Uwe Johnson

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Diese Gesamtzensur umfasst folgende Prädikate: 1. Schriftliche Abschlussarbeit – Sehr Gut. 2. Leistungen während des Studienjahres – Sehr Gut. 3. Teilnahme am Unterricht – regelmässig.

Am 27. Mai 1953 legte der Student die Zwischenprüfung über Herder und Kant sowie über die Literatur des Demokratischen Deutschland ebenfalls mit »Sehr Gut« ab. Auch in Marxismus-Leninismus erzielte er (am 12. Juni) ein »Sehr Gut«. Gleiches galt für die russische Sprache und die Geschichte der Deutschen Literatur von 1700 bis 1789. Nur in der Mittelhochdeutschen Grammatik kam er über ein »Gut«, wenn auch mit Pluszeichen, nicht hinaus. Am 15. Oktober 1953 wurde ihm dieses Prüfungsergebnis offiziell bestätigt.

Bereits der Studienanfänger Johnson organisierte sein Dasein als Schriftsteller. Seine finanziellen Mittel waren begrenzt. Dennoch bevorzugte er, das eigene Schriftbild ausschließlich in schwarzer Tinte zu erblicken, ungeachtet aller Mehrkosten. Eine Fülle solcher schriftstellerischer Utensilien wird Walter Benjamin fordern – als unerläßlich für die Inspiration. In bezug auf die Rostocker Zeit hat Uwe Johnson in Begleitumstände das folgende geschrieben:

Wie soll er da eine Fülle auftreiben, wenn die Regierung selber schreiben lässt auf holzigem Papier! Will er das bewerkstelligen mit dem Ankauf unzähliger »Geschenkpackungen« aus einem monatlichen Budget von 130 Mark Stipendium, wird er Senf wählen müssen als Belag für sein Brot. Es ist selbst verschuldet, wenn einer sein Schriftbild nur in schwarzer Farbe erträgt (auf den Vorwurf der Exzentrizität antworte ich mit der Auskunft, dass grüne Farbe reichlich im Handel war), solches Schwarz aber so tief im Süden der Republik angefertigt wird, dass es den Bezirk Rostock nur zufällig erreicht. Hier versichere ich einem Mädchen namens Christian, dass ich anfangs aber ohne jede Ahnung war von dem Geschäft, das deine Mutter betrieb, mit Schreibwaren, Christian. Was war Luxus? Eine Schreibmaschine war Luxus. Fülle war manchmal geboten. (Begleitumstände, S. 69 f.)

Bei dem im Text erwähnten »Mädchen namens Christian« handelte es sich um die Kommilitonin Christine Krakow, mit der Johnson im Rahmen des Vietinghoffschen Englisch-Unterrichts im Herbst 1953 bekannt geworden war, mithin in jener Zeit, auf die sich auch die zitierte Passage der Begleitumstände bezieht. Bereits da muß er sich als Berufsschriftsteller im Benjaminschen Sinn betrachtet haben. Das Schreiben als eigene, besondere Form der Existenz. Als eine Profession, die der geeigneten Stimuli bedurfte. Einsparungen vorzunehmen, das erschien dem asketischen Blonden in nahezu allen Bereichen des Lebens als notwendig und möglich. Nicht aber im zentralen seiner Schreibexistenz.

Tatsächlich mußte er energisch sparen. Johnsons Stipendium betrug von 1952 bis 1955 130 Mark im Monat. Seine Mutter verdiente, zu Beginn des Jahres 1955, ganze 263 Mark. Der dann zum »Arbeiterkind« gewordene Uwe Johnson erhielt, wie erwähnt, sein Stipendium auf 180 Mark aufgestockt. Die Rostocker Straßenbahn gewährte gegen »Vorlage des Studentenausweises und eines Lichtbildes« eine verbilligte Monatskarte zum Preis von 7,50 Mark. Als Stipendienempfänger war Johnson beitragsfrei versichert. Daneben besaß er dank des mütterlichen Berufes einen Freifahrschein für die Strecken der »Deutschen Reichsbahn«. Ebenso das Recht, zu ermäßigten Preisen in der Reichsbahnkantine in Güstrow zu essen. Dieses Recht nahm er häufig wahr (und erlauschte sich hier entscheidende Kenntnisse zur Darstellung des Dispatcher-Berufs). Für ihre Studenten unterhielt die Rostocker Alma mater einen Mensabetrieb in der Schwaanschen Straße. Der Student Johnson, es ist verbürgt, daß er die Leipziger Mensa regelmäßig aufsuchte, wird auch in Rostock diese Möglichkeit in Anspruch genommen haben. Dort wurden, so stand es geschrieben, Mittag- und Abendessen »verabfolgt«. Das Mittagessen kostete 0,60 Mark. Das Abendessen, auf eigener Karte ausgeschrieben, war für 0,30 bis 1,10 Mark zu haben. Als Tischzeiten galten wochentags 11.30 bis 13.30 und von 17.30 bis 19.30. Auch sonntags konnte einer zwischen 11.30 und 13.00 verköstigt werden. Daneben standen allen Studenten Lebensmittelkarten zu, die ausgeteilt wurden vom Prodekanat in der Schwaanschen Straße Nr. 3, 1. Stock, wochentags zwischen 10 und 14 Uhr.

