so an Galveston«, sagte Sparks.

»Wollen wir heute Abend einen Abstecher nach Houston in die Galleria machen? Du kannst shoppen gehen.« Sparks strahlte über das ganze Gesicht. »Es gibt da übrigens auch eine Eisbahn und die Cheesecake Factory, das ist der beste Käsekuchen in Texas.«

»Eine Eisbahn?«

»Du kannst doch Eislaufen? Hast du mir jedenfalls erzählt.«

Judy zwinkerte. »Was mich betrifft, ja. Aber kannst du’s auch?«

»Mich musst du vor dir herschieben.«

»Klar, natürlich zu schwierig für einen, der mit dem Gleitdrachen vom South Rim des Grand Canyon springt.« Sparks gab seiner Freundin einen leichten Stupser und küsste sie auf dem Mund.

Als sie sich voneinander lösten, nahm Judy die Konversation wieder auf: »Sag mal, hast du dir das mit der neuen Wohnung eigentlich mal überlegt? Ich könnte in Frisco den Job im Sender bekommen.«

Sparks deutete ein Nicken an, in seiner Gegenfrage klang Unverständnis an. »Verdienst du da mehr?«

»Nein, aber dann ist es von LA aus nicht so weit, und wir könnten uns öfter sehen. Nicht nur am Wochenende.«

Sparks verharrte einige Sekunden. »Ach, lass uns später darüber reden, wenn ich den Kopf wieder frei habe. Okay?«

»Aber der Job wartet nicht. Was meinst du?«, insistierte Judy.

Sparks klang gelangweilt. »Wir sind doch noch nicht so lange zusammen. Müssen wir uns jetzt schon darüber Gedanken machen?«

»Nun ja, wann denn?«

»Du weißt doch, ich bin im Sudienstress wegen des Masters.«

»Klar, aber so oft kommen solche Chancen nicht.«

»Es ist alles ein bisschen viel im Moment. Lass uns erst mal die Zeit hier genießen.«

Judy antwortete nicht, und die nächsten Minuten verbrachten sie wortlos, bis Sparks plötzlich das Schweigen brach. »Schau dir das an. Was ist denn da los?«

Er lenkte Judys Aufmerksamkeit zur Auffahrt des Hotels, vor der sich eine lange Wagenkolonne gebildet hatte. Mehrere Polizeifahrzeuge und ein Rettungswagen blockierten die Zufahrt.

»Da muss was passiert sein. Wir parken besser um die Ecke.«

Während die Journalistin zu ihrer Kamera griff, begannen mehr und mehr Regentropfen auf die Scheiben zu prasseln.

»Ich geh schon mal vor. Das guck ich mir mal aus der Nähe an«, sagte Judy.

Sparks hielt an und ließ Judy aussteigen. Wenige Augenblicke später fand er einen Parkplatz auf der Straße. Den Wagen stellte er quer in der Lücke ab, als der Platzregen losbrach. Er hastete den Weg zur Hotelauffahrt hinauf. Binnen weniger Sekunden watete Sparks durch eine Wasserflut, die sich die Einfahrt hinunter zur Straße ergoss.

Als er die Unglücksstelle erreichte, lichtete Judy bereits die Bilder des Geschehens ab. Die Kamera versuchte sie mit ihrer Handtasche vor dem Platzregen zu schützen. Jetzt erblickte auch Sparks die mit Markierungen versehene Blutlache am Boden, die im Regen bereits zu einer konturlosen Brühe mit kontrastierenden Rottönen verschwommen war.

Polizisten drängten die Schaulustigen hinter die Absperrungen zurück. Auch Judy wurde von einem der Officer mit ausgebreiteten Armen in die Menge zurück gedrängt. Als sie sich widersetzte und er sie daraufhin anherrschte, fingerte sie ihren Journalistenausweis aus der Tasche.

»RSCN Television Los Angeles«, ließ sie verlauten und hielt dem Uniformierten das Dokument vor die Nase.

