Uwe Johnson

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Paasch vortreten, sagt der Lagerälteste. [...] Die Fahne steigt in den Himmel, reißt ein schwarz-rot-weißes Loch ins Weiß der Morgenstunde. [...] Paasch ist an der Reihe. Er tritt aus dem Karree der Geborgenheit. Jemand verbindet ihm die Augen, führt ihn an den Rand der Grube, über die zu springen es gilt, ohne ihre Ausmaße zu kennen. Der Älteste pfeift. Paasch springt, fällt ins Bodenlose. Die Meute johlt. Der Lagerälteste pfeift ab. Paasch kann zurücktreten, taumelnd. (Fries, Obliadooh, S. 44)

Der Sport als Kampf und Krieg dominierte den Alltag dieser Anstalten. Daneben stand der Unterricht mit einem Stundenplan wie dem folgenden, der auf der NaPoLa im ostpreußischen Stuhm galt:


Deutsch 4 Wochenstunden
Geschichte 3
Erdkunde 2
Latein 4
Englisch 5
Mathematik 3
Physik 2
Chemie 2
Biologie 2
Kunsterziehung 2
Musik 1
Sport 5 (Überhorst, Elite, S. 180)

Selbstverständlich kann der Knabe Uwe Johnson von solcher Ausbildung nicht gänzlich unbeeinflußt geblieben sein, zumal sie sich an durchaus avancierten pädagogischen Modellen ausrichtete. Wie immer auch ideologisch der Blick nach rückwärts gewandt war, bezog die Pädagogik von Hitlers Sonderschulen die damals ganz modernen Medien Film und Rundfunk mit ein – und zwar in einem ganz erstaunlichen Ausmaß. Diese Eliteschulen erschienen als ein getreues Spiegelbild des »Dritten Reichs«, waren ideologisch einem vorindustriellen Denken, technisch und pädagogisch aber dem Modernsten, das damals überhaupt erreichbar erschien, verpflichtet. Insonderheit der »bildnerischen und handwerklichen Erziehung« räumten diese Anstalten einen breiten Raum ein. Dabei ging es ihnen immer um die Wahrnehmung von Geschichte im Gegenwärtigen, um das Erkennen des Symbolischen im Alltäglichen. Sehr früh bereits wird Uwe Johnson einen frappierend genauen, einen förmlich archäologisch sezierenden Blick für symbolische Komponenten in allen Erscheinungen entwickeln. Johnsons Darstellung der mecklenburgischen Landschaft in ihrem mythisch-geologischen Aufbau in den Mutmassungen legen Zeugnis davon ab. Gleiches tut die Heimatinnigkeit der Babendererde. Man mag sich gegen diese Erkenntnis sperren: Der Schriftsteller Johnson wird von der Kunsterziehung in der Kostener »Heimschule« nicht unbeeinflußt geblieben sein. Die Pädagogen des »Dritten Reichs« wußten nur zu genau, wie eine ästhetische Macht der Kunst sich politisch instrumentalisieren läßt:

Uns leitet dabei die Erkenntnis, daß Symbol und Bildwerk über die Herzen und Handlungen der Menschen wieder die Macht einer großen schöpferischen, von einer festen sittlichen Wertordnung getragenen Zeit gewonnen haben. Wenn aber 400 Jungen 8 Jahre hindurch täglich vor einem Glasfenster, dem von Langemarck oder dem des 9. November oder unter den 18 schmiedeeisernen Leuchtenböden des großen Saales sitzen, auf denen der Sinn dieses Geschehens in gestalteten Symbolen, Namen der Toten und Zahlen bis zum Sieg der Bewegung im Sudetenland eindeutig geformt ist, dann bildet das bei allen Jungen eine einzige Vorstellung. (Überhorst, Elite, S. 197)