ALICE HENSAN, DIE »GUTE MUTTER« VON ROSTOCK

Die offizielle Bestimmung lautete 1952: »Immatrikulierte Studenten erhalten sofort Zuzugsgenehmigung.« Damit war freilich noch kein Zimmer gefunden. Das besagte Rostocker Prodekanat hätte Johnson vielleicht helfen können. Tatsächlich aber war es die Kommilitonin Käthe Woischik, die ihm zu seiner ersten Studentenbude verhalf. Das Zimmer lag damals noch in der Rostocker St.-Georg-Straße, aus der Drachentöter-Straße wurde nur wenig später die Friedrich-Engels-Straße. Heute hat die Straße ihren alten Namen zurückerhalten. Im Einfamilienhaus mit der Nummer 71, einem in glasierten Backsteinziegeln aufgeführten zweistöckigen Bau mit umgebendem Garten, wohnte die verwitwete Dame Alice Hensan mit Familie. In ihr sollte Uwe Johnson, dessen Beziehung zur eigenen Mutter seit längerem gespannt, ja zerrüttet war, einer »Ersatz-Mutter« begegnen, die ihm lebenslang ebenso eng verbunden bleiben wird wie Uwe Johnson ihr. Unter allen Rostocker Begegnungen ragt diese hervor. Ihr muß vergleichbare Bedeutung wie der noch zu schildernden mit dem »Waldgesicht« zugesprochen werden. Sie überstrahlte bei weitem alle akademischen Einflüsse an Intensität. Offiziell ist Uwe Johnson vom 17. Januar 1953 bis zum 12. September 1954 bei Hensans gemeldet gewesen; sehr gut möglich ist aber auch, daß er das Zimmer bereits 1952 bewohnte, zumindest sporadisch. In seinen Briefen jedenfalls wird er von der gemeinsamen Zeit mit Hensans »seit 1952« sprechen; in der Studienakte folgt die Rostocker Adresse direkt auf die Güstrower.

Der frisch aus Güstrow angelangte Student zog also in das traditionelle »Studentenzimmer« eines Bürgerhauses ein, gelegen in einem der besseren Viertel der ehemaligen Hansestadt. Man betrat das Haus durch einen seitlichen Eingang. Der führte, ohne die restlichen Wohnräume zu berühren, über eine kurze Treppe zur Linken hinunter in das »Studentenzimmer«. In diesem Zimmer las, studierte und schrieb Uwe Johnson in den Jahren 1953 und 1954, pfeiferauchend und teetrinkend. Außer ihm war das Haus von drei Frauen bewohnt: Großmutter, Mutter und Tochter. In der Mutter haben wir gewiß die Tonangebende zu vermuten: eben in der Dame Alice Hensan, geboren im Jahre 1900, gestorben 1985. Alice Hensan hatte Sohn und Ehemann im Krieg verloren. Sie war gebildet und literaturinteressiert, die Tochter einer Engländerin, schrieb sie einen schönen, erfrischenden deutschen Briefstil mit häufigen englischen Einsprengseln. Durchaus selbstironisch ließ sie sich die »Eule« nennen. Unter diesem Zeichen fanden die beiden zu einer Beziehung, aus der ein für Johnsons Biographie wichtiger, umfangreicher Briefwechsel resultiert.

Alice Hensan, die wußte, daß ihr Untermieter schrieb, und die ihn schon einmal ihren »guten Jungen« nennen konnte, brachte es zu einer erstaunlichen Autorität über den jungen Mann. Nach der Erinnerung von Manfred Bierwisch – und alle Briefzeugnisse unterstützen diese Aussage – bedeutete Alice Hensan dem jungen Schriftsteller schon bald entschieden mehr als die eigene Mutter. Sie zeichnete sich aus durch beherrschte Herzlichkeit, darin ein »norddeutscher Mensch«. Zudem einer mit einer großen Bibliothek, die von Goethe und Schiller über Fontane bis zur englischen Ausgabe von William Faulkners Light in August reichte. Die »englische Dimension«, in ihrer Bedeutsamkeit für sein literarisches Werk gar nicht zu überschätzen – Johnson begegnete ihr zuallererst in dem Haus an der Friedrich-Engels-Straße.