»Was ist hier passiert?«

Der Officer befestigte ein weiteres Absperrband, während er antwortete.

»Vermutlich einer dieser Amokläufer. Mit denen haben wir es seit Wochen zu tun.«

»Und wer ist das Opfer?«

»Ein Überfall auf einen der Hotelgäste. Als er nicht gehorchte, hat man ihm vermutlich den Hals aufgeschnitten.«

»Den Hals aufgeschnitten? Warum?« In Judys Stimme klang Entsetzen mit.

»Keine Ahnung. Warum bringen Menschen andere Menschen um? Einen Grund gibt’s vermutlich immer.«

»Hat man ihn gefasst?«

»Ja, die Security vom Haus war so freundlich.« Er wies auf eine Gruppe ebenfalls Uniformierter, die sich am Eingang des Hotels unter dem Vordach postiert hatten und ihre Hände demonstrativ an den Schlagstöcken ruhen ließen.

»Die haben ihn ganz schön zugerichtet. Aber verdient hat er’s ja, vermutlich.«

»Sie meinen, es war einer von diesen Creeps?«

»Ja, vermutlich wieder einer dieser Verrückten. Wir haben immer mehr Probleme mit denen. Scheinen sich vermutlich wie die Karnickel zu vermehren.«

»Können Sie schon etwas zur Person des Täters sagen? Wie alt war er?«

»Vielleicht fünfundzwanzig Jahre. Keine Ahnung. Das Opfer war älter, vermutlich. Also Lady, Sie sehen doch, ich habe alle Hände voll zu tun. Wenn Sie noch Fragen haben, wenden Sie sich an unser Office. Okay?«

»Ja, vermutlich!« Judy verdrehte die Augen, während der Regen ihr die Kleidung durchnässte. Sie schoss noch einige Fotos von der Trage, auf die der Tote unter eine glänzende Metallfolie gelegt und in den Rettungswagen verfrachtet wurde.

Sparks befand sich hinter den Absperrbändern. Durchnässt winkte er Judy zu. Nachdem er Judy wieder in seine Arme geschlossen hatte, liefen sie zusammen in Richtung des schützenden Eingangsportals.

»Hast du gehört, was hier los war?«

Judy schüttelte den Kopf. »Es war wohl einer von den Creeps. Mehr konnte ich nicht in Erfahrung bringen.«

»Gibst du die Bilder heute noch an deinen Sender?«

»Ja, online. Das geht schnell. Aber ich werde nachher nochmal mit der Polizei telefonieren, um Details zu bekommen. Der Cop hier war komisch drauf.«

»Gut, lass uns erstmal ins Hotel gehen«, entgegnete Sparks.

Im Hotelzimmer ordnete Judy ihre Notizen und informierte ihren Sender, am Abend überfiel sie eine ungewohnte Unruhe. Kurzentschlossen machten sie und Sparks sich doch noch auf den Weg zur Galleria in Houston.

Nach dem Platzregen am frühen Abend brachte der landeinwärts aufkommende Wind etwas Abkühlung. Sparks, der das südtexanische Klima in der Region um Houston mit Nähe zum feuchten Louisiana eigentlich liebte, schwitzte mehr als sonst. Anders als in den zurückliegenden Jahren, schien ihn eine Unruhe zu überfallen.

Auf dem Weg in die Stadt bog Sparks in die Westheimer Avenue ein. Das Klingeln seines Mobiltelefons ließ ihn mürrisch in die Tasche greifen.

»Sparks«, beantwortete er hastig den Anruf, während er mit der rechten Hand das Steuer hielt.

»Leighland hier«, vernahm er die Stimme seines Professors. »Wo treiben Sie sich schon wieder rum? Haben Sie sich nicht den Hals gebrochen bei Ihren Drachenfliegereien? Man sprach schon davon hier auf dem Campus.«

»Wie Sie sehen, ich lebe noch«, antwortete Sparks belustigt.

