Uwe Johnson

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So weit scheint, bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber der Klippe des Biographismus, die Folgerung gestattet: Wir sehen vor uns die Familie Johnson in »Mine Hüsung« Nr. 12. Damit enden aber die Parallelen. Denn Achims Vater ist Arbeiter und Antifaschist, bei dem sogar Widerstandshandlungen nicht auszuschließen sind – in diese Wunschvater-Zone hat der Autor seine Figur als Hommage an seinen Leipziger Professor Hans Mayer weitergeführt. Johnson selbst hat dem Gelehrten dies mitgeteilt.

Der Knabe nannte die neue Heimat »Oma Röhls Stadt«, denn in der Nähe, noch auf dem Lande vermutlich, wohnte die Großmutter von Anneliese Röhl. In der kindlichen Bezeichnung mag auch so etwas wie kindliche Melancholie mitschwingen, Sehnsucht des Knaben nach seiner eigenen fernen, geliebten Oma auf Wollin, der Insel im Oderhaff, wo man mit dem Kahn durch knisterndes Schilf gleiten konnte.

Die Siedlung, wie immer vor 1933 erbaut, als programmatische Sozialleistung des »Dritten Reiches«, ihr Name als Antwort auf Fritz Reuters Versepos Kein Hüsung: Nie mehr im neuen Deutschland sollten Liebende nicht zusammenkommen können, bloß weil ihnen der Wohnraum fehlte. Im Hause des Erich Johnson kündigte sich denn auch noch im Jahr 1939 Nachwuchs an. Die Familie vergrößerte sich 1940 um die Tochter Elke Christine. »Elke Christine«. »Uwe Klaus Dietrich« – klatschten in der Siedlung und im Städtchen die Leute über die aktive Frauenschaftlerin Erna Johnson: Die Frau lese zuviel triviale Literatur und wolle zu hoch hinaus?

Deutschlands Wiederaufbau, wie die Zeit ihn sah, war nicht nur abgeschlossen, das Reich begann vielmehr, sich neuen »Lebensraum« zu erobern. Es stand sehr gut um Hitlers Krieg im Jahre 1940. Immer mehr Volksgenossen würden DKW – und Volkswagen – fahren. Man war, aus Schweden stammend, ohne jeden Zweifel arisch und hatte es auch nachweisen können. Die Familie Johnson hatte manchen Grund zur Zufriedenheit. Und so muß man sich den Parteibeitritt des Vaters am Märzbeginn des Jahres 1940 als einen Akt vorstellen, in dem sich Bekenntnis, Dankbarkeit, Gewährenlassen, Trägheit, Konformismus und Opportunismus ununterscheidbar vermischten: als ein deutsches Syndrom. Der einzige, der immer noch weiter sollte, war der Knabe.

Der besuchte vom April 1940 bis zum Juni 1944 die Comenius-Schule in Anklam, ein guter Schüler. Das Leiden an dieser vor allem preußisch geprägten Schule kann er später authentisch bei Thomas Mann nachlesen – es wird die Identifikation mit dessen Tonio Kröger fördern und auf gewisse Weise die Schriftstellerlaufbahn Johnsons mitinitiieren. Andererseits hing auch an der Wand der preußisch geprägten Schulstube in Anklam das Konterfei Hitlers. Im zweiten Band der Jahrestage kann man darüber nachlesen:

Adolf Hitler ist der Führer.

Adolf Hitler liebt die Kinder.

Die Kinder lieben Adolf Hitler.

Die Kinder beten für Adolf Hitler. (Jahrestage, S. 859)

Und:

Marie, an der Stirnwand des Klassenraums in Jerichow hatte der Spruch gestanden von den deutschen Jungen, die so hart sein sollten wie ein Erzeugnis der Firma Krupp, zäh wie Leder und noch etwas. [...] In Gneez hatten sie in fetter brauner Fraktur an die Klassenwand malen lassen:

»Ihr seid das Deutschland der Zukunft

und wir wollen daher

daß ihr so seid

wie dieses Deutschland der Zukunft

einst sein soll und muß. A. H.«

Auf Mittelachse geordnet. (Jahrestage, S. 934 f.)

Wie auch immer der Grundschüler Johnson sich unterdrückt gefühlt haben mag; seine Zeugnisse fielen überdurchschnittlich aus. Das gab der ehrgeizigen Mutter die Chance, den Knaben für die »Deutsche Heimschule« im fernen Kosten bei Posen anzumelden, ein Internat mit dem strengen Ziel nationalsozialistischer Eliteerziehung. Unverhofft und brutal trat sie an die Stelle familiärer Idylle im Anklamer Walmdachhaus.