Alice Hensans Vater war Landgerichtsdirektor in Rostock gewesen. Er hatte sich mit einer Engländerin verheiratet. Ada Hensan kam aus Hull und erreichte ein biblisches Alter (sie lebte von 1867 bis 1960). Wiewohl ihr Deutsch perfekt war, hatte sie ihre Muttersprache beibehalten. Liebte es nach wie vor, sich auf Englisch zu unterhalten. Diese »Granny« stellte eine äußerst vitale alte Dame mit recht bestimmtem Auftreten dar, die Besucher zur – englischen – Konversation geradezu abzuordnen vermochte. Da kam ihr der neue Untermieter gerade recht. So wie umgekehrt ihr authentisches Englisch dem Studenten zupaß gekommen sein muß, der von Anfang an in Rostock englische Literatur- und Konversationskurse belegte. Bald schon erwies sich der neue Untermieter Johnson als »Grannys« Favorit. Ada Hensan liebte übrigens insbesondere John Galsworthys Forsyte-Saga.

Auch mit Alices Tochter Dora-Elisabeth »Dorothy« Hensan – sie lebt heute noch in dem besagten Haus – ist Johnson lebenslang in Verbindung geblieben. Auf sie hat er sich häufig im Zusammenhang mit Anträgen an die Behörden der DDR berufen. Johnson duzte sich mit der Tochter. Mit der »Ziehmutter« hat er sich wechselseitig gesiezt, wenngleich die »Eule« den Vornamen »Uwe« benutzte. Daß sie ihn im Gegensatz zu seiner späteren Ehefrau Elisabeth siezte, bezeugte Respekt vor seiner Eigenart und Begabung. Es hinderte sie aber ganz und gar nicht daran, ihm in bestimmten Situationen höchst energisch »die Leviten zu lesen«. Daß er ihr ein »Sohn-Ersatz« gewesen sei, hat die Tochter Dorothy Hensan dann im März 1982 an Uwe Johnson schreiben können. In seiner gesamten Zeit in der DDR, auch noch nach der Beendigung des Studiums, war Uwe Johnson ein gern gesehener Gast in diesem Rostocker Haus. Anläßlich seines Weggangs aus der DDR hat er an die Wunschmutter die folgenden Zeilen geschrieben – zusammen mit der Mitteilung, daß auf der Buchmesse 1959 ein Buch von ihm erscheinen werde:

Sie können gewiss sein, ich hätte es lieber in der Deutschen Demokratischen Republik verlegt und verkauft gesehen. Und glauben Sie bitte nicht, dass ich mich mit diesem Buch gegen die Deutsche Demokratische Republik entschieden hätte. Ich bin sehr ungern gegangen.

 

Solche Offenheit hat der mecklenburgisch Verschlossene zeitlebens eigentlich nur gegenüber der »Eule« geübt. Auch sie mußte er verlassen, als er sein Land hinter sich ließ. Wie hatte er doch geschrieben, sie zu bitten, seine nachgelassenen Möbel aus Güstrow abzuholen: »die Lampe, den Sessel, das Bettzeug, und den Krug unter dem kleinen Tisch, denn er war mir teuer, ich entbehre [...]«?

Selbst als er die DDR bereits hinter sich gelassen hatte, kümmerte sich Uwe Johnson um die alt gewordene Dame Hensan, aufopferungsvoll in seiner gewissenhaften Art und mit beeindruckender Zartheit. Nach 1959 ließ er den Hensans die noch ausstehenden Honorare aus seiner Israel Potter-Übersetzung überweisen. Betagt genug, den »Arbeiter- und Bauernstaat« vorübergehend verlassen zu dürfen, besuchte die »Eule« später die Familie Johnson in Berlin. Johnson sandte der Rostocker Familie neben Büchern zahlreiche Kunstkalender, vorzugsweise solche mit mecklenburgischen Motiven, und viele, viele Flaschen Underberg. Nach dem Wegzug der Johnsons aus Berlin um die Mitte der siebziger Jahre sah man sich noch seltener als zuvor, und wenn, dann lediglich in Rostock. So blieb am Ende nur die Post, und es entstand ein ausgedehnter Briefwechsel. Johnson wünschte sich stets Informationen über den Tageslauf der Familie. Verstärkt galt dies, nachdem die »Eule« infolge einer Embolie im rechten Arm am 16. Februar 1982 einen Schlaganfall erlitten hatte.