Wer will das bestreiten? Und was im Kopf dieser Jungen dann eine »einzige Vorstellung« gebildet haben muß, ist zumindest in Umrissen rekonstruierbar. Der Wille, Symbole zu schaffen und dadurch die jugendlichen Gemüter zu erschüttern, kennzeichnete die Feierstunden und Gemeinschaftsgesänge. Der Tagesablauf der Sonderschulen trat als geschlossene Ereignisfolge auf, die ihren Zielpunkt eben in den Feierstunden hatte. Jeder Tag begann mit dem Wecken um 6.45 Uhr durch eine wütend schrillende elektrische Klingel. Darauf folgten Frühsport und das Duschen, das die verschiedenen Stuben in gehetzter Zeitabfolge durch erst brodelnde Hitze, dann strenge Kälte jagte. Um acht Uhr erhielten die Jungen die erste Portion Symbolik bei der Flaggenhissung verabreicht. Danach: Frühstück. Weitere wichtige Teile des Tages galten dem gemeinsamen Singen, Uwe Johnsons großem Sehnsuchts-Traum in späteren Güstrower Tagen. Es war überwiegend in die abendliche Dunkelheit verlegt, erhellt nur vom mystischen Lodern der Flammen (die »Waberlohe«). Da wird auch Uwe Johnson das Horst-Wessel-Lied gesungen haben, bezwungen vom Wunsch, dieser Gemeinschaft anzugehören. Allabendlich in der Gemeinschaftsstube der »Deutschen Heimschule« in Kosten erhob sich der Gesang der Knaben:

In den Ostwind hebt die Fahnen,

denn im Ostwind stehn sie gut!

Dann befehlen sie zum Aufbruch,

und den Ruf hört unser Blut.

Denn ein Land gibt uns die Antwort,

und das trägt ein deutsch’ Gesicht:

Dafür haben viel geblutet,

und drum schweigt der Boden nicht!

In den Ostwind hebt die Fahnen,

denn der Ostwind macht sie weit.

Drüben geht es an ein Bauen,

das ist größer als die Zeit!

Auch in diesen Zusammenhängen müssen wir uns den »Jungmann« Uwe Johnson vergegenwärtigen. Johnsons Texte werden der Erforschung und Widerlegung beider ideologischer Totalitarismen auf deutschem Boden mit den Mitteln der Ästhetik dienen, dabei sich so kompromißlos, klarsichtig und integer wie nur wenige andere artikulieren. Seine Authentizität gewann dieses Werk auch durch die Teilnahme seines Autors an den Ritualen der Nazi-Macht – zumal vieles davon dann in der ideologischen Adaption Stalins und den Ritualen der DDR-Staatspartei und der »Freien Deutschen Jugend« erneut auftauchte. Heiner Müller, auch er einer, der ein »Leben in zwei Diktaturen« (so der Untertitel seiner Lebenserinnerungen) geführt hat, stellte die Faszination des Horst-Wessel-Liedes direkt neben die der »Internationale«. Auf diese Weise vermochte einer durch beide deutsche Diktaturen hindurchzugehen. Niemand wird glauben, solche Feststellung mache dem Mecklenburger »die Biographie kaputt«. Im Gegenteil: erst solche Biographie verhalf ihm dazu, die innere Wahrheit seines Werkes zu festigen. Die fast unbegreifliche Stärke und Zähigkeit eines jungen Autors, der jahrelang unter denkbar ungünstigsten Bedingungen sein schriftstellerisches Werk vorantrieb, könnte man mit dem Durchsetzungsvermögen in Zusammenhang bringen, das man Uwe Johnson in Kosten antrainiert haben wird. Ihm gelang es, die Ablehnung des ersten Romans mit dem Verfassen des nächsten zu beantworten.

Am Ende des Schuljahres 1944 erhielt der »Jungmann« Uwe Johnson als Beurteilung die folgenden Sätze ins Zeugnis geschrieben: »Er ist ein verständiger, gewissenhafter Junge. Sein Interesse am Unterricht und seine Mitarbeit sind erfreulich.« Ein freundlicher Abschiedsgruß. Und doch hat der Güstrower diese Anstalt später so gehaßt, daß er sie aus seinem Leben in all jenen Lebensläufen ausstrich, die er erst mit dem Jahr 1945 beginnen ließ.

EIN EINSAMER LIEST.

ERSTE BEGEGNUNG EINES FORTGEGEBENEN

MIT DER KATZE ERINNERUNG

Die Facetten von Uwe Johnsons Kostener Dasein ergeben ein erstes Bild von Fremdheit. Daß der Knabe nicht frei gewesen sein kann vom Bestreben, von dieser Gemeinschaft, die ihn quälte, auch akzeptiert zu werden, machte alles nur noch schlimmer. Und dahin war es gekommen, weil seine Eltern ihn fortgegeben hatten. (Der Dichter Joachim de Catt in der Skizze eines Verunglückten wird dann als ein Waisen- und Findelkind in die Skizze geraten, als vermutlich ein Jude noch dazu.) In den Kostener Tagen könnte sich jedenfalls eine traumatische Erfahrung ereignet haben, die Johnsons Werk prägen sollte. Zumal sie sich, wenn auch unter anderem Vorzeichen, 1959 wiederholen würde: daß einem die Politik die Heimat nimmt. Daß man also »Heimat« immer schon im Zeichen vorweggenommenen Abschiedsschmerzes erleben mußte. Daß man im Gedächtnis zu bewahren angehalten war, was real jederzeit verloren gehen konnte. Die Babendererde wird mit folgenden Sätzen schließen:

– Wir werden ja sehen was an diesem ist: sagte Klaus. Sie würden ja sehen was an diesem war. Ob sie es vergessen hatten über ein Jahr, und ob das schlimm sein würde. Ob Ingrid dies gespreizte Gestab des Fensterschattens und ob Klaus Ingrids Hand an seiner Schulter und ob sie das Poltern der Ruder von vorhin mit dem eigentümlichen Ton von Rudern im Boot vergessen haben würden, und ob das schlimm sein würde. Und das Flirren der Fliederbüsche unter dem leichten Wind und das Schaben der Boote am Steg und das leise Getropf im Schleusenbecken. (Babendererde, S. 247)

Und, und, und. Es würde schlimm sein. Und es würde zugleich gar nicht schlimm sein, da der – vorausgewußte – Verlust seinerseits die Katze Erinnerung auf den Plan rief. Als Klaus im Erstling fortgeht und das Licht löscht, leuchten auf dem Dachboden der Niebuhrs die Augen der Katze auf: um dann erst mit dem Ausgang der Jahrestage wieder zu verlöschen.

 

Die Fremdheitserfahrung in Kosten war zudem eine ambivalente: Gegenüber den anderen »Jungmannen« stellte Uwe Johnson einerseits den verweichlicht Lesenden dar. Hochgewachsen und blond, angetan mit der blauen Ausgehuniform, erschien er andererseits als der germanische Herrenmensch – Eliteschüler eines völkermörderischen Regimes. In dieser paradox zugespitzten Situation hat Uwe Johnson die Literatur entdeckt. Und bleibt als der Lesende der unaufhebbar Fremde par excellence. Wie Johnson sich selbst dabei erlebt hat, dokumentiert sich auch in einem Beitrag, den er 1976 für die Ersten Lese-Erlebnisse verfaßte, die sein Verleger unter den Autoren seines Verlages gesammelt hat und wo Uwe Johnson just diese Kostener Erfahrungen zu Protokoll gegeben hat:

Von den polnischen Kindern beschmissen mit Steinen oder gefrorener Hundescheiße (denn es ist Januar), geht der Jungmann durch die zivilistischen Straßen auf die Leihbücherei, das Buch zurückzugeben, das er errungen hat unter heftiger Anschnauzerei von seiten der staatlich angestellten Frau, ehemals von Beruf Dame. Ein Buch über die Rückzugsgefechte der nordamerikanischen Indianer, bedeckt mit einem löcherigen Mantel von Wissenschaft; das Papier ist solider. Daneben die getürkte Autobiografie Hermann Görings. So viel weiß man schon, aber mit zehn Jahren nehmen sie einen nicht für Bibliografie. Wer liest, ist ungesund am Körper. Privates Lesen ist Verweichlichung. (Lese-Erlebnisse, S. 108)

Der Mecklenburger bezog sich dabei implizit auch auf die – im gleichen Sammelband veröffentlichten – Leseerinnerungen Martin Walsers. Walser hatte Hölderlin auf dem großväterlichen Dachboden, bei gleichzeitigem Blick auf die Berge jenseits des Bodensees, entdeckt. Johnson dagegen bietet uns Kosten im Januar. Und, wenn diese Zuspitzung erlaubt ist: Hundescheiße statt Hölderlins Hymnen.