Er war daran zu begreifen daß die dörfliche Vertrautheit des verlassenen Ortes verloren war. Die Freunde würden vergessen werden müssen, hier halfen sie einem nicht. Der Wald und der Fluß und daß man jeden Stein im Pflaster kennen konnte: verloren. (Drittes Buch, S. 88 f.)

»Verloren«, hier zum ersten Mal, seitdem immer wieder. Auf die Realisierung des Märchens in »Mine Hüsung« erfolgte jäh der Schubs in die politische Sozialisation, von dem Knaben als eine Art Vertreibung erlebt. Statt normaler Volksschule und freien Nachmittagen auf den Wiesen der Siedlung, in einer Umgebung, die der Knabe inzwischen kennengelernt und zu der seinen gemacht hatte, nun eine Anstalt mit militärischem Drill und, so sieht es aus, sogar verordnetem Boxkampf. Der krude Wechsel erfolgte zur Mitte des Jahres 1944. Er traf einen Zehnjährigen und bildete, ein Trauma mit lebenslangen Folgen, mit einiger Wahrscheinlichkeit vor, was Uwe Johnsons Literatur dann insgesamt prägen wird: den Verlust dessen, was Heimat symbolisiert, aus Gründen der Politik. Eltern- und Liebesverlust, Einbuße alles Vertrauten aus Gründen, die ganz uneinsehbar für den Knaben mit einem fernen, strengen Staat und mit der, wie es in den Mutmassungen heißen wird, »politischen Physik« zu schaffen hatten. Daß ihm der Wechsel zudem in einem Lebensaugenblick zugemutet wurde, als die Familie sich erstmals wirklich auf ein unbefristetes Bleiben eingerichtet hatte, muß die Verletzung förmlich bis in die Fundamente seiner Person getrieben haben. Derart, daß Uwe Johnson diesen ersten, grundlegenden »Verrat« seinen Eltern, der Mutter zumal, nie würde vergeben können: Man hatte das introvertierte, sensible und schmale Kind abrupt der Härteerziehung der neuen Barbaren ausgeliefert. Dabei las der Junge fast süchtig.

Das Alarmsignal war so unübersehbar, es hätte wahrgenommen werden müssen: dies Kind las. Mit zehn Jahren hatte es sich gelangweilt in der Gesellschaft von Winnetou und Karl Mays Bände durchgenommen wie eine Schulaufgabe, da sie als Geschenk zu würdigen waren. Noch die genaueren Indianerbücher waren Pflichtstücke gewesen, Märchen gehörten zur Grundausstattung des Krankseins, waren verordnet wie Medizin, und die Erinnerung misstraut der gefälligen Legende, man habe einmal auf dem Dachboden der Grosseltern, in einer Luft voll sauberen Staubes, von der Sonne geheizt, den »Robinson Crusoe« gefunden. Die psychologische Ausbildung des Wehrwillens durch die militärischen Dreigroschenhefte hatte so wenig angeschlagen, dass das Gedächtnis sich begnügt mit einem einzigen Satz, in dem ein Mann auf einem Flussdampfer dem Bordhund eine Scheibe Brot »hauchdünn« mit Schmalz bestreicht; der Rest dieser Szene ist das einzige, was bedauerlich fehlt. (Begleitumstände, S. 33)

Ein solcher Geschmack wird ihn bereits auf der Grundschule in Anklam vereinzelt haben. Wie viel mehr mußte er das auf der nationalsozialistischen Sonderschule tun. Diese würde ihm, neben anderem, das Lesen zensieren und verbieten wollen. Wer die Heimat nicht und auch nicht seine Lektüre behalten durfte, der mußte sich beides eben schreibend selbst verfertigen. Das Schreiben zum einen als einzig wirksame Therapie gegen das existentielle Verlustgefühl, wie es die Wahrnehmung des unaufhaltsamen Verrinnens der Zeit hervorzurufen vermag. Schreiben darüber hinaus als Mittel gegen den Heimatverlust, der einen, mit schrecklicher Plötzlichkeit, treffen konnte.

An solche Konsequenz war 1944 natürlich noch nicht zu denken. Doch daß er – und noch dazu so plötzlich – fortgegeben wurde, mußte der Knabe zuallererst seiner Mutter als »Schuld« anrechnen, stellte diese doch seine erste Beziehungsperson dar. Noch als die Schwester später, 1963, die krebskranke Mutter zu sich in die Wohnung nahm, statt sie pflegen zu lassen, empfand Uwe Johnson das als eigentlich unverständliche Nähe und Sentimentalität. Die Tiefe der Verletzung schränkte ihm auch da noch die Fähigkeit verstehenden Verzeihens ein.