Der Schriftsteller gab sich über die Jahre hinweg außerordentlich Mühe mit dem Aussuchen der diversen Geschenke für die Hensans, berücksichtigte dabei die Aspekte der Brauchbarkeit ebenso wie die der Vergnüglichkeit. Noch am 16. Juli 1982 bereicherte der Güstrower den Haushalt der Hensans mit einer Hausleiter. Deren Erwerb im feuchtheißen Frankfurt erschien ihm eigener Schilderung wert. Nicht nur, daß er anläßlich dieses schweißtreibenden Aktes die habituellen Schwierigkeiten des Vielreisenden, seine obligaten schwarzen Hemden in den fast immer zu kleinen Waschbecken der Pensionen und Hotels zu waschen, in exzellenter Buchprosa voller Schalk und Ironie geschildert hat. Das gute Stück kostete seinerzeit DM 51,50. Wurde erworben im hochsommerlichen Frankfurt im Fachgeschäft für Einbauküchen und Haushaltsgeräte Anton Hartmann und Sohn in der Neuen Kräme Nr. 30. Im Keller dieses Geschäftes, an einem »feuchthitzigen Tag«, brachte ein Autor zwanzig sehr erhitzte Minuten mit der sorgfältigen Auswahl einer »handlichen Leiter« zu. »Ich hatte danach Veranlassung, mich umzuziehen, so auffällig weissliche Salzspuren hatte der Schweiss in dem von mir beliebten schwarzen Hemd deponiert«, so Johnson im Brief vom 16. Juli 1982 – ein Schreiben, in dem er sich denn doch ein »Verdienstchen« für seine tropische Beschaffungsaktion in dem »Frankfurter Handelshaus« anrechnen wollte. Anderes mußte seinen Weg in die »Demokratische Republik« über den Geschenkdienst »Jauerfurt AG« nehmen. Nicht alles daran war der DDR genehm. So mußte der Schriftsteller, noch kurz vor seinem Tod, am 26. Januar 1984, Dorothy Hensan mitteilen, daß sein Versuch, ihnen die nun kompletten Jahrestage zugänglich zu machen, an der »Ziffer 111 der Liste der verbotenen Gegenstände« gescheitert sei.

Johnsons Beziehung zu Alice Hensan war am Ende so von Fürsorge bestimmt, daß er vom Scheitern seiner Ehe der »Eule« niemals ausdrücklich berichtet. Nur ganz indirekt, in einem langen Brief vom 5. Dezember 1979, der an die Tochter ging und im Postskriptum Zweifel anmeldet, ob der Brief auch der »Eule« zumutbar sei, deutete Johnson die private Katastrophe an, indem er die Geschichte des Gastes George im »Seaview«, einem Pub und Hotel in Sheerness in der Nähe von Johnsons Haus, erzählte, wo der Wahlengländer selbst gern sein abendliches Bier trank. George bekommt dort ebenfalls seinen abendlichen »Gerstenwein«. Muß bei dieser Gelegenheit allerdings zusehen, wie seine Mildred, sie hat ihn verlassen, mit ihrem neuen Freund tanzt, sich in den Arm eines – selbst George muß das zugestehen – recht ansehnlichen und fürsorglichen Mannes schmiegt. George zählte 53 Jahre. Er sagte zu »Charles«, so hieß Johnson bei den Kneipengängern in Sheerness, nun sei er diesem um eine Ära voraus. Man müsse den Tatsachen ins Auge sehen. Mithin auch der, daß man nach ganzen 26 Jahren die Frau verlieren könne. Dennoch wolle er nicht von der Themse-Insel herunter, obwohl ihm seine Tochter einen Job in Southampton besorgt habe.

Dieser Bericht der »George-Geschichte« war das Äußerste an Direktheit, was Uwe Johnson den Hensans bezüglich seiner Ehekrise zumuten mochte.

Eine weitere Andeutung war allenfalls noch einem Brief zu entnehmen, mit dem der Einsame, der seine Einsamkeit in den Jahren nach 1978 gegenüber den Hensans nie direkt benannt hatte, über die Feier seines Geburtstages berichtet: Das sei nun das erste Mal seit zwei Jahrzehnten, daß er diesen wieder gefeiert habe. Zu

diesem Zweck flog ich in einem Luftkissenboot nach Boulogne-surmer, um dort in einer Nebenstrasse in einem etwas schmutzigen Zimmer zwei Lammkoteletts zu verzehren, mit ungemein reichlicher Knoblauch-Creme.