Johnsons Sarkasmus zeigt den lesenden Knaben als Außenseiter der eigenen Gruppe. Selbst die Feinde seiner Gegner konnten ihn nicht akzeptieren. Die Reflexion solch doppelter Fremdheitserfahrung, ihrerseits zum Motor des Erzählens selbst geworden, wird dann die Jahrestage als Johnsons letztes und abschließendes Werk vorantreiben. Im New-York-Epos gilt der »Genosse Schriftsteller«, der ja auf seine Art ein Opfer der Nazischule war, den jüdischen Emigranten, sie versammeln sich in New York unter der Leitung des Rabbi Prinz, ehemals Berlin-Dahlem, als ein besonders germanisch aussehender Deutscher – gleichgültig, was dieser Redner ausführen mag. »Germanisch« schaute der Vortragende ja auch aus, verstärkt durch die schwarze Lederjacke, mochte diese in Wahrheit auch eher das Gegenteil ausdrücken: Johnsons Brecht-Verehrung. Ich zitiere bereits in diesem Zusammenhang eine Erinnerung Helen Wolffs an ihren Autor, Freund und Protegé Uwe Johnson in dessen New Yorker Zeit (hier wie auch sonst sollen die Erinnerungen Helen Wolffs im englischen Original wiedergegeben werden. Das Englische ist die Sprache dieser Emigrantin auch darin geworden, daß ihr darin gleichermaßen pointierte Formulierungen wie im Deutschen gelingen):

On another plane, he found here something he was looking for – the historical past that obsessed him. On the Upper West side, where he lived, he met, in density, survivors of his country’s mass murderings, and he responded to them with a mixture of fascination and guilt – the latter totally misplaced, of course, since he was a child when the war ended and by fact of date innocent. One episode to stand for many: Johnson used to take an occasional meal at a Jewish Cafeteria on Broadway, sitting in a corner, as he thought unobtrusively, but all the same conscious of his Teutonic appearance, enhanced by the inevitable leather jacket. A Jewish family took a table close to him, then began eying him suspiciously or so he thought. He immediately got up and retreated, but in a way that no one could misinterpret: He walked slowly backward toward the door, all the time turned toward the family and ceaselessly bowing in a gesture of regret and respect.

Mit einer Mischung aus Faszination und Schuld reagierte Uwe Johnson auf die Anwesenheit der Opfer des Holocaust in New York. Diese Konfrontation wird dazu führen, daß er seine eigenen Wurzeln in der deutschen Geschichte genauer wird ergründen wollen. In dieser Konstellation, wenn auch angesiedelt im weit prinzipielleren Bereich des entscheidenden deutschen Verbrechens: dem Holocaust, erkannte der angehende Autor der Jahrestage neben anderem auch Facetten seiner vormaligen Befindlichkeit in Kosten. Damals eilte er, wie zitiert, durch die Straßen der Stadt, mit Hundekot von den Einheimischen beworfen, auf dem Weg, sich eine Lektüre zu besorgen, die ihn zum Außenseiter der eigenen Gruppe machen würde. Die schockartige Entdeckung, daß man, obwohl an den Verbrechen der Nazis unschuldig, den Juden dennoch als blonder Deutscher und Mitverantwortlicher für den Genozid erscheinen mußte, wird dann den Erzählpakt zwischen Gesine und Johnson mitbegründen.

In der beschriebenen Kostener Situation muß sich etwas wie die »Konditionierung« des Erinnerungs-Schreibers Uwe Johnson ereignet haben. Wenn dies so war, kam diese »Konditionierung« aus der Situation des abgeschiedenen Lesens heraus zustande. Aus einem Lesen, das zudem im Bewußtsein ausgeübt wurde, Verbotenes zu unternehmen. Solches mit Schuldgefühlen beladenes Lust-Lesen hatte der Zehnjährige bereits zu Hause praktiziert:

Das war ein weltvergessenes Lesen, fiebrig, süchtig, übrigens durchaus in dem wahnwitzigen Wissen, dass die dort geschilderten Personen unwahrscheinlich waren, ihre Handlungen wenig zu empfehlen, kaum wünschenswert. Dies an die Empfindung von Sünde reichende Bewusstsein wurde nur notdürftig beruhigt von der mechanischen Stimmigkeit, in der die Erzählung jeweils sich zusammenfasste. Im Grunde verdankte sich die Faszination der immer von neuem staunenden Einsicht, dass die Namen auf dem Titelblatt einmal wirklich gewesen waren, bis zum Nachweis der Anmeldung bei der Polizei, dass es also Menschen gab, die sich die Welt selber machen können. (Begleitumstände, S. 34)

Der Knabe würde schließlich selbst einer jener Menschen werden, die »sich die Welt selber machen können«: als Autor zur Phantasieproduktion fähig und darin immun gegen den abrupten, früh und traumatisch erfahrenen Verlust alles Vertrauten. Uwe Johnsons große Entdeckung aus dem Jahr 1944, dem Jahr seiner ersten in die Tiefe reichenden lebensgeschichtlichen Verletzung, lautete, in einen den Begleitumständen entnommenen Satz von evangelischer Heilsintensität gefaßt: »Dies war ein Mittel gegen die Zeit, zumindest gegen ihr Vergehen.« (ebd.)