»So. Also mit anderen Worten, Ihr Flugexperiment ist für uns unerwartet schiefgelaufen. Welch ein Jammer.«

»Oh, danke Herr Professor, dass Sie so besorgt um mich waren.«

»Sie haben hier andere Aufgaben. Nun, da Sie noch leben, kommen Sie mal bei mir im Büro vorbei. Wir sollten darüber reden, wie es nun mit Ihnen weitergeht. Am besten gleich morgen.«

Sparks zog die Mundwinkel hinunter, und bevor er etwas erwidern konnte, hatte der Professor das Gespräch bereits beendet.

»Verdammt.«

»Wer war’s?«, wollte Judy wissen.

»Der Alte. Er will mich morgen sehen.«

»Oh nein. Muss das sein?« Judy schloss die Augen und drehte den Kopf zur Seite.

»Meine Prüfung. Ich hab’ sie wahrscheinlich vermasselt.« Kleinlaut schob er hinterher: »Verdammt, ich hab’s geahnt.«

»Was machen wir dann mit unserem Urlaub?«

»Ein paar Tage San Francisco und LA geht doch auch. Wir machen einen Abstecher nach Huntington Beach, okay?«

Judy wollte antworten, wurde aber von einem Ereignis auf der Straße abgelenkt. Mehrere Uniformierte prügelten mit Schlagstöcken auf eine Horde von Randalierern ein. Instinktiv suchte sie die Nähe zur Schulter ihres Freundes.

»Shuin, guck dir das an! Überall die Soldaten!«

Auch Sparks erfasste mit einem Blick die Zusammenrottung von Gestalten, die sich vor einem Geschäft postiert hatten, dessen Schaufenster geborsten war. Er zog Judy an sich. Was er erblickte, ließ seine Miene gefrieren. Er ahnte bereits, dass dies erst der Auftakt zu einem noch im Verborgenen aufkeimenden Terror sein sollte, der sich seit Tagen unterschwellig und heimlich, von der großen Masse noch nicht wahrgenommen, als große Gefahr abzuzeichnen begann.

Jack Burton schrie aus voller Kehle. Seine Hilfeschreie hallten durch den Flur und erreichten das Schwesternzimmer am Ende des Korridors. Zwei Angestellte ließen eiligst Blutkonserven und Infusionslösung auf den Tisch fallen, um ihrem Kollegen zu Hilfe zu eilen.

Noch auf dem Gang blieben sie stehen und wurden Zeuge, wie Doktor Burton von hinten angefallen wurde. Der Unbekannte hielt den Mediziner umklammert und fuchtelte mit einem Skalpell vor Burtons Hals. Den Mediziner vor sich her bugsierend, näherte er sich den Schwestern. Seine Stimme tönte blechern über den Gang.

»Los, her mit den Bonbons! Wo sind sie?«

In diesem Augenblick wurde Burton von dem Angreifer zu Boden geschleudert. Sein Kopf traf an die Vorderkante einer Türzarge. Unmittelbar darauf erhielt er auch noch einen Tritt in die Seite, der ihm den Atem nahm.

Der Angreifer hatte sich den Krankenschwestern, die beide in einer Fluchtbewegung rückwärts schritten, bereits auf zwei Armlängen genähert.

»Eure Betäubungsmittel, Morphium und so was! Her damit!«

Die linke der Schwestern riss einen Stuhl an sich und schleuderte ihn in die Richtung des Angreifers.

Die größere Krankenschwester von beiden, zu der er die Distanz durch blitzschnelles Vorpreschen soweit verringern konnte, dass er sie am Arm zu fassen bekam, presste er zunächst gegen die Wand, um sie dann gegen die gegenüberliegende Glasscheibe des Schwesternzimmers zu schleudern. Ihr Kopf durchbrach bis zu den Schultern das Glas. Gleich einem Regen aus Kristall prasselten die Splitter zu Boden. Bewusstlos sackte die Schwester kopfüber hinter der Scheibe zusammen. Blut sickerte aus ihrem Hals. Dem Mund des Angreifers entwich ein heiseres Lachen, als er sein regungsloses Opfer betrachtete. Von den Verletzungen nahm er keinerlei Notiz.