Dreierlei Geschenke habe ihm dieser Tag eingebracht: das Glückwunschtelegramm der Hensans; ein mitgehörtes amüsantes Familien-Gespräch am Nebentisch; und »die wiederholte Genugtuung, dass Hitlers Invasionsboote scheiterten an einer Strecke, für die ein englisches 45 Minuten braucht«.

Der Rostocker Familie konnte er weiterhin mitteilen, wofür sonst die eigene Familie den Adressaten abgibt: daß er, ebenfalls 1981, befürchtete, an Krebs erkrankt zu sein, was aber eine ärztliche Untersuchung entkräftete. Auch von notwendigen Reparaturen am Hausdach 1980 und der Entfernung einer sich ebenfalls als ungefährlich erweisenden Zyste aus seinem Arm im November 1979, vorgenommen im »Royal Marshden Hospital« in London, finden sich Mitteilungen an die Familie Hensan. Sogar Briefwechsel mit Manfred Bierwisch – etwa im Jahr 1978 – nahmen ihren Weg über die Hensans. Vor allem aber sandte er viele fingierte Dialoge aus seinem Stammpub »Napiers« an die »Eule«. Vom 21. November 1978 stammt folgende Szene voll dramatisierter Lakonik:

Bitte, vergegenwärtigt Euch die folgenden Verhältnisse und Vorgänge: Szene, aussen: eingeregnete Strasse, im Winde wankendes Wirtshausschild. Mann, durchnässt, betritt das Gebäude. Szene innen: Wirtsstube, Wirt, Mann eintretend. Wirt: »Rather wet out there, I presume«. Gast: »Must have something to do with the weather, I think«. Zuschauer (Bricht in Tränen aus). So viel von der hiesigen Diskretion und vom vorhandenen Wetter.

In dieser Umgebung, das Gasthaus als Ersatz familiären Zuhauses, spielten dann auch die zahlreichen Dialoge zwischen Charles I (Johnson), Charles II (ein Kneipen-Freund) und Charles III (dessen Kanarienvogel), die Johnson für die Hensans erfand.

Nach seiner Übersiedlung nach England hat Uwe Johnson die Hensans wohl nur noch zweimal gesehen. Gewiß hat er sie besucht, als er sich im Jahr 1978 vom 14. bis zum 17. Juni in der DDR aufhielt. Und er hat sie am 17. und 18. August ein letztes Mal besucht, als er mit einer englischen Reisegesellschaft und englischem Guide Mecklenburg und Rostock besuchte. Da freilich nicht, wie die Fama es will, als ein englischer Staatsbürger, sondern durchaus als der Bundesdeutsche mit der Paßnummer: D 8 085 509, der er lebenslang geblieben ist.

DAS »WALDGESICHT« ALS INGRID.

UWE JOHNSONS ERSTE LIEBE

Uwe Johnson kannte die junge Dame, die für die Ingrid in seinem Erstling, wenn auch eher unfreiwillig, Modell gestanden hat, seit dem Spätsommer des Jahres 1952. Beide studierten sie Germanistik an der Rostocker Universität. Bereits in einem Brief vom 30. August 1952 meldete der Student seine Verliebtheit der ehemaligen Recknitzer Lehrerin Charlotte Luthe. Dort finden sich die folgenden Zeilen:

Ich habe mir den Magen verdorben und verliebt habe ich mich auch. Wie üblich, beging ich meinen traditionellen Fehler und suchte mir so safttriefende Birnen aus, in die ich mich dann – verliebt habe. Den Magen verdarb ich mir mit (auch Tradition) einem jungen Mädchen, bei dem nicht nur der sex appeal entscheidend war. Sie ist in einer interessanten Entwicklungsperiode, nämlich im Übergangsstadium zwischen Backfisch und wirklicher Dame.

Johnson schrieb hier vom »Waldgesicht«: einer jungen Frau, die mit Vornamen Gertrud hieß und die er selbst schon bald »Göre« oder auch »Deerie« rief. Ihr Mädchenname und jetziger Name sollen auf ihren Wunsch hin ungenannt bleiben. (Der studentische Neckname »Waldgesicht« hat übrigens nie für die direkte Anrede zwischen den beiden gegolten. Sie ihrerseits nannte den Mecklenburger bei seinem Vornamen.) Das »Waldgesicht« ist am 23. April 1934 in Crivitz bei Schwerin geboren, entstammte also der gleichen Gegend wie Uwe Johnson. Dort ging sie bis zum Abitur im Jahr 1952 zur Schule. Auch sie hatte ihren Vater verloren, bereits 1944. Sie besaß zwei Brüder. Ihre Mutter hat Johnson ebenfalls kennengelernt, sie mag zur Zeichnung der Frau Babendererde das ihre beigetragen haben.