Wenn, wie Erik H. Erikson es als verbreitete Auffassung durchgesetzt hat, die geglückte Beziehung zur Mutter ein »Ur-Vertrauen« zu begründen vermag, ruft deren Mißglücken gewiß das Gegenteil hervor. Wenn die Mutter den Knaben fortgibt, vermag das Opfer dies nur als tiefste Untreue, als Verrat auszulegen. Ein »Ur-Mißtrauen« kann daraus resultieren, das dann lebenslang durch »Verträge« jener früh erfahrenen mangelnden Verläßlichkeit in allen emotionalen Beziehungen aufzuhelfen versuchen wird. Die erste, schreckliche Verlusterfahrung vermag auf der Seite des Kindes das Streben nach Bewahrung des einmal erlebten Schönen hervorzubringen. Kann womöglich ein kognitives Verhalten begründen, das zur Voraussetzung für alle Erinnerungs-Literatur gerät, ein zunächst noch magisch verstandenes Mittel zur Bannung allgegenwärtig drohenden Verlustes?

Ein Vorgriff auch auf die Jahrestage als die summa des Johnsonschen Schreibens erscheint hier am Platz. Die »Katze Erinnerung« tritt, ausführlicher geschildert, zu gerade dem Zeitpunkt in Gesines Leben ein, als Lisbeth diesem ein Ende machen will. Im zweiten Band der Jahrestage steht die folgende Beschreibung zu lesen, die die lebensgeschichtliche Genese des Katzen-Symbols poetisch konkretisiert, in Form einer Geschichte, einer Parabel fast, erzählt. Wie hatte Uwe Johnson gesagt: »Man hat kein anderes Material als seine eigenen Erfahrungen.«

Der Deckel aber war neu, den hatte Cresspahl gemacht, damit ich nicht einen Küchenschemel anschleppte und darauf ins Wasser stieg. – Wenn er fehlte, konnte das ein Versehen sein. Von einem Fremden, ja. Wer aber zum Haus gehörte, wußte das mit der Katze und mir. Es war ein großes graues Biest, massig und faul. Als Cresspahl die Pinnowsche Scheune zur Werkstatt umbaute und in der Futterkammer bei seinem Werkzeug schlief, hatte diese Katze ihn besucht und war bei ihm geblieben. [...] Ich wollte sie zum Spielen überreden; sie aber lag lieber innen am Küchenfenster und besah sich die Vögel. Sie war auch alt, nicht bloß träge. Das Kind stand oft da draußen, hatte den Kopf im Nacken, sah zur Katze hinauf und redete mit ihr, und die Katze sah mich an, als wüßte sie ein Geheimnis und würde es mir doch nicht sagen. [...] – Und deine Mutter, deine Mutter stand dabei? – Ja. Nein. Wenn ich daran vorbeidenke, sehe ich sie. Sie steht dann vor der Hintertür, trocknet ihre Hände in der Schürze, wringt ihre Hände, eins kann das andere sein. Sie sieht mir zu wie ein Erwachsener sich an einem Kinderstreich erheitert und wartet wie er ausgeht [...] – Und sie rührte sich nicht. – Da war ich längst unter Wasser. Ich hatte immer noch ihr Bild bei mir; erst dann fiel mir auf, daß in dem runden Tonnenschacht nur der Himmel zu sehen war. – Dann zog sie dich raus. – Dann zog Cresspahl mich raus. (Jahrestage, S. 617 ff.)

Johnsons »Person« Gesine, als sie noch ein Kind war und ihrerseits vom Ertrinken bedroht, erblickt die Katze, wie man etwas zum ersten Mal ansehen kann, das einem längst vertraut erscheint. Der größte aller Verluste setzt das Symboltier der Johnsonschen Erinnerungs-Literatur mit schockartiger Plötzlichkeit auf seinen Platz. Weil alle Geborgenheit als bedroht und trügerisch erfahren wird, bleibt nur, das Bedrohte im Gedächtnis aufzuheben. Daraus resultiert ein permanentes Eingedenken, entspringt die Erinnerungsliteratur, die Uwe Johnson nun zeitlebens schreiben sollte.