Ohne zu zögern, setzte er der anderen Schwester nach, die schreiend ihrem Fluchtreflex gefolgt war und in Richtung Ausgang flüchtete. Sie erreichte mit zitternden Händen die Tür zum Treppenhaus. Dort stolperte sie, fing sich aber wieder am Treppengeländer. Um Hilfe rufend, stürzte sie die Stufen zum nächsten Geschoß hinab. Anstatt der Flüchtenden weiter nachzusetzen, verharrte der Creep plötzlich, blickte ihr noch einige Sekunden hinterher, bis sie das Zwischengeschoss erreicht hatte. Dann wandte er sich um und orientierte sich wieder in Richtung des Schwesternzimmers.

Die Schwerverletzte ignorierend, steuerte er zielsicher auf den Opiatenschrank zu. Mit einem Schemel schlug er auf das Schloss ein, bis das Blech brach und er den Schrank öffnen konnte. Seine Hände durchpflügten die Reihen von Medikamenten. Er schien nach Verpackungen eines bestimmten Präparats zu suchen, aber die Etiketten betrachtend, griff er zu immer neuen Glasflaschen, ohne fündig zu werden.

Im angrenzenden Raum bemerkte er schließlich einen weiteren Medikamentenschrank. Mit seinen Fingernägeln kratzte er über die verschlossenen Türflügel. Noch zögerte er, aber die erfolglose Suche sollte seine Aggression bald steigern. Schließlich riss er den Hängeschrank aus seiner Verankerung und ließ ihn zu Boden fallen. Laut splitterte das Holz.

Unterdessen erlangte Doktor Burton wieder das Bewusstsein. Sein Kopf schmerzte. Er betastete den warmen, klebrigen Fleck an seiner Stirn und betrachtete seine blutbefleckten Fingerspitzen, bevor er sich aufrichtete. Blut tropfte von seiner Augenbraue auf den Fußboden. Noch behinderten ihn Schwindelgefühle, dennoch versuchte er, auf seinen Beinen zu stehen und hielt sich den Kopf. Unwillkürlich kamen ihm Bilder aus seiner Jugend in Erinnerung, als er in der Kiesgrube beim Drachen steigen lassen, in einem Moment der Unachtsamkeit, von einem Abhang gerutscht war und sich eine blutende Wunde zugezogen hatte. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf die Stationsschwester, die immer noch reglos in dem Fensterrahmen auf zerbostenem Glas lag. Kopf und Arme ruhten auf dem dahinter angrenzenden Tisch im Schwesternzimmer. Das Blut hatte sich bereits darauf ausgebreitet und tropfte über die Tischkante zu Boden. Burton, der der Bewusstlosen zu Hilfe eilen wollte, stockte in seiner Bewegung. In der Tür am Treppenhaus erschienen zwei dunkle Silhouetten, die Burton verschwommen wahrnahm. Sekunden später entzifferte er die Aufschrift Police auf schwarzem Untergrund.

 

»Endlich«, rief er. »Hier, er ist hier!«Trotz seiner Kopfschmerzen fühlte er so etwas wie Erleichterung. Er begann, einen der Uniformierten mit Winken auf sich aufmerksam zu machen. Als er den Arm zu einer hilfesuchenden Geste erhoben hatte, streifte für Sekundenbruchteile ein roter Laserpunkt seinen Kittel.

Zunächst in Burtons Richtung forschend, setzte der Agent seinen Weg lautlos fort, ohne den Doktor weiter zu beachten. Ein weiterer Uniformierter sicherte den Gang mit dem Rücken zur gegenüberliegenden Wand.

Jetzt vernahm Burton auch die Geräusche aus dem Schwesternzimmer. Nach wenigen Rufen hallte ein Schuss durch die Gänge, den Burton nur als gedämpften Schlag vernahm. Dann herrschte plötzlich Stille.