Aus sogenanntem bürgerlichen Hause, der Vater war Kaufmann gewesen, hat das »Waldgesicht« den Ideen des Sozialismus, von seiner Praxis ganz zu schweigen, nie etwas abgewinnen können. Nicht nur das unterschied sie damals von Uwe Johnson. Andererseits: Während des ersten Semesters in Rostock holte das »Waldgesicht« ihr Kleines Latinum nach. Daraus müssen sich, neben anderem, Berührungspunkte mit dem Einser-Lateiner Johnson ergeben haben.

»Waldgesicht« als Johnsons erste Liebe also, so genannt ihres ebenmäßig-lieblichen, sozusagen »grünen« Antlitzes wegen. Ein Gesicht, zu dem der Name Ingrid (im Altisländischen »die Liebliche«) gewiß gepaßt hätte. (Den titelgebenden Vornamen für den Erstling jedoch hatte Uwe Johnson bereits in Güstrow von der Schulkameradin Ingrid Helms entlehnt.)

Aus dem Fenster hielt sich ein verschlafenes aus der Massen liebliches Gesicht unter verwirrten blonden Haaren, das war lächelnd und versöhnlich noch vom Unbewusstsein des Schlafens. (Babendererde, S. 203).

Und weiterhin ist dort zu lesen:

Herr Wollenberg kehrte zurück mit einem schmalen kantigen Silberreifen auf seiner Hand, den legte er vor Klaus hin, stützte sich ohne Eile auf die Theke und sprach: War das so? Klaus drehte das matt schimmernde kühle Silber in seinen Fingern, hielt die Innenseite gegen das Licht, sah Herrn Wollenbergs gelassenes Zusehen, legte den Ring hin. Während Herr Wollenberg wohlwollend erzählte: Ja-u ..., neulich sei doch das Fräulein Babendererde hier gewesen und habe sich das Fach mit den Armreifen angesehen. [...] Während Klaus das Geld auf der Theke ausbreitete, erwähnte Herr Wollenberg noch: das Fräulein Babendererde sei ja wohl das schönste und netteste Mädchen am Orte, könne man wohl sagen. (Babendererde, S. 27 f.)

Ob Uwe Johnson im Jahr 1953 nun exakt 14 Mark für das Anfertigen eines Armreifs bezahlt hat, war nicht zu ermitteln. Wohl aber, daß seine Freundin aus Rostocker Tagen noch heute jenen silbernen Armreif trägt, dessen Herstellung im obigen Zitat, es erhält dadurch den Status eines Dokuments, geschildert wurde. Das Schmuckstück trägt die Gravur: »November twelfth«. Am 12. November 1953 hatte ein politisch wie persönlich denkwürdiges Treffen stattgefunden, auf das noch näher einzugehen sein wird und das eine Vertrautheit annahm, die den Verehrer jenen besagten Armreif schmieden ließ, den er ihr mit ausgesucht symbolischen Formen erst 1954/55 im berühmten Hörsaal 40 des Professors Hans Mayer überreichte.

Angefangen aber hatte ihre Bekanntschaft bereits im ersten Rostocker Semester, eben 1952. Ein Photo zeigt das »Waldgesicht« artig lernend, sonnenbebrillt, im Liegestuhl im Garten hinter dem Hensanschen Haus. Ein kissenwerfender Johnson bemüht sich derweil, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Und er erregte Aufmerksamkeit bei ihr:

Uwe fiel von Anfang an auf als etwas Besonderes, er war sicher den Professoren interessanter als den meisten anderen von uns. Ich fand ihn sicher auch interessant, aber zu eigenbrötlerisch in seinem Wesen und – was bei mir sicher auch eine Rolle spielte – leider häßlich.

Kein Zweifel, Johnson war der Begabteste seines Jahrgangs. Aber das half ihm nur wenig beim »Waldgesicht«. Der Güstrower gerierte sich als Bohemien und Außenseiter, legitimiert durch das Versprechen künftiger schriftstellerischer Leistung. Wer sich mit ihm einließ, mußte damit einverstanden sein.

Das »Waldgesicht« dagegen war von lockerem und gewandtem Auftreten, intelligent und hübsch, allerdings eher unselbständig und eine »Schülerin« immer noch, ausdrücklich um soziale Akzeptanz bemüht. Als »die Schönste von uns« (so Käthe Walter, die Frau des späteren Güstrower Superintendenten) machte sie die berauschende Erfahrung des Umworbenseins. Das »Waldgesicht« als norddeutsche Aphrodite: Die junge Frau trug auf Rostocks sommerlichem Pflaster die gleichen – griechischen – Sandalen, von denen in der Babendererde später geschwärmt werden wird. »Die Sandalen waren nichts weiter als Ledersohlen, die von kunstreich verbundenen Riemen an den Fuss gehalten wurden.« (S. 37) Gern und ausgiebig macht sich diese Studentin »schön«, achtete auf ihre Kleidung, den Blicken der Bewunderer zu gefallen. Unter diesen befanden sich auch – so später Hans Mayer – die »seltsamen Augen« des Kommilitonen aus Güstrow. Dieser war möglicherweise, das »Waldgesicht« betrachtend, ebenso hochgestimmt wie der Autor der »Ingrid«, die Zentralperson seines Buches beschreibend. Ingrids Mutter wird Zeugin, wie ihr Kind sich ankleidet:

 

Ingrid hatte sich mittlerweile ihre blaue Tapete über den Kopf gestülpt und arbeitete schweigend ihre Arme daraus hervor. Das war eine Art weites Hemd mit drei Löchern, das »Tapete« hiess wegen des unaufhörlichen Musters von sandfarbenem Grasgewächs in dem Blau. Sie stand jetzt vor Katina und schnürte die Sandalenriemen um ihre Füsse [...] Die Haut ihrer Stirn war ganz braun und fest von Sonne und Wind, das Hemd unter ihren wirren Haaren sah aus nach freundlicher Jahreszeit und lustigem Betrieb, das passte sehr fremd zu ihren schwierig erfüllten Augen und zu ihren mühsamen Lippen. (Babendererde, S. 190 f.)

Wenn das »Waldgesicht« sich die Lippen geschminkt hatte, konnte Johnson dessen kosmetische Taten seiner Hauswirtin Hensan, mit dem Hinweis auch auf »Deeries« rotlackierte Fingernägel, mit den Worten vorführen: »Sieh doch mal, was dieses Kind gemacht hat.« Von biegsamer Gestalt wie die Ingrid im Text, trug das »Waldgesicht« auch gern jene engen Hosen, die dann die Babendererde als Eva Maus bevorzugtes Kleidungsstück erwähnt. Gewiß also mußte »Liebe« heißen, was hier vor sich ging – jedenfalls von der Seite des Güstrowers her gesehen. Es hätte sich womöglich eine Affäre ergeben können nach dem Muster von Aldous Huxleys Das Genie und die Göttin? Doch die Verhältnisse im Rostock der Jahre 1952 bis 1954 und noch 1955 in Leipzig, sie waren nicht so. Allem gelegentlichen Spott über deren allzu simple Bürgerlichkeit zum Trotz, wie ihn die Briefe aus späteren Jahren verraten, gilt dennoch, was Uwe Johnson noch am 3. März 1976 an Erika Klemm (die Frau des Leipziger Freundes »Béla«) geschrieben hat: Das »Waldgesicht« sei seine »unglückliche Liebe« gewesen.

Wie Klaus und Ingrid in der Babendererde werden auch Johnson und das »Waldgesicht« ihre Flirtrituale gehabt haben:

Klaus liess sich vor dem Mädchen nieder auf seine Beine, und während er das Leinen verschnürte an Ingrids Füssen, waren seine Mienen die eines nachsichtigen aber ungeduldigen Vaters, der seiner jüngeren Tochter beim Anziehen hilft. Das Mädchen sah ihm zu mit schüchternen und ängstlichen Mundwinkeln, und als er die letzte Schleife verknotet hatte, sprach das Kind mit kindlichem Nicken und damenhaft obenhin: Danke. Wollen Sie mir, bitte, beim Aufstehn behilflich sein? [...] –

Ik hew all dacht du keemst nich: sagte das braune Gesicht vor ihm mit der herzstockenden Ingridschönheit; es ist unglaublich anzuhören wie sie das gesagt hat aus ihrer Kehle, diese Göre, dies Frauenzimmer, dessen Arme er um seine Schultern fühlte, dem er nun vorsichtig an den Augen entlangstrich mit seinem ungeschlachten Zeigefinger, dessen Kopf er in seiner Hand hielt, während der Wind seine Finger streichelte, mit diesen Haaren. (Babendererde, S. 40)

Ingrid Babendererde erweist sich als ein Schülerroman auch darin, daß das Buch wesentlich als ein Wunscherfüllungstext geschrieben wurde. Unverbrüchlich gehört Ingrid zu Klaus, wobei sich allerdings nicht Klaus, sondern Jürgen als die realbiographische Spielfigur des Autors erweist. Jürgen fungiert als der FDJ-Funktionär, der Johnson auch in Rostock am Anfang noch immer war.

Ein Tatbestand, der eine erhebliche Rolle spielte in beider Beziehung. Uwe Johnson zeigte dem »Waldgesicht« seine Werbung mit Blicken. Daneben wählte er die Form eher ungeschickter Tanzstunden-Höflichkeiten, wie das obligate In-den-Mantel-Helfen oder das Angebot gemeinsamer Arbeit fürs Studium. Nie aber konnten die beiden so intim zusammensein, wie Uwe Johnson sich das von Anfang an gewünscht haben muß. Was er in der Hinterhand-Skizze für die etwas spätere Leipziger Zeit aufgeschrieben hat, galt es bereits in Rostock? Der junge Intellektuelle mit dem Erfahrungshunger des Künstlers und mit seinen damals noch nicht wesentlich gebrochenen sozialistischen Aufbauhoffnungen stellte sich die Liebe nach dem bekannten bohemischen Künstler- und Studentenmuster vor. Das wiederum gestattete die »uneheliche Hochzeit« (so Johnson und Bierwisch in ihren Briefen aneinander) mit der Freundin nicht nur, es prämiierte sie geradezu. Hier mögen sich gar noch die Vorstellungen von den bolschewistischen Berufsrevolutionären des beginnenden 20. Jahrhunderts hineingemischt haben, denen die Ehe als eine politische Aufgabe und Sex als ein Schluck erfrischendes Wasser gegolten haben soll. Ein Vorstellungskomplex, der durchaus das Element von »Erziehung« der Frau durch den politisch bewußteren Mann enthält. Dagegen stand auf seiten des »Waldgesichts« eine ungebrochene »Bürgerlichkeit«. Diese Ingrid meinte, was sie sagte. Nicht zuletzt zelebriert die Ingrid der Babendererde beim Abschied von Klaus die genau entgegengesetzte Geste zu jener der Mrs. Hinterhand aus der Skizze. Beide Armbewegungen erscheinen an der bekannten Geste der Ottilie aus den Wahlverwandtschaften orientiert, die wiederum laut Walter Benjamin dem »sprachlosen Trieb« entspricht. Ingrid aber ist der verpflichtenden Sprache durchaus mächtig. Das »Waldgesicht« wußte, was es wollte. Hielt auch, was es sagte. Leider ging ihr Wille in eine ziemlich andere Richtung als der des Freundes Uwe Johnson.

Dessen Wissen imponierte dem »Waldgesicht«. Doch seine körperliche Nähe mochte sie eigentlich von Anfang an nicht. Der Student hat das lange nicht realisieren können. Nach Art von erotisch eher unsicheren Jünglingen schrieb der 19jährige auf einer Postkarte vom 12. Mai 1954 an den Schulfreund Heinz Lehmbäcker, der seine »feste Beziehung« bereits gefunden hatte:

Im Liegestuhl neben mir dehnt sich die Göre, arbeitet für Zwischenprüfung, schläfrig in Vormittagssonne, wird unaufhörlich braun, legt Buch weg, schläft einfach ein. Sonne scheint gewichtig; [...] Amselpaar macht Lärm, der ganzen Garten ausfüllt.

Das klingt verlockend-vielversprechend. Doch bereits am 6. Mai 1954 deutete sich die Zurückweisung an: »Auf dem Fensterbrett Kaktus, in Vase Blumen, dies geschenkt. – Kleines Mädchen hat Angst vor mir, sagt dazu Liebe, ganz verrückte.« Abneigung und Angst vor dem Unbekannten mögen sich die Waage gehalten haben. Noch im 1955 einsetzenden Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und Manfred Bierwisch spielt die junge Frau eine Rolle. Bierwisch fragte den Freund schon einmal, ob das »Waldgesicht« denn nun »frei« sei, freilich ohne eine Antwort darauf zu erhalten. In ruhiger Überzeugtheit vom eigenen Aussehen blickte das »Waldgesicht« in diesen Rostocker und Leipziger Tagen in die Linse der Photographierenden. Johnson dagegen grimassierte noch immer bei solcher Gelegenheit. Das schöne »Waldgesicht« geriet für ihn immer mehr zu einer zweiten Ingeborg Holm. Den Tonio Kröger hatte Uwe Johnson zum damaligen Zeitpunkt schon längst für sich entdeckt; bereits 1951 war ihm der zu einem Anstoß für die Babendererde-Novelle geworden.