Zu allem zeichnete sich im Jahre 1944 die Kriegsniederlage für jeden unverkennbar ab. Erna Johnson, realitätsfern und in ihrem Glauben an den »Führer« so hysterisch wie später Uwe Johnsons Figur der Frau Lockenvitz, sandte ihr Kind dennoch in die »Deutsche Heimschule« im fernen Polenland. In diesem aberwitzigen Glauben, spätestens, »verriet« die Mutter ihr Kind. Daß Uwe Johnson später keine je erfahrene »Untreue« vergessen wird, daß er »Treue« als höchsten Wert noch in Nebensächlichstem bewahrte, bis hin zur grotesken, marottenhaften Anstrengung, nie etwas Zugesagtes zu vergessen, und zu der damit verbundenen wahrhaft tragisch-heroischen Anstrengung, Verläßlichkeit zwischen den Menschen einzurichten – das, so scheint es, hat seinen ersten Grund in diesem lebensgeschichtlichen Komplex.

DIE »DEUTSCHE HEIMSCHULE« IN KOSTEN BEI POSEN.

EINGANGSBILDER

Ob Uwe Johnson auf seinen Eintritt in die »Heimschule« vorbereitet war, wie weit er selbst bereit erschien dazu, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren. Wohl aber, wie ihm seine »Heimschul«-Zeit ins Bewußtsein trat. Der »Hitlerjugend« kann der Knabe in Anklam aus Altersgründen noch nicht angehört haben, allenfalls dem »Deutschen Jungvolk«. Er selbst hat rückblickend beides unter dem gebräuchlicheren Begriff »Hitlerjugend« zusammengefaßt, hat Zugehörigkeit angedeutet. Dokumente liegen darüber nicht vor. Wohl aber die Äußerung Hans Werner Richters, noch einmal aus dem Etablissement der Schmetterlinge, derzufolge Johnson nach einer Auseinandersetzung einmal gesagt haben soll: »So schlecht hat man mich nicht einmal in der Hitlerjugend behandelt.« Richter weiter:

Auch er dachte ja an seine Biographie, wie Heinrich Böll [dessen Äußerung in dieser Richtung nachgerade notorisch war], auch er sagte einmal in einem anderen Zusammenhang, »ich werde mir doch nicht meine Biographie kaputtmachen«. Ich habe das nie begriffen, ich hielt den Gedanken daran fast für lächerlich. (Richter, Etablissement der Schmetterlinge, S. 181)

 

Es scheint allerdings, daß Uwe Johnson in diesem Punkt nicht anders dachte als sein Freund Hans Werner Richter. Nirgends hat er versucht, seine Zugehörigkeit zu Hitlers »Jungvolk« zu verbergen. In den Begleitumständen steht vielmehr:

Unter [Hitlers] Kommando verdarb der Sonntag, wenn die Jugend seines Namens in geschlossener Formation, Uniform Vorschrift, abmarschierte zum Besuch von Filmvorführungen über Leute wie Bismarck oder Rudolf Diesel. (Begleitumstände, S. 26 f.)

Man kann also nicht ausschließen, daß der Knabe Uwe zeitweilig einem beflissenen Hitlerjungen geglichen hat. Er selbst hat ausgeführt, gegenüber Wilhelm Johannes Schwarz: »Sicherlich besass ich damals das Weltbild, das die Schule vermittelt hatte, das Weltbild, das alle anderen hatten.« Johnson sagte aber auch, im gleichen Zusammenhang: »Nicht der Führer stand im Mittelpunkt meines Lebens, sondern meine Eltern.« Doch 1944, in der vierten Klasse, wurden ihm seine Kopfform, seine guten Schulleistungen und die Einstellung seiner Eltern zum Verhängnis. Da nämlich suchte eine der Kommissionen, die durch das Reich reisten, auch Uwe Johnson aus, um den blonden Jungen im verschärften Geist der nationalsozialistischen Elite erziehen zu lassen.

Die »Deutsche Heimschule« in Kosten bei Posen, heute polnisch Koscian, galt als eine etwas weniger elitäre Ausgabe jener »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten«, die Hitler sich hatte errichten lassen, seinen Nachwuchs für die Kolonisierung der Welt heranzuziehen. Die Kostener Elite mithin war eine Elite der zweiten Wahl. Uwe Johnson erfüllte zwar, was Herkunft, Kopfform, Körperbau und Schulleistungen betraf, alle Vorbedingungen für die Elitezugehörigkeit im »Dritten Reich«. Wohl aber störte des Schülers Augenfehler. Erna Johnson hatte ihn doch nicht in Gänze zu korrigieren vermocht.