***

Berkeley San Francisco, 10. Juli,

sieben Tage vor der Alphastabilität

»Nehmen Sie Platz, Sparks.«

James Leighland, Professor für Kernphysik und Chemie sowie Leiter der Fakultät für Grundlagenforschung in Berkeley, wies seinem Studenten im Büro einen Platz auf dem Sofa zu. Dann erhob er sich hinter seinem Schreibtisch, auf dem ein Glasaschenbecher mit einer angerauchten Zigarre aus Honduras stand.

»Sie haben’s ja schnell geschafft, von Ihrem Tauchurlaub herzufinden. Haben Sie diesmal wenigstens ein paar Muscheln gesammelt oder sich wieder an den Feuerkorallen die Hand verbrannt? Kaffee?«

Sparks folgte dem Professor zur Kaffeemaschine. »Nein, diesmal habe ich Handschuhe getragen. Eine Tasse, gerne.«

»Wie umsichtig. Dann können Sie Ihren Becher heute selber halten?«, flachste Leighland.

Sparks lachte. »Ich denke schon.« Er nahm das heiße Gebräu entgegen, das Leighland mit zwei Löffeln Zucker und einer Prise Kakao trank. Überhaupt trank Leighland zu jeder Tages- und Nachtzeit Kaffee. Und zwar im festen Glauben daran, der Kaffee würde ihm helfen, in seinen Gedanken die nötige Ruhe und Weite zu finden, um sein großes Ziel zu erreichen: Die Flut der Einzelinformationen aus Teilchenversuchen zu einem Ganzen, zu einem allumspannenden Modell der Weltformel, zu modellieren. Die Weltformel, so wusste auch Sparks, wäre das physikalische Bindeglied, das alle vier Grundkräfte der Natur zu vereinheitlichen und erklären vermochte. Allerdings würde es ein schwieriges, vielleicht in Leighlands Lebensperiode nicht zu erreichendes Unterfangen werden, jene alles vereinende Formel zu finden, an der sich schon so viele seiner Kollegen erfolglos versucht hatten und deren Lösung sich wie ein Chamäleon im Dickicht aller möglichen Theorien zu verstecken suchte.

»Respekt. Jetzt haben Sie’s ja schon vor Ihrem Studienabschluss geschafft, berühmt zu werden.«

»Sie haben’s gesehen?«

»Im Fernsehen, ja, zumindest Absprung und Landung. So schnell haben Sie aber nichts Neues mehr geplant, oder?«

»Neues nicht. Ich wollte die Prüfungsergebnisse zu meiner Masterarbeit abwarten. Dann kann ich weitersehen«, entgegnete Sparks.

»Ich weiß nicht, mein Junge. Manchmal denke ich, Sie haben nur dummes Zeug wie Surfen im Weltall im Kopf. Warum machen Sie das? Sie haben doch ein Stipendium?«

»Haben Sie eine Ahnung, Herr Professor, was das Leben da draußen kostet?«

»Das hört sich an, als wäre ich hier noch nie rauskommen«, entrüstete sich Leighland. »Wie lange sind Sie jetzt schon bei uns?«

Sparks rechnete nach: »Vier Jahre und vier Monate.«

»Finden Sie nicht, das ist lange genug? Wollen Sie nicht bald mal etwas Vernünftiges anfangen?«

»Wie meinen Sie das, Professor?«

»Ob aus einem Rehstreichler wie Ihnen jemals ein ernsthafter Wissenschaftler wird?« Leighland stieß einen Seufzer aus und ließ keinen Zweifel daran, dass er sich mit der eher durchschnittlichen Karriereplanung seines Zöglings durchaus nicht zufrieden gab.