EINE GÖTTERDÄMMERUNG:

KRIEGSENDE UND VOLKSSTURMMANN ERICH JOHNSON

Im realen Leben des Uwe Johnson lief nun alles auf die Auflösung der »Heimschule« im Januar/Februar 1945 zu. Die NaPoLas wurden in aller Regel geordnet aufgelöst, die Schüler nach Hause überführt. Doch gab es im Osten Fälle verzweifelten Widerstands. Uwe Johnson wird noch 1975 aus diesen Tagen der Kostener Götterdämmerung erinnern, daß er die Stadt nicht mitverteidigen »durfte«. In Erste Lese-Erlebnisse hat Johnson darüber hinaus benannt, was es, neben dem blanken Leben, zuallererst vor der heranrückenden Roten Armee zu retten galt: das Buch.

Mittags ist Appell. Alle über vierzehn dürfen die Stadt verteidigen. Die unter vierzehn dürfen bis Einbruch der Dunkelheit behilflich sein im Ausheben von Panzergräben. Bei Lampenlicht sind die Jungmannen aufgestellt vor der Karte des Generalgouvernements, Hände und Rükken beherrscht durch die blaue, die Ausgehuniform, und diskutieren die geographischen Gewinne des Gegners (»der Russen«), statt sie nach den gekrümmten Pfeilen zu betrachten. Vor dem Abendessen wird die Schule geteilt, die jüngere Hälfte packt ein. Das Buch liegt im Koffer obenauf, in einem Griff erhältlich für die Rückgabe. Der Koffer steht auf den unebenen Steinen des Marktplatzes, im Schnee. (Lese-Erlebnisse, S. 108)

In Johnsons zweitem, nüchtern gehaltenem »Leipziger« Lebenslauf steht: »Ich verliess Kosten im Januar 1945 vor dem Einrücken der Roten Armee.« Während die letzten, verzweifelten Abwehrkämpfe vor sich gingen, zog Uwe Johnson mit einem Treck nach Westen. Die Trecks bewegten sich, nachdem bereits am 12. Januar 1945 der mittlere Teil der Ostfront bei Baranow zusammengebrochen war und die besetzten Gebiete Polens für die Sowjets offen dalagen, zahlreich durchs Land. Massenhafter Tod umgab sie. Die deutsche Bevölkerung aus den östlichen Gebieten floh bei schneidender Kälte nach Westen. Helen Wolff erinnert sich:

Entscheidend, und mir mehrfach erzählt, war für den Elfjährigen, der das offenbar am Straßenrand beobachtet hatte, das Zurückfluten des geschlagenen deutschen Heeres und die Flucht von Bevölkerungsmassen. Er hätte, sagt er, bis zu diesem Augenblick alles geglaubt, was man in der Schule (und wohl auch im Elternhaus) von Deutschlands Unbesiegbarkeit und dem Feldherrngenie des Führers propagiert hatte. (Wolff in: »Wo ich her bin ...«, S. 157)

 

In Recknitz, wo die Familie Johnson auf ihrem Weg nach Westen Zuflucht gefunden hatte, angekommen, erblickte ein jugendlicher Zeitzeuge die folgenden Bilder:

Hinter dem Gemeindewald steht ein Schloss, darin spukt es. Das ist der Tod, der dort vorspricht bei den Flüchtlingen; mit den Trecks aus dem Osten ist die Typhusseuche angekommen. Am Schloss ist ein Begräbnisplatz nur für Personen gräflichen Standes. So werden die Toten auf Erntewagen ins Dorf gebracht, wie Fracht gestapelt, wie Abfall verscharrt. Ein elfjähriges Kind sieht von der Kirchhofmauer aus heimlich zu, da rutscht das Bein einer jungen weiblichen Leiche für einen Augenblick aus der Zeltbahn, bevor der Körper aufschlägt und das schmierige Tuch zurückgezogen wird aus dem Massengrabloch. [...] Von einer Achtzehnjährigen heisst es, in bedauerndem Ton: Gerade Insa war so eigen mit dem Wasser – ein Kind versteht sofort, dass Insa liegt, krank auf den Tod, mit einer Trauer um Insa wird fortan gefälligst weitergelebt, bis zu dem Augenblick dreissig Jahre später, wenn jemand aufsteht und sich weigert, gestorben zu sein, abermals vergeblich. (Begleitumstände, S. 29)

Daß es sich, wie von P. Nöldechen vermutet, bei dem »Schloß« um das Bothmersche, bei Klütz gelegene handelte, ist eher unwahrscheinlich. Gewiß war dort bei Kriegsende ein Typhushospital eingerichtet. Doch der Knabe Johnson, von Anklam aus nach Recknitz treckend, kann schwerlich dort vorbeigekommen sein.

Die Bilder des Grauens können nichts daran geändert haben, daß Uwe Johnson den Abschied aus der »Heimschule« auch als Befreiung empfunden hat. In Anklam kann er sich, wenn überhaupt, nur wenige Tage aufgehalten und die, allerdings nicht mehr vollständige, Familie angetroffen haben. Es fehlte der zum »Volkssturm« eingezogene Vater – womit für Uwe Johnson ein »Zurückgesetztsein« als vaterloses Kind begann:

So ist es erspriesslich für ein Kind, wenn es allezeit zu sagen weiss, wo der Vater sich aufhält, tot oder lebendig; werden oder bleiben dessen Bewandtnisse ungewiss, so hat der Sohn sich zurückgesetzt zu fühlen für die Zukunft. (Begleitumstände, S. 32)

Uwe Johnson, zunächst in Recknitz und dann in Güstrow, würde von nun an nicht mehr allzeit zu sagen wissen, wo sein Vater verblieben war. Im Gegenteil: dessen Verschwinden blieb nicht nur unaufgeklärt; ihm mußten von nun an auch taktisch wohldurchdachte Äußerungen in den Lebensläufen und Schulgesprächen des Schülers gelten. Die Restitution der Vaterfigur, die Erkundung ihres Ergehens und ihrer »Schuld«: Sie mußte dem Sohn zwangsläufig zu einem weiteren Hauptmotiv seines späteren Schreibens geraten – was von der Einführung des Heinrich Cresspahl in den Mutmassungen bis hin zu den Jahrestagen gilt.

Mit Gewißheit rekonstruieren läßt sich, daß Uwe Johnsons Vater noch unmittelbar vor Kriegsende zum »Volkssturm« einberufen wurde. Der »Volkssturm« spielte vor allem an der Ostfront zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Rolle. Es handelte sich dabei um das buchstäblich letzte Aufgebot Adolf Hitlers. Während an der Westfront inzwischen jede Motivation zur Fortsetzung fehlte, erschien das in den Landstrichen, die später die »verlorenen Ostgebiete« heißen würden, noch anders. Hier wirkte die Furcht vor der Roten Armee mobilisierend. Auf sie konnten die Strategen des »Volkssturms« bauen. Am 27. September 1944 erging Hitlers Erlaß über die Bildung des »Volkssturms« an sämtliche Gauleiter. In den letzten Septembertagen muß er auch in Anklam in Erich Johnsons Kenntnis gelangt sein. Der Stil dieses Wagner-Oper-Imitats wird dem Oberkontrollassistenten in den Ohren geklungen haben: er, dicklich gewiß und inzwischen 44 Jahre alt, erfahren vor allem im Umgang mit Rindvieh und Molkereiprodukten, sollte nun das »Versagen aller europäischer Verbündeten« ausgleichen. Und die heranrollende »rote Flut« aufhalten.

Auf diese Weise wurde der 44jährige Erich Johnson doch noch zum Soldaten. Er sollte, laut Ausbildungsordnung, den Granatwerfer »vollständig« beherrschen und seine Handgranaten im »Zielwurf« einsetzen können. Das besagte die Theorie. In der Praxis wird Erich Johnson mit einem Spaten bewaffnet gewesen sein und vielleicht noch mit einem italienischen Beutegewehr. Er wird seine braune Parteiuniform zum Einsatz feldgrau umgefärbt haben. Der Farbstoff M44 stand zu diesem Zweck in großen Mengen zur Verfügung: die einzige »Wunderwaffe«, die der »Führer« noch bis zur Produktionsreife voranzutreiben vermocht hatte. Sie werden ihm weiterhin das Soldbuch und die vorgeschriebene schwarzweiß-rote Armbinde mit der Aufschrift »Volkssturm« ausgehändigt und ihn, das war ebenfalls vorgeschrieben, nicht weit von seiner Heimat eingesetzt haben. »Nicht weit von der Heimat«: das bedeutete die Ostfront. Der Oberkontrollassistent Johnson erschien damit zu einem ordentlichen Kombattanten gemäß der Haager Landkriegsordnung avanciert. Nach deutscher Lesart. Die Sowjetarmeen sahen das anders.

DAS VERSCHWINDEN DES VATERS – EIN LEBENSRÄTSEL

Über Erich Johnsons Kriegserlebnisse wissen wir nichts Sicheres. Es ist jedoch gewiß, daß er dem Soldatentod und der Gefangennahme entging. Auch, daß er nach Anklam zurückkehrte. Erich Johnson könnte es wie dem Zeugen Hoffart ergangen sein, der seinerseits dem »Volkssturm« Kosten zugehörte:

Ausladung in Warthbrücken. Über Nacht Einquartierung in Barackenunterkunft. Am 21. 1., 4 Uhr, Ausgabe von 72 Schuß Munition je Mann. Um 14 Uhr meldete ein Posten Annäherung der Russen. Die Kp. griff den Gegner an, wurde jedoch im Gegenangriff zurückgejagt. Munition bald verschossen, zahlreiche unerlaubte Entfernungen, ein Teil der Kp. geriet in Gefangenschaft. Hoffart schloß sich mit einigen Versprengten einem Treck an.

Erich Johnson mag sich ebenfalls mit anderen Versprengten einem Treck angeschlossen haben. Jedenfalls fand der Heimkehrer seine Familie in Anklam noch vor. Das geht aus persönlichen Aufzeichnungen einer damals 22jährigen Anklamer Kindergärtnerin hervor. Mira Jaeger erinnert sich, daß ihre Familie mit den Johnsons zusammen Ende März/Anfang April 1945 von Anklam nach Recknitz treckte: und zwar mit der zu diesem Zeitpunkt noch vollständigen Familie Johnson. Man wurde teilweise auf Lastwagen der zurückflutenden deutschen Armee befördert. Führte auch eigene Fahrräder mit. Kam dabei an Plakaten vorbei mit Aufschriften wie: »Panzerfaust und deutsche Landser sind stärker als die roten Panzer!« Recknitz erreicht, stieg man bei Uwes »Onkel Milding« in der Schmiede ab. Seit dem Februar 1945 lautete, gemäß Uwe Johnsons eigenem Lebenslauf, die Wohnsitzangabe »Recknitz, Schmiede«. Milding wird 1952 sterben. Er war der NS-Blockwart des Dorfes gewesen. Die ehemalige Kindergärtnerin erinnert sich weiter:

Seine Frau, eine stattliche Person mit großflächigem Gesicht, das blonde Haar zu einem Dutt geflochten, sah ihrem Bruder, Herrn Johnson, meine ich, sehr ähnlich.

Das Willkommen war offenbar nicht allzu herzlich, insbesondere nicht für Uwe Johnson. Denn es heißt in Mira Jaegers Aufzeichnungen weiter:

Die Verwandten nahm er ja noch in Kauf, obwohl er an Uwe immer etwas auszusetzen hatte. [...] Einmal, als Uwe, was selten geschah, während eines Gesprächs etwas dazu sagen wollte, brüllte der Schmied: »Du höllst din Muul!« Andererseits, wenn Uwe auf Fragen nur nickte, kam unweigerlich: »Kriggst du din Muul nich up?«

Der Schmied und der angehende Intellektuelle scheinen einander nicht sonderlich grün gewesen zu sein.

Etwa zwei oder drei Wochen nach der deutschen Kapitulation (8. Mai), Ende Mai oder Anfang Juni also, gingen Erna und Erich Johnson noch einmal zurück nach Anklam, um zu sehen, ob »die Luft rein« und das Haus noch am Stehen sei. Von dieser Reise kam dann lediglich die Mutter nach Recknitz zurück. Denn als Erich Johnson zum Walmdachhaus in »Mine Hüsung« zurückkehrte, muß er direkt in eine Falle gelaufen sein. Die Stadt war, wie inzwischen auch Recknitz, von der Roten Armee besetzt. Dem Recknitzer Schmied geschah noch im selben Jahr 1945, allerdings nur für kurze Zeit, was Erich Johnson widerfuhr: sowjetische Haft als »Politischer« im von den Siegern übernommenen KZ Neubrandenburg. Warum nun stieß Uwe Johnsons Vater dieses Schicksal zu? »Onkel Milding« schien stärker vorbelastet und kehrte doch sehr schnell wieder nach Recknitz zurück. Erich Johnson dagegen wurde nach Rußland deportiert und starb dort 1946, im März vermutlich. Hier liegt ein Rätsel in Uwe Johnsons Biographie. Das mußte die Phantasie, auch die des Sohnes, anziehen – zumal bereits der Knabe von Onkel Mildings Schicksal und dem anzunehmenden Verschwinden des eigenen Vaters im gleichen KZ »Fünfeichen« mit Sicherheit gewußt hat.