Dezidiert gehen Johnsons Lebensläufe, anders übrigens als später die Begleitumstände, auf die Zeit in Kosten ein; der früheste, geschrieben wahrscheinlich 1952 in Güstrow, wie folgt:

Ich wurde im Frühjahr 1940 in der Comenius-Schule in Anklam eingeschult, die ich bis zum Abschluss der 4. Klasse besuchte. Bei einer allgemeinen Auslese wurde ich für den Besuch einer »Deutschen Heimschule« vorgeschlagen. Vom Sommer 1944 bis zum Januar 1945 war ich der Schüler der »Deutschen Heimschule« Kosten bei Poznan/Posen. Nach der durch das Vorrücken der Roten Armee verursachten Auflösung der Heimschule lebte ich bei meinen Eltern in Anklam.

Die Neutralität der Schilderung fällt ins Auge. Eine Beteiligung der Eltern wird nicht erwähnt. Die Stilhaltung erscheint, selbstverständlich, für die damaligen Behörden der DDR berechnet. Verrät zudem noch die Handschrift der Mutter. Dagegen im später, 1954 wohl, geschriebenen Lebenslauf steht, nun bereits im gestrafften und geschmeidigeren Stil, der Einsatz allein erklingt wie ein kleines Fanal:

Ich heisse Uwe Johnson. Meine Eltern sind der Diplomlandwirt Erich Johnson und Erna Johnson, geborene Sträde. Ich wurde geboren am 20. Juli in Cammin in Pommern. Mein Vater arbeitete bis 1945 als Angestellter des Greifswalder Tierzuchtamtes als Tierzuchtwart und Kontrollassistent der Molkerei in Anklam. Dort besuchte ich bis 1944 die Volksschule. 1944 gab mich mein Vater in die Deutsche Heimschule Kosten.

Der Vater gibt hier das Kind fort – in der Formulierung des letzten Satzes gerät zum ersten Mal die Beteiligung der Eltern ins Bild. Doch der Vater soll es damals gewesen sein, ohne Beteiligung oder gar Einverständnis der Mutter? Als dieser Lebenslauf geschrieben wurde, lebte Erna Johnson noch in der DDR. Darin ist meines Erachtens der hauptsächliche Grund für die ausschließliche Nennung des Vaters zu sehen. Erich Johnson lag zudem zu diesem Zeitpunkt bereits in russischer Erde begraben, und die Johnsons wußten dies. In der Abfolge der Lebensläufe spricht ein fortgegebenes Kind, das sich schrittweise an die Verantwortlichen seiner Verstoßung heranarbeitet.

Im Verlauf dieses Prozesses wird der Vater, je später, desto mehr, exkulpiert. Dennoch: Die Wunde, die die Verstoßung einst zugefügt hatte, vernarbte allenfalls oberflächlich. Es erscheint schon als auffällig, wie sich die stilistische Geste des Fortgegeben-Werdens wiederholt, wenn es um die »Heimschule« geht. Noch 1981 schrieb der, der da bereits fast vierzig Jahre Abstand zu seinem Dasein als »Jungmann« besaß, an seinen Schulfreund Lehmbäcker: »1944 war ich in eine ›Nationalpolitische Erziehungsanstalt‹ getan [!], eine Kaserne von einem Internat.« Der sonst allem englischen Understatement zugetane Johnson nordet hier die »Heimschule« zur NaPoLa auf. In den selbstbiographischen Passagen seiner Literatur freilich hat er die Verantwortung des Vaters in gleichem Maße reduziert, wie er die der Mutter zumindest konstant erhielt. Im Gegensatz zum oben zitierten Lebenslauf wird es in den Jahrestagen die in religiöser Hysterie befangene Lisbeth sein, die ihr Kind fortgeben will. Cresspahl rettet seine Tochter, führt also aus, was in der Realität des Sommers 1944 Erich Johnson nicht möglich gewesen war.