»Sparks, auch wenn Sie es nicht glauben: Wir haben hier mehr Studenten als Sie denken, denen die Wissenschaft eigentlich egal ist. Seerosengießer, ich begreife es einfach nicht. Verschleudern ihre Fähigkeiten an drittklassige Unternehmen. Jagen wie Sie dem Geld hinterher. Keine Inspiration, kein Feuer.«

»Und woran liegt das, Ihrer Meinung nach?«

»Geltungsdrang, weiß der Teufel«, ereiferte sich Leighland. «Ist doch kein Geheimnis, dass sich bei uns mehr als die Hälfte der Studenten aufgrund unseres Namens einschreiben. Ich fürchte, der Großteil ist hier, weil Papa kein besseres Investment wusste, als Geld in das Studium seines Filius zu stecken. Und wenn diese Kinder dann fertig sind, was tun sie?«

Leighland wartete Sparks’ Antwort gar nicht erst ab. Sein Lächeln gefror auf den Lippen in einer Weise, die Sparks an die Leidensmine eines Reisenden erinnerte, dessen Zug gerade am Bahnsteig abgefahren war. »Verschwenden den Abschluss danach in belanglosen Projekten irgendwelcher kommerzorientierter Institute.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich kenne sie alle. Winken in mehr oder weniger langweiligen Chefpositionen bestenfalls Leuten zu. Welche Perspektive? Irgendwann rennen sie nur noch über Golfplätze und sitzen faul auf ihrem Arsch rum. Dekadent, selbstgerecht und vollgefressen. Was für ein Dasein!«

Sparks blickte betreten zu Boden, während Leighland sich seine Zigarre wieder anzündete und Luft durch das aufglühende Ende paffte. Es schien ihn keineswegs zu beeindrucken, dass Sparks hüstelte. Voller Genuss blies er Kringel in die Luft.

»Wissen Sie was, Sparks? Es gibt viel zu viele von denen, und ich hab’ weiß Gott genug davon.«

Gedankenverloren rührte Leighland mit dem Löffel in der Tasse, bis er schließlich aufblickte. »An Ihnen würde mich mal interessieren: Wie wichtig sind Ihnen die Flausen wie das, was Sie zurzeit in diesem Supermannkostüm im Weltall treiben?«

Sparks erwiderte: »Sie nennen es Flausen, für mich war es lange Zeit ein Traum.«

»Dann hören Sie jetzt mal auf, zu träumen. Können Sie sich überhaupt vorstellen, Verantwortung zu übernehmen? Vielleicht, um sich mal wichtigeren Dingen zuzuwenden?«

»Und was?«

»Zum Beispiel zur Abwechslung mal richtungsweisender Forschung?«

Sparks begann, Hoffnung zu schöpfen. »Ich wollte eigentlich später noch meinen Doktor machen, wenn ich es schaffe, die Finanzen zu regeln.«

Leighland schüttelte den Kopf. »Mensch Shuin, wachen Sie auf! Sie sollten bei Ihrem Talent endlich auf den Punkt kommen. Entzünden Sie die Flamme des Forschungseifers oder was auch immer! Aber kümmern Sie sich weniger um Geld oder darum, Ihre nichtsnutzige Fan-Gemeinde mit teuren Weltraumrutschbahnen zu ködern.«

»Talent? Meinten Sie damit etwa mich?«

Leighland machte eine Pause und produzierte einige Kringel Zigarrenrauch. »Naja, ab und zu haben Sie mal ein brauchbares Ergebnis abgeliefert. Zugegeben.«

»Ich muss sehen, wie ich meine Miete bezahle. Außerdem verbinde ich nur das Angenehme mit dem Nützlichen.«

Leighland griff in einen Stapel Akten und nahm eine vergilbte Mappe zur Hand, die er mit einem roten Zettel gekennzeichnet hatte.

»Shuin, wo ist Ihr Forscherdrang? Entfachen Sie ihn. Wenn Sie jetzt nicht die Kurve kriegen, haben Sie Jahre Ihres Lebens vergeudet.«Er blätterte einige Sekunden in der Mappe. » Ach so, was ich Ihnen noch sagen wollte …«

»Ja?«

»Nichts Besonderes.« Wieder kramte er in den Unterlagen und machte eine längere Pause. »Naja, für Sie sicher nichts Wichtiges. Es wird Sie wahrscheinlich nicht sehr interessieren.«