Weiterhin erscheint in diesem Zusammenhang signifikant, daß jene Darstellungen, die sich aus Johnsons Rückerinnerung an die eigene Jugend speisen, auch Achims Jugendgeschichte im Dritten Buch und die Geschichte des Schülers Lockenvitz im Abschlußband der Jahrestage, die Rolle des Vaters je später, je deutlicher abtönen. Mehr oder weniger gezwungen stimmt Achims Vater der Polit-Karriere seines Sohnes zu. Im Fall des Lockenvitz schließlich wird recht unkaschiert verhandelt, worum es in der Realität von 1944 gegangen sein mag: Der Vater sagt ja zum NaPoLa-Plan, »vor die Wahl gestellt [...]: Einziehung zur Wehrmacht, oder ein anderes Bekenntnis zum Hitlerstaat.« (Jahrestage, S. 1722) Durch die Fortgabe des Knaben konnte der Vater bei der Mutter bleiben – bis kein Jahr später auch er »Mine Hüsung« verlassen mußte, um in den »Volkssturm« einzurücken.

DIE »DEUTSCHE HEIMSCHULE« ALS INSTITUTION

Uwe Johnsons Aufenthalt in Kosten brachte ihn in zentrale Bereiche des braunen Erziehungswesens. Auf dem Reichsparteitag von 1935 hatte der »Führer« ausgeführt: »In Zukunft wird der junge Deutsche von einer Schule in die andre gehoben werden. Beim Kinde beginnt es, und beim alten Kämpfer wird es enden. Keiner soll sagen, daß es für ihn eine Zeit gibt, in der er sich ausschließlich selbst überlassen sein kann.« Uwe Johnson hat die Realisierung dieses Versprechens – oder lag hier eine Drohung vor? – am eigenen Leib erfahren. Mit zehn Jahren konnte ein Kind in eine NaPoLa aufgenommen werden. Insgesamt existierten etwa vierzig dieser Anstalten im gesamten Reich. Sie waren meist in Schlössern oder beschlagnahmten Klöstern untergebracht, in repräsentativer Umgebung jedenfalls, das Selbstgefühl der künftigen Elite auch durch entsprechendes Ambiente zu festigen. Als Vorbild galt die berühmte, herrscherlich über dem See gelegene, vormals kaiserliche Kadettenanstalt im holsteinischen Plön. Ursprünglich waren die NaPoLas eine Gründung der SA und als ein Geschenk zum Geburtstag des »Führers« 1933 gedacht. Nach dem 30. Juni 1934, dem Datum des sogenannten Röhmputschs, fielen sie an die SS. Im Lehrplan der NaPoLas stand herkömmlicher Schulunterricht neben militärischer Ausbildung. Letztere lief wahlweise auf eine der drei Waffengattungen zu oder auch auf die Waffen-SS. Daß eine Mehrzahl der sogenannten Jungmannen gerade der Waffen-SS den Vorzug gab, kann nicht überraschen.

Neben den »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten« (offizielle Abkürzung: NPEA) und neben den vor allem in Holland und Flandern gegründeten »Reichsschulen« gehörten die »Deutschen Heimschulen« zum engeren Bestand der sogenannten nationalsozialistischen Sonderschulen. Für sie alle galt ein vergleichbar strenges Auswahlverfahren. Die reisenden Auswahlkommissionen sollten übrigens auch eine zu ausschließliche Selbstrekrutierung der NSDAP verhindern. Das hatte seine Gründe, schließlich wünschte jedes nationalsozialistisch überzeugte Elternteil sein Kind in einer der Schulen des »Führers« zu sehen. Die Sonderschulen waren, wie Statistiken zeigen, vor allem vom Mittelstand besucht – jenem Mittelstand, der auch in der Anklamer Siedlung »Mine Hüsung« zu Hause war.

Zwei Wege führten in solche Eliteerziehung hinein: ein eigener Antrag – was in der Praxis bedeutete: Antrag der Eltern – oder das Erwähltwerden durch eine der obersten Auslesekommissionen. Uwe Johnson verkörperte den gewünschten Typ und wurde auf die letztgenannte Weise »entdeckt«. Offiziell unterstanden diese Sonderschulen dem Reichsbildungsministerium. De facto bestimmte in ihnen freilich die SS unter Heinrich Himmler bis in die pädagogischen Details hinein. Insgesamt galt, was Horst Überhorst in Elite für die Diktatur (Düsseldorf 1969) geschrieben hat:

Wer bei der Aufnahmeprüfung nach dem Urteil des Referenten der SS nicht rassisch hochwertig war, hatte keine Chance, die Prüfung zu bestehen, auch wenn er sich sonst gegenüber allen Prüflingen als überlegen erwies. (Überhorst, Elite, S. 82 f.)

Dennoch meinte der SS-Gruppenführer Beyer in einem Schreiben an den »Reichsführer SS« Himmler, daß in den »Heimschulen [...] alles, jedenfalls keine Auslese« sei.

Bei der »Auslese« aber zählte bei weitem nicht allein die »Reinrassigkeit«. Ohne erstklassige schulische Leistungen besaß kein Schüler eine Chance. Auch mußte, und das geschah keineswegs nur pro forma, die Einwilligung der Eltern in jedem Fall eingeholt werden. In einer zeitgenössischen Veröffentlichung von Fritz Kloppe aus dem Jahr 1934 mit dem Titel Nationalpolitische Erziehungsanstalten heißt es:

Richtungweisend sind drei Sätze: Bei der persönlichen Vorstellung des anzunehmenden Schülers bei den Leitern der Anstalt – Kommandeur, Erziehungs- und Unterrichtsleiter – wird in einer kurzen Besprechung mit Vater und Jungen zunächst erkannt werden müssen, wieweit der Aufnahme Begehrende in die Anstalt paßt. [...] Die zweite Vorbedingung ist die rein körperliche Anlage des Jungen. Schwächliche Kinder mit körperlichen Fehlern, mit Erbkrankheiten (Herzfehler, Augenfehler) sind völlig ungeeignet. Bedauerlich persönlich, ein tüchtiger, rassisch einwandfreier Knabe mit solch einem Fehler, aber Humanitätsgefühle: ach der arme Junge! sind unzulässig.

Daß nun gerade Uwe Johnson, trotz eines manifesten Augenfehlers, in die nationalsozialistische Sonderschule in Kosten aufrückte, spricht für seine Schulzeugnisse. Und für die Bereitschaft der Eltern, den Knaben fortzugeben. Seit dem 7. Oktober 1937 war durch den Reichsbildungsminister Rust verfügt, daß sämtliche Volksschulen

diejenigen Jungen des dritten und vierten Schuljahres, die für eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt geeignet erscheinen, zum 1. November jedes Jahres dem Kreisschulamt melden. Der Kreisschulrat reicht die Vorschläge der nächstgelegenen Nationalpolitischen Erziehungsanstalt auf dem Dienstwege weiter.

Dieser Dienstweg muß die Akte Johnson (und vermutlich auch den Knaben selbst) über Köslin geführt haben. Vom Oktober bis zum November 1943 wird Uwe Johnson einer Vormusterung ausgesetzt gewesen sein, durchgeführt vom Anstaltsarzt, dem Unterrichtsleiter und einigen anderen Erziehern in der am nächsten gelegenen NaPoLa, im Fall des Anklamers also im genannten Köslin. Dort wurde sein Schädel vermessen, seine Abstammung untersucht, wurden seine Zeugnisse gelesen, die Farbe der Augen, der Abstand zwischen Nase und Kinn, der Neigungswinkel der Stirn, die Kopfform insgesamt taxiert. Neben den Zeugnissen muß auch die Gesundheit des Knaben erstklassig gewesen sein. Denn von allen Volksschülern des Reichs, das damals rund 80 Millionen Menschen umfaßte, wurden pro Jahrgang lediglich vierhundert zur Vorprüfung für die NaPoLa angenommen. Hinzu kamen noch die, die von den Eltern direkt gemeldet wurden. Lediglich 100 bis 120 Schüler wurden nach der Vorprüfung zur Aufnahmeprüfung zugelassen, die wiederum nur ein Drittel bestand.

Auch die praktischen Prüfungen waren in allen Fällen ähnlich. Überhorst hat sie nach dem Zeugnis eines »Jungmann K.« aus der Klasse 5a beschrieben:

Dann führte man uns die Panzernahbekämpfung vor. Wir sahen wie gefährlich ein Panzer ist und wie schwer er zu »knacken« ist. Das »Knacken« eines Panzers erfordert vor allem Ruhe, Schnelligkeit und Geistesgegenwart. Wir sahen, wie SS-Männer einen russischen Panzer vom Typ T 34 auf sich zurollen ließen und erst im letzten Augenblick, als die Ketten des Panzers etwa 75 cm vor ihrem Körper waren, zur Seite sprangen. (Überhorst, Elite, S. 396)

 

Diese heroische Seite besaß freilich auch ihr administratives Gegenbild. Da es sich bei dem Ganzen um eine deutsche Auslese handelte, war nämlich noch die geringste Einzelheit detailgenau geregelt:

Die Reisekosten zur Aufnahmeprüfung und der Aufenthalt in der Anstalt (täglich 1,30 Reichsmark) gehen zu Lasten der Eltern. Es empfiehlt sich, die Fahrkarte des Jungmannen für die Hinfahrt von der Bahn zu »Reklamationszwecken« bescheinigen und sich aushändigen zu lassen, da die Kosten dieser Fahrt bei Bestehen der Prüfung auf Antrag zur Hälfte erstattet werden können. (Überhorst, Elite, S. 83)

Erna Johnson, eine glückliche deutsche Mutter, wird im Sommer 1944 den Vorschriften gefolgt sein. Sie hat ihrem Sohn zusammengestellt und ganz gewiß mit seinem vollen Namen versehen:

1 braune Sporthose,

1 Braunhemd,

1 schwarze Badehose,

1 kurze Hose,

1 Badetuch,

2 Paar schwarze Strümpfe,

1 Paar Hosenträger,

1 weißes Turnhemd,

1 Wäschebeutel,

1 Nähkästchen,

1 Wandereßbesteck,

1 Zahnbürste mit Behälter,

1 Reisekoffer oder Reisekorb,

3 Nachthemden oder Schlafanzüge,

4 Handtücher, Seife,

1 Handbürste,

2 Waschlappen,

1 Nagelscherchen,

18 Taschentücher,

1 Paar Turnschuhe,

1 Kleiderbürste, evtl. Rasierzeug,

1 Wasserglas,

2 Putzlappen,

Schuhputzzeug. (Überhorst, Elite, S. 84)

Damit ausgerüstet, ein Besitzer von insgesamt 18 Taschentüchern, reiste ein Knabe im Sommer 1944 aus seinem Anklamer Häuschen ins Internat der Kostener »Heimschule«.

SCHULUNTERRICHT UND SONNENWENDFEIER

Die in der »Heimschule« mißbrauchte Sehnsucht nach Gemeinschaft wird Uwe Johnson, vor allem im Sport, recht grausam zugesetzt haben. Seine gesamte Persönlichkeit stand quer zu dem, was in der »Heimschule« gefordert wurde. Und doch wird er sich gewünscht haben, dazuzugehören. Alles erschien abgestellt auf die Identifikation mit dem Aggressor, machte sie doch das Zentrum von Herrschaftsausübung in beiden Totalitarismen unseres Jahrhunderts aus. Im Unterwerfungsritual stand das Schauspiel der Gewalt mit seiner archaischen, wortwörtlich bluttriefenden Attraktion im Mittelpunkt. »These new boarding-schools, therefore, fifteen in number, started in 1933, were modelled in more than one respect upon our English Public Schools« – so hat es damals ein Engländer, der in Hitlers Reich zu Besuch weilte, aufgeschrieben (auch dies zitiert nach Überhorst, Elite, S. 321). Das Englische stand an zentraler Stelle im Lehrplan dieser Schulen. Vor dem Krieg waren Schüleraustausch und ständige Verbindung mit englischen Schulen häufig. Vor allem den Sport als hochrangigen Erziehungsfaktor hatten Public School und NaPoLa gemeinsam. Statt des englischen Mannschaftssports freilich wurde in den von der SS gesteuerten Anstalten das Boxen Mann gegen Mann verordnet. Eine NaPoLa-eigene Zeitschrift, Der Jungmann, veranschaulicht, wie es dabei zuging:

In der [Aufnahmeprüfung] fing es an. [...] Die Zugführer standen mit Notizblock und gezücktem Bleistift bereit, jeden Fehlschlag zu vermerken. Die ersten Gegner machten sich fertig. Auf das Kommando »Los!« schossen sie wie zwei Kampfhähne aufeinander und begannen eine schreckliche Schlägerei. Sie dachten: »Je mehr wir aufeinander losgehen, desto höher wird es uns gewertet.« Schlag um Schlag prasselte auf die nackten Körper. Jeder kniff die Augen zu und schlug wild um sich. Schließlich mußte der Zugführer wegen blauer Augen und roter Nasen den Kampf abbrechen. (Jungmann, Jg. 1936, Heft 2, S. 29)

Über Uwe Johnsons Gemütsverfassung auf dem NS-Internat gibt ein Brief Auskunft, den er am 5. August 1981 an den Schulfreund Heinz Lehmbäcker gesandt hat:

Dear Henry

ich habe zu danken für zwei Briefe, vom 12. und 27. des vorigen Monats, auch für Glückwünsche zu einem Tag zwischen den beiden. Dieser 20. Juli ist mir in einem recht frühen Sommer abhanden gekommen. 1944 war ich in eine »Nationalpolitische Erziehungsanstalt« getan, eine Kaserne von einem Internat, da wurde den halben Tag Sport als Heeresdrill betrieben, auch die Freizeit war der militärischen Erziehung gewidmet, so dass ich zu leiden hatte, Brillenträger schon damals. Am 19. befand die »Stube«, ich hätte ihre Ehre durch mangelhaften Bettenbau geschändet, so dass das Geschenk zum Geburtstag in den frühen Morgenstunden erschien als nächtliche Abreibung, »Heiliger Geist« genannt, und ich am Abend recht erleichtert war über die Nachricht, in Berlin sei die Regierung abgeschafft worden, in deren Sinne Kinder der Maßen abgerichtet wurden. So fällt mir zum 20. Juli immer zuerst ein, und verdrängt das private Datum, dass an diesem Tage etwas zu meinem persönlichen Nachteil schief gegangen ist. Tatsächlich habe ich ihn in diesem Jahr zum ersten Mal zu begehen versucht. Aber in dem Luftkissenfahrzeug zwischen Dover und Frankreich, dieser fliegenden Garage, fiel mir angesichts der vierzig Minuten Reisezeit doch wieder als Hauptsache ein, dass Hitlers Seelöwe zu lahm war für diese Strecke, und in Boulogne-sur-Mer sah ich am deutlichsten an der höckerigen Stadt die vielen Eisenbahntunnel, in der [sic!] Hermann Meier mit seinem Sonderzug Asien sich verkroch, weil er Schiss hatte vor der Royal Air Force, die er längst »am Boden zerschmettert« hatte mit seinem grossen Maul. Nunmehr will ich mich endgültig begeben in die Einsicht, dass mir dieser Tag beschlagnahmt ist.

Daß Uwe Johnson in diesem Brief seinen Geburtstag am 20. Juli mit dem gescheiterten Attentat auf den »Führer« zusammensieht und Göring nennt, wie dieser genannt zu werden wünschte, sollte er nicht die Luftherrschaft über England erringen – das schuldet sich natürlich dem politisch reflektierten, sarkastischen Bewußtsein des nunmehr 47jährigen Autors. Dennoch wird deutlich: Der Knabe Johnson war kein Hitlerjunge Quex. Vielmehr einer, den die Quexe drangsalierten, wofür es verschiedene Gründe gab. Zunächst: Johnson besaß zum Sport ein ausgesprochen delikates Verhältnis. Weiterhin: auf der Comenius-Grundschule hatte man den Konflikten noch durch Auswendiglernen entgehen können. Darüber berichtet auch die Gesine der Jahrestage ihrer Tochter Marie. Schon damals war Johnson ein langaufgeschossener Leptosomer, schlaksig und schielend. Als einer, der zudem leidenschaftlich las, und zwar seine »private« Lektüre, war er ein nachgerade prädestiniertes Objekt des Gehänselt-Werdens. Das um so mehr, als er sicherlich sein Handikap durch gute Schulleistungen auszugleichen trachtete. Die Photos des jungen Studenten zeigen eine deutliche Narbe unter dem linken Auge. Als Teil von Achims Jugenderfahrung hat Uwe Johnson im Dritten Buch jene Passage niedergeschrieben, in der wir ihn erneut in Kosten vor uns sehen:

In der Schule schloß er lange keine neuen Freundschaften, der Briefwechsel mit den zurückgelassenen wurde aber ratlos. [...] So übertrieb er den Eifer im Unterricht wie bei den Schularbeiten bis nahe an den Platz des Klassenersten; drei Mitschüler lauerten ihm auf an der nachmittäglich unbegangenen Straßenecke und schlugen ihn zusammen, ein scharfkantiger Stein hinterhergeworfen riß ihm die Schläfe weit auf, das ist diese Narbe am linken Auge. [...] Immerhin war ich doch ziemlich verletzt: sagte er, und: Bedenke mal daß wir die reinen Kinder waren. (Drittes Buch, S. 90 ff.)

Sie erschienen als die reinen Kinder, diese zehnjährigen »Jungmannen«. Und müssen einander dennoch im Stil der staatlicherseits gewünschten »Blonden Bestie« Nietzsches zugesetzt haben. Des Mecklenburgers Erfahrung war eine generationstypische. Das macht auch die literarische Qualität der entsprechenden Passagen etwa im Dritten Buch aus. In Fritz Rudolf Fries’ Weg nach Oobliadooh, in einem Roman also, den sein Autor selbst als Antwort auf die Mutmassungen verstand und den kein anderer als Uwe Johnson half, dem Suhrkamp Verlag zur Publikation zu vermitteln, erscheinen ganz ähnliche Erfahrungen aufbewahrt: