Unser Moritz

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Vorfreude



Unserer Fahrt an die Ostsee geht noch ein wichtiges Ereignis voraus. Acht Monate lang haben wir um das Haus gekämpft, uns mit vollem Einsatz in die Arbeit gestürzt, die unschlüssige Haltung der Besitzerin geduldig hinnehmen müssen. Und acht Monate lang wussten wir nicht, ob am Ende nicht doch alles vergeblich war. Aber nun endlich sollte Schluss sein mit dem stets erneuten Infragestellen von Absprachen und verbindlichen Zusagen, mit dem belastenden Hin und Her, das so viel Verdruss und auch so manchen Konflikt zwischen uns und der Besitzerin heraufbeschworen hatte.



Diesmal hält Frau Petzold Wort, und drei Tage vor Antritt unseres Jahresurlaubes sitzen wir zusammen in einem kleinen Zimmer des staatlichen Notariats Hainichen. Herr Nestler verliest noch einmal den gesamten Text des Kaufvertrages, den er mühsam in die alte Schreibmaschine eingetippt hatte.



Dann unterschreiben wir alle drei das mehrfach ausgefertigte Dokument, und der Notar verabschiedet uns mit guten Wünschen. Erleichtert verlassen wir das betagte, ehrwürdige Gebäude. Lange waren wir nicht mehr in einer so guten Stimmung. Helga strahlt und hakt sich bei mir ein. „Endlich!“ Es ist, als hätte sich die Freude auf unseren Urlaub nun verdoppelt. „Wie gut, dass wir es noch geschafft haben!“, sagt Helga. „Wenn wir losfahren, liegt der ganze Ärger hinter uns!“ Ein für uns so wichtiges Problem war gelöst, und die Gewissheit, dass wir unser Ziel erreicht hatten, konnte uns in den Urlaub begleiten.



An einem der letzten Augusttage sind wir mit unserem Auto auf der Strecke. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Die Pappeln am Straßenrand stehen wie Bogenlampen, und das Lenkrad zerrt in den Händen. Ein Wartburg mit Wohnanhänger fährt an die Seite und unterbricht notgedrungen seine Fahrt. Schon bei der Abfahrt bemerkten wir die stürmische Wetterlage, aber nun hat das Unwetter beängstigende Formen angenommen. Dicke abgebrochene Äste liegen auf der Fahrbahn umher. Ich muss die Fahrgeschwindigkeit stark drosseln. Die wilden Kräfte gebärden sich umso bedrohlicher, je weiter wir nach Norden kommen. Unser Zeitplan ist nicht mehr zu halten. Und zu allem Übel wissen wir noch nicht einmal genau, wo unser Urlaubsort zu finden ist. Auf keiner Karte war dieses Beckerwitz auszumachen. Dem Antwortschreiben von Frau Meschke war lediglich zu entnehmen, dass dieser wenig bekannte, unbedeutende Ort in der Nähe von Wismar liegen muss. Ohne auch nur für einen Augenblick der Fahrbahn meine Aufmerksamkeit zu entziehen, bespreche ich mit Helga die weitere Strategie. „Also, auf alle Fälle erst einmal Richtung Wismar! Dann werden wir weitersehen …“



Nach neunstündiger Fahrt passieren wir endlich das Ortseingangsschild dieser kleinen Hafenstadt. Linker Hand kommt bald eine Tankstelle ins Blickfeld. Die Tankfüllung könnte noch reichen, aber wir wissen ja nicht genau, wo die Reise hingehen soll. Es wäre nicht gut, ein Risiko einzugehen, und schließlich können wir die Gelegenheit gleich nutzen und uns vom Tankwart den Weg nach unserem Urlaubsort erklären lassen.



Doch die Überraschung ist groß. „Beckerwitz?“ Der ältere Herr in blauer Uniform grübelt lange. „Kann ich Ihnen wirklich nicht sagen – noch nie gehört!“



Was nun? Ende August sind die Tage schon recht kurz. Der Sturm hat uns daran gehindert, zügig zu fahren, und nun haben wir die nächste Bescherung: Die Dämmerung bricht schon herein. Wir fahren aufs Geratewohl weiter. Die Scheibenwischer sind in Betrieb, denn es regnet nun ununterbrochen. Ab und zu halte ich an, und Helga kurbelt die Scheibe herunter. Niemand kann uns helfen, und immer wieder die gleiche Antwort! „Beckerwitz? Tut mir leid, kann ich Ihnen nicht sagen.“



„Vielleicht gibt es diesen Ort überhaupt nicht. Vielleicht gibt es kein Beckerwitz und keine Frau Meschke.“ Helga weiß nicht, was sie von meinem Galgenhumor halten soll. Stockfinster ist es mittlerweile geworden, und bei der Auswahl der Strecke könnten wir nun ebenso gut würfeln. Unsere Fahrt geht die Ostseeküste entlang in Richtung Westen. Die Wegweiser zeigen Klütz – Boltenhagen. Nur das gleichmäßige, leise Brummen des Motors und die typischen Rollgeräusche auf einer nassen Fahrbahn sind noch zu vernehmen. Es scheint, dass uns der Gesprächsstoff ausgegangen ist. Wir befinden uns in einer sehr unangenehmen Lage und wissen nicht recht, was werden soll. Auch Ermüdung macht sich bemerkbar. Das Einlegen einer Pause wird wohl das Beste sein, was wir im Moment tun können – ist es doch auch an der Zeit für eine kleine Mahlzeit.



Nur mit Mühe ist durch die nassen Scheiben noch etwas zu erkennen. Gespenstisch tauchen einzelne Gebäude mal links, mal rechts der Fahrbahn im Scheinwerferlicht auf, um dann wieder in Finsternis und Regendunst zu verschwinden.



Helga entdeckt das kleine Gasthaus zuerst. Ich trete etwas zu spät auf die Bremse und muss ein kleines Stück zurückfahren, um parken zu können. Der nur für wenige Fahrzeuge eingerichtete Parkplatz befindet sich gegenüber dem Gasthaus. Erst nach Wechseln der Straßenseite wird die Beschriftung an dem flachen Gebäude lesbar: „Restaurant Störtebeker “.



Wir betreten das kleine Gastzimmer und sind angenehm überrascht: Holzverkleidete Wände mit Fischernetzen behangen und Trophäen aus Störtebekers Zeiten, stilvolle Leuchten über sauberen Tischen und auf jeder Tischplatte eine Vase mit Blumen. Wir finden es hier sehr gemütlich und brauchen auch nicht lange an der Tür zu stehen. Eine freundliche junge Kellnerin weist uns einen Platz am vordersten Tisch zu. Wir überfliegen die Abendkarte – ein gutes Angebot und genau das Richtige für uns beide. Wir können zwischen mehreren warmen Speisen wählen.



Als die Kellnerin wieder an den Tisch kommt, versuchen wir aber erst einmal, unser Problem zu klären.



„Wir suchen den Ort Beckerwitz – können Sie uns da helfen?“ Die junge Frau scheint es zu ahnen, dass wir eine lange Fahrt hinter uns haben und unseren Urlaubsort suchen. „Ja, Sie fahren noch fünf Kilometer in Richtung Boltenhagen – dann rechts abbiegen. Keine zehn Minuten mit dem Auto“, antwortete sie auf sehr höfliche Art.



Sind wir froh über diese Auskunft! Nun können wir uns Zeit lassen. Die Anspannung der letzten Stunden weicht. Wir fühlen uns hier geborgen und genießen die angenehme Wärme und die behagliche Atmosphäre der kleinen Gaststube.



Am folgenden Morgen macht uns lautes Gänsegeschnatter munter. Ein Hahn kräht hin und wieder ganz aus der Nähe. Durch das Fenster sehe ich blauen Himmel und ein Stück Garten. Unsere Betten sind hintereinander aufgestellt. Anders wäre für sie in der kleinen Bodenkammer kein Platz. Bei Finsternis und strömendem Regen waren wir spät abends angekommen. Nun erst ist Gelegenheit, sich umzusehen und uns mit der Unterbringung vertraut zu machen. Ein teurer Urlaubsplatz oder eine Auslandsreise kamen für uns dieses Jahr nicht infrage. Nach dem Kauf unseres Hauses galt es erst einmal, sparsam mit dem verbliebenen Geld umzugehen. Das Privatquartier an der Ostsee war erschwinglich. Freilich, in unserem neuen Heim und dem großen Grundstück wartete ein Berg Arbeit auf uns. Aber war es nicht besser, nach den Belastungen der letzten Monate erst einmal Abstand zu gewinnen, andere Eindrücke aufzunehmen und aus großer Entfernung die Dinge, die wir in Bewegung gebracht hatten, noch einmal in Ruhe zu überdenken? So hatten wir uns doch für eine kleine Erholungspause entschlossen und aus einer Sammlung gut aufbewahrter Zeitungsannoncen ein passendes Angebot herausgesucht.



Wir müssen die steile Holztreppe hinuntersteigen, um dann durch die Küche unserer Wirtsleute in das Bad zu gelangen. Frau Meschke begrüßt uns freundlich: „Na, wie haben Sie geschlafen?“ „Danke, gut. Es ist ja herrlich ruhig hier!“ „Das Wetter scheint sich auch zu bessern – da können Sie sich ja heute schon was vornehmen“, meint Frau Meschke und erklärt uns gleich, auf welchem Weg man am besten zum Strand gelangt. „Zehn bis fünfzehn Minuten sind es zu Fuß, wenn sie in Richtung Wieschendorf gehen.“



„Übrigens können Sie hier in der Küche frühstücken, wenn Sie möchten.“ Frau Meschke zeigt uns, wo sie Teller und Bestecks aufbewahrt und wie die Kaffeemaschine zu bedienen ist. Eine volle Stunde lassen wir uns Zeit für die erste Mahlzeit hier in Meschkes Küche, für das anschließende Aufwaschen des Geschirrs und das Packen unserer Sachen für den Strand. Dann sind wir endlich abmarschbereit.



„Siehst du, wir bekommen wirklich schönes Wetter!“ Ich nehme Helga an die Hand, und Meschkes kleiner Hund trottet uns ein Stück hinterher. „Sie brauchen keine Angst zu haben, er tut Ihnen nichts!“, ruft Frau Meschke uns nach. Auch bei dem Nachbarn entdecken wir eine Hundehütte, und aus fast allen Grundstücken hört man es schnattern und gackern. Enten baden in kleinen Wassertümpeln, und eine Schar Gänse folgt uns aufgeregt am Gartenzaun entlang. Die Gänse strecken ihre Hälse und machen unsertwegen einen ordentlichen Krach. Für die Gegend typische eingeschossige Backsteinhäuser mit Walmdach und kleinen, blumengeschmückten Fenster prägen das Antlitz des kleinen Fischerdorfes. Liebevoll gepflegte Vorgärten schieben sich zwischen rotbraunen Backsteinmauern und dem schmalen unbefestigten Weg, auf dem wir gemächlich dahinschlendern. Es gefällt uns hier – weitab der großen Stadt, aus der wir gekommen sind, in sicherer Entfernung von dem hektischen Treiben, dem nie endenden Straßenlärm und belastenden Abgasen. Immer noch ist es ein bisschen windig, und eine Prise Seeluft weht uns um die Nase. Bis zum Ausgang des Ortes steigt der Weg leicht an. Auf der Anhöhe angekommen, helfe ich Helga in die weiße Strickjacke. Vor unseren Augen liegt eine Landschaft voller Schönheit und innerem Frieden. Eine lange gerade Linie erscheint am Horizont, zwei aufeinander stoßende Flächen scharf voneinander abgrenzend. Die Ostsee liegt ausgestreckt und still wie in einem tiefen Schlaf und spiegelt das Blau des Himmels.

 



Es ist unser dritter Urlaubstag und der letzte Tag im August. Wir haben die gleiche Stelle am Strand bezogen wie am Tag zuvor. Das Recht zum Ausbreiten unserer Badesachen auf diesem winzigen Stück des Sandstrandes haben wir durch Aufräumarbeiten erst erwerben müssen. Bis zu einem Meter hoch hat der Sturm den Seetang entlang des schmalen Küstenstreifens aufgetürmt. Völlig zertrümmerte Strandkörbe liegen umher, und die Badegäste sind abgezogen, vertrieben worden von der zerstörerischen Gewalt meterhoher Wellen. Nur ein paar wenige irren zwischen Seetang und Strandkorbtrümmern umher, um etwas Platz für ein Sonnenbad zu finden. Völlig ruhig ist die See wieder geworden, und die Sonne scheint seit Tagen ununterbrochen. So hinterlässt uns das gewaltige Unwetter auch einen Vorteil. Das Strandleben ist fast zum Erliegen gekommen, und wer sich nach Abgeschiedenheit und Ruhe sehnt, liegt an dem schmalen Küstenstreifen, versteckt hinter Bergen von Seetang, gerade richtig.



Ohne eine Spur von Zurückhaltung und Respekt vor den Menschen watscheln überall Schwäne umher und kommen in beängstigende Nähe. Sie benehmen sich wie Bettler und erwarten, mit Brotstücken und Keksen gefüttert zu werden. Ich beobachte mit Helga die großen schönen Vögel. Einige schwimmen weit draußen. Wir bemerken, dass es meist Pärchen sind, und mit etwas Geduld gelingt es uns, auch die Partner der allein schwimmenden Schwäne herauszufinden. Manche Pärchen schwimmen getrennt, entfernen sich weit voneinander, und es dauert seine Zeit, bis sie wieder zusammenfinden.



Endlich kommen wir einmal dazu, ein Buch zu lesen und mit großer Gründlichkeit Zeitschriften zu studieren. Dann wandern die Gedanken zu unserem neuen Heim. Wie wird es sein, wenn wir da wohnen und alles nach unseren Wünschen gestalten können? Und womit wollen wir eigentlich nach unserer Rückkehr aus dem Urlaub beginnen? Was ist das Allerwichtigste?



„Weißt du, was für Arbeit auf uns wartet? Und wir liegen hier faul herum!“, sagt Helga. Die Arbeit wird uns schon nicht davonlaufen, aber wir machen unsere Pläne und freuen uns auf das neue Zuhause, das einige Hundert Kilometer von hier entfernt liegt.



Die Sonne steht nur noch flach über dem Wasser, und es wird langsam kühl. Niemand sehnt sich danach, noch einmal in das Wasser zu springen. Helga hat sich mittlerweile angezogen und wartet schon etwas ungeduldig auf mich. „Komm, mein Bummelfritze!“ Sie drückt mir ein paar Sachen in die Hand, die ich auf dem Rückweg zu tragen habe. „Wir wollen doch heute noch ein bisschen feiern!“



Es ist mir ganz recht, dass mein Geburtstag in die Urlaubszeit fällt, Helga war heute früh die einzige Gratulantin. Nicht mal Frau Meschke weiß von dem Geburtstag ihres Gastes. Mit leicht ermüdeten Beinen erreichen wir das hübsche Wohnhaus unserer Wirtsleute. Eine graue Katze läuft mit gemächlichem Schritt ein Stück vor uns her und verschwindet dann zwischen Zaunlatten in den Garten des Nachbarn.



Am späten Abend steht eine Flasche Apfelkorn auf dem Tisch. Auch in einer kleinen Stube mit ganz bescheidener Ausstattung kann es gemütlich sein. Das Zimmer ist sauber und ordentlich, und wir haben alles, was man für einen Aufenthalt im Urlaub benötigt. Ich kurbel an dem Drehknopf unseres Radiorecorders, bis die richtige Musik ertönt, nehme das mitgebrachte Miniroulette aus dem Plastikbeutel und stelle es auf den Tisch. Helga öffnet eine Tafel Pfefferminzschokolade und zerbricht sie in Stücke. Wir beginnen mit unserer abendlichen Beschäftigung. Der hölzerne Kreisel wirbelt die Stahlkugeln über den schalenförmigen Boden. Nach drei Versuchen wird zusammengerechnet. Der Preis für den Gewinner ist jeweils ein Stück Schokolade. Helga steckt mir die gewonnenen Schokoladestückchen gleich in den Mund und freut sich. Doch dann wendet sich das Blatt, und Helga hat ihre Gewinnsträhne. Ich schiebe ihr die Schokoladestückchen zu. „Na, iss!“ Helga kommt in Verlegenheit. Statt zu essen beginnt sie, die Stücke auf ihrer Tischseite zu stapeln. „Ich weiß schon“, kommentiere ich ihr Verhalten. „Die Figur!“



Helgas alter Reisewecker steht wieder mal, aber unserem Gefühl nach ist es schon nach 24 Uhr. Halb so schlimm, wenn man Urlaub hat und am nächsten Tag ausschlafen kann. Das zweite Bett bleibt heute erst einmal unbenutzt, und wir plaudern noch ein bisschen über den Tag und über unsere Vorhaben nach dem Urlaub. „Wie fühlst du dich denn so – als Hausbesitzer?“, fragt Helga. Ich weiß nicht, wie ich mich fühle. Es ist mir irgendwie noch nicht klar geworden, dass es so ist und was es bedeutet.



„Und weißt du, was wir beide mitnehmen, wenn wir das nächste Mal in Erlabrunn sind?“ Ich muss einen Moment überlegen, bis ich darauf komme, was Helga meint.



„Ja, ich weiß – unseren kleinen Kater …“



Viele Wege führen von unserem Beckerwitz an den Strand der Ostsee. Wir versuchen, die reizvolle Umgebung unseres Urlaubsortes aus allen Blickwinkeln kennenzulernen. Heute haben wir uns für den schmalen Sandweg entschieden, der, eingesäumt von verkrüppelten alten Weiden, durch die leicht hügelige Landschaft führt. Ausgedehnte Grasweiden und die gelben Flächen gerodeter Getreidefelder prägen das Bild zu beiden Seiten unseres Weges. Schwarzweiß gescheckte Kühe heben die Köpfe und begrüßen uns mit lautem Gebrüll. Nur vereinzelte Baumgruppen finden sich in dem ausgedehnten Weideland, und ein paar einsame Bauerngehöfte verstecken sich hinter den mächtigen Kronen betagter Laubbäume. Die alten, schilfbedeckten Gebäude ducken sich Tarnung suchend auf den Boden, fügen sich in die Landschaft, als wären sie ihr entwachsen.



Die Sonne steht Anfang September nicht mehr allzu hoch, doch die Sicht ist klar, und das malerische Vorland der Ostsee leuchtet in satten Farben.



„Richtiges Fotowetter!“, sage ich zu Helga begeistert. Wir verlassen den Sandweg und laufen quer über ein Stoppelfeld der blauen See entgegen. Die harten Stoppeln dringen zwischen den Riemchen in Helgas Sandaletten ein und erschweren ihr das Laufen. Sie hält sich bei mir fest und erzählt weiter von ihrem Mephisto.



Mephisto hieß ihr schwarzer Kater in Spremberg, ihrem alten Heimatort. Immer wieder kommt Helga auf das anhängliche Tier zu sprechen.



„Er war sehr scheu und hörte auf niemanden. Nur auf meine Stimme reagierte er. Manchmal sah ich ihn weit draußen im Feld – nur als kleinen unscheinbaren Punkt. Aber hörte er mich rufen, machte er sich gleich auf den Weg, und es dauerte nur wenige Minuten, bis er sich daheim einfand. Mephisto wusste auch genau, zu welcher Zeit ich vom Dienst kam. Er lief mir ein großes Stück entgegen und wartete dann immer an derselben Stelle. Nach freundlicher Begrüßung stieg ich wieder auf das Rad, und Mephisto trottete wie ein kleiner anhänglicher Hund die ganze Strecke bis nach Hause neben dem Fahrrad her.“



Die Katze gehört zu den ältesten Haustieren des Menschen. Wir versuchen uns an all das zu erinnern, was wir darüber schon gehört und gelesen haben. Im alten Ägypten galten Katzen als heilige Tiere und genossen die Hochachtung der Menschen. Keiner hätte es gewagt, solch ein Tier zu quälen oder zu töten. Die Kulthandlungen einer bestimmten Priesterschaft standen sogar in engem Zusammenhang mit der Wertschätzung dieser Tiere.



Wir empfinden unsere Übereinstimmung als glücklichen Umstand. Beide zählen wir zu jenen Menschen, die Katzen bewundern und Zuneigung für diese gewandten, kuscheligen Wesen empfinden.



Meine erste Bekanntschaft mit allerlei Tieren führt in die Kindheit zurück. Gern erzähle ich Helga von den Erlebnissen bei Tante Klara. Der Krieg hatte es mit sich gebracht, dass wir Chemnitz verlassen und einige Zeit bei Tante Klara in dem erzgebirgischen Dorf Sosa leben mussten. Hier waren wir vor den Bombenangriffen geschützt, und die kleine bäuerliche Wirtschaft sicherte uns das Notwendigste zum Leben. Ein mittelgroßer Raum war der Aufenthaltsort von vier Generationen – war Wohnraum und Küche in einem. Und hinter dem großen, gusseisernen Ofen wurde gebadet. Nicht selten rannten auch noch frisch geschlüpfte Küken in dem Zimmer umher, kleine Ziegen wurden aus dem Stall geholt, und selbstverständlich hatte auch eine Katze hier ihr Zuhause. Tante Klara veranstaltete mir zuliebe kleine Zirkusveranstaltungen und führte Kunststücke vor, die sie mit den Tieren eingeübt hatte. Sie war eine sehr tierliebende Frau. Und als die Katze eines Tages humpelnd durch das Fenster in die Wohnstube zurückkehrte, wurde sie behandelt und gepflegt, bis das verletzte Bein wieder in Ordnung war.



Kurz vor meiner Einschulung erhielten die Eltern endlich eine eigene, zumutbare Wohnung. Es bedeutete Umzug nach einem ganz kleinen Ort – wenige Kilometer von Sosa entfernt. Das fast 800 Meter hoch liegende Dorf war bei starkem Schneefall oft von der Umgebung abgeschnitten. Hier lebten vorrangig Bauern mit ihren Familien. Pferde und Kühe, Schafe, Hunde, Gänse und Hühner gehörten zum Alltag des Lebens in dem kleinen Ort.



Zur Anschaffung eines eigenen Hundes oder einer Katze aber waren meine Eltern nicht zu bewegen. Doch bald sammelten sich in unserem Garten herrenlose kleine Kätzchen. Ich versorgte sie regelmäßig mit Milch. Die Aufwendungen zur Versorgung der Kätzchen wurden ständig größer. Ich errichtete schließlich aus Bretterresten ein richtiges Katzenhaus, das ich mit Heu auslegte und über Batterieanschluss sogar mit elektrischem Licht versorgte. Die Kätzchen fühlten sich sehr wohl bei mir. Ich spielte mit ihnen und beobachtete ihr lustiges Treiben. Aber es wurden immer mehr. Ich bekam Ärger mit den Eltern und musste mich schließlich verpflichten, die ganze Einrichtung wieder abzubauen. Meine Sympathie für diese verspielten und freiheitsliebenden Tiere blieb bestehen. Ich bewunderte immer wieder ihre unwahrscheinliche Körperbeherrschung und Gewandtheit, mochte ihr schönes kuscheliges Fell, ihre anschmiegsame, zutrauliche Art und die munteren grünen Augen.



Jahrzehnte vergingen. Wohnheime, Untermiet- und Neubauwohnungen ließen die Erfüllung eines solchen Wunsches nicht zu. Doch nun hat sich die Situation in geradezu unerwarteter Weise geändert. Mit einem Eigenheim und einer tierliebenden Partnerin an meiner Seite sind jetzt alle Voraussetzungen gegeben. Das mit dem Haus erworbene Grundstück mit einer Fläche von fast zweitausend Quadratmetern ist das ideale Zuhause für solch einen kleinen Freund. Die nahezu quadratisch verlaufende Grundstücksgrenze schließt eine große Wiese, ausgewachsene Laub- und Nadelbäume, dichtes Buschwerk und viele Zierpflanzen ein.



An keiner Stelle hat das Gelände Berührung mit einer verkehrsreichen Straße. Es liegt inmitten einer Gartenkolonie. Ein schmaler Weg, der von einem LKW nur mit Mühe passierbar ist, verbindet die Ortsstraße mit dem kleinen Eigenheim.



„Hast du schon mal überlegt, wo wir unseren Kleinen unterbringen wollen?“, fragt Helga. „Mephisto hat sein Quartier im Keller neben der Zentralheizung. Die Tür am Hintereingang ist mit einer kleinen Öffnung versehen, durch die er jederzeit raus und rein kann.“ Aber unser Haus in Frankenberg hat keinen Hintereingang und auch sonst keinen geeigneten Zugang für eine Katze.



„Was ist, wenn wir mal nicht zu Hause sind? In unsere Haustür vorn können wir ja nun wirklich kein Loch hineinsägen!“



Wir finden schnell eine andere Lösung: An die Doppelgarage in unserem Grundstück hatte Frau Petzold noch eine Unterbringung für ihren Schäferhund anbauen lassen. Wir benutzen den kleinen Raum vorläufig zum Abstellen der Gartengeräte. Da könnten wir unserem Moritz eine Schlafstelle einrichten. „Natürlich darf er auch mal zu uns in die Wohnung kommen!“, beruhigt mich Helga. „Aber in dem kleinen Anbau ist dann sozusagen sein Hauptquartier.“



Wir sind am Ende des ausgedehnten Stoppelfeldes angekommen. Die Sicht zum Meer ist uns versperrt. Ein Trampelpfad führt auf die Anhöhe hinauf und dann zwischen immer dichter werdenden Sanddornsträuchern und Kartoffelrosen hindurch. An den engsten Stellen streifen die stachligen Sträucher unsere Kleidung. „Weißt du, dass wir solche Sträucher im Grundstück haben?“, fragt Helga. Ich kann mich nicht erinnern. „Doch, die Bepflanzung auf der kleinen Böschung am Swimmingpool besteht zum Teil aus Sanddornsträuchern und Kartoffelrosen. Du hast es bestimmt übersehen, weil alles mit Gras und Brennnesseln zugewachsen ist.“ „Kann schon sein!“ Ich erinnere mich nur an den alles überragenden Rhododendron, wenige Schritte vor den Stufen, über die man die Plattform am linken Rand des Schwimmbeckens erreicht.



Der für diese Küstenregion so typische Pflanzenwuchs lichtet sich ein wenig. Wir vernehmen leise das Anschlagen der Wellen. Eine glatte blaue Fläche erscheint zwischen den Sträuchern. Ich habe etwas entdeckt, und mein erhobener Arm zeigt Helga die Richtung. Zwei große Frachtschiffe – zwischen den stacheligen Ästen von Kartoffelrosen. Wir befinden uns auf dem Kamm der Steilküste. Der schmale Pfad schlängelt sich, allmählich wieder an Höhe verlierend, unserer Badestelle zu.

 



Kühleres Wetter ist angesagt. Wir sitzen in unserer Bodenkammer und beraten die Ausflugsziele für den nächsten Tag. Dabei hilft uns eine Karte der westlichen Ostsee, die gar nicht so leicht zu beschaffen war.



Der alte Lada kommt nun wieder zum Einsatz, und das Fahren auf den glatten, unbelebten Straßen macht wenig Mühe. Uns interessieren die bekannten Badeorte an der Wismarer Bucht. Wir kommen nahe an die Grenze zur Bundesrepublik. Wachtürme tauchen auf und zwingen uns zur Umkehr.



An einem anderen Tag besichtigen wir die Altstadt und den Hafen von Wismar. Wir finden Platz in einem Café, betrachten durch kunstvoll gerahmte Fenster den Marktplatz der kleinen Hafenstadt und die historischen Gebäude.



Wismar ist nicht weit und lockt uns immer wieder. Wir schleichen uns in die große Backsteinkirche inmitten der Altstadt und lauschen ohne Eintrittskarten einem Orgelkonzert. Ein anderes Mal erkundigen wir uns im Hafen nach den Abfahrtszeiten und erleben noch am selben Tag eine Schiffsfahrt zur Insel Poel – bei herrlich klarer Sicht und strahlendem Sonnenschein.



Nicht immer sind die Ziele unserer Ausfahrten genau geplant. Das Doberaner Münster wird unsere Entdeckung. Wir sind beeindruckt von der erhabenen Schönheit und der farbenprächtigen Ausgestaltung dieses bedeutenden Bauwerkes, und am Nachmittag ist noch Zeit, den Badeorten Heiligendamm und Kühlungsborn einen kurzen Besuch abzustatten.



Schließlich überlässt uns Herr Meschke seine Fahrräder. Zweimal sind wir auf der Suche nach neuen Badestellen mit den Rädern unterwegs. Es geht über Feldwege und durch die Kiefernwälder der näheren Umgebung unseres Urlaubsortes. An einem vom Sturm weniger verwüstetes Stück Strand in der Nähe von Zirow breiten wir unsere Sachen aus. Bis zum späten Nachmittag liegen wir hier ungestört in dem sauberen hellen Sand, genießen die wärmenden Strahlen der Sonne und müssen uns auf dem unerwartet langen Heimweg schließlich eingestehen, dass wir uns total verfahren haben.



Es ist ein Urlaub ohne Sensationen und große Ereignisse, über die zu berichten wäre. Das Dienstleistungsangebot ist zu Saisonausgang bescheiden, aber wir sind mit dem zufrieden, was noch möglich ist. Wir haben in keinem Restaurant um einen Platz zu kämpfen, bleiben verschont von Ärger und belastenden Problemen. Es sind für uns beide erholsame Tage voller Harmonie. Und die meisten dieser Tage verbringen wir an dem Stück Ostseestrand, das wir zu Fuß erreichen können – auf dem schmalen Sandstreifen bei den Schwänen, die über den angespülten Seetang watscheln und uns Gesellschaft leisten.



Ein Hauch Wehmut liegt über den alten schilfbedeckten Häusern. Es herrscht absolute Windstille, und behagliche Wärme spüren wir an dem Abend vor unserer Abreise. Will uns die Ostsee zum Bleiben verleiten? Wir tragen die Jacken auf dem Arm, schlendern noch einmal durch unser Beckerwitz, vorbei an den hübschen kleinen Vorgärten und den eingezäunten Grundstücken.



Am Haus unserer Wirtsleute bleiben wir stehen und schauen in das gegenüberliegende Gelände. Schafe und Ziegen weiden auf dem vorderen Teil der Wiese. Hinter einer Abzäunung aus Maschendraht schließt sich ein zweiter Abschnitt des Grundstückes an. Und da entdecken wir auch die Katzenjungen wieder, die zwischen aufgeregt gackernden Hühnern herumtollen. Vor ein paar Tagen haben wir die Kleinen bemerkt und dann regelmäßig nach ihnen Ausschau gehalten. Konnten wir sicher sein, dass unser kleiner Kater überhaupt noch da ist, wenn wir nach so vielen Wochen wieder nach Erlabrunn kommen? Und niedlich waren die Kleinen hier auch.



Eine ältere Frau in blauer Wickelschürze taucht in dem aufgewühlten Hühnergelände auf und bemerkt unser Interesse. „Wir beobachten Ihre Kätzchen!“, ruft Helga über den Zaun. „Wir wollen uns nämlich auch eine Katze anschaffen! „



„Ja, gefällt Ihnen eine?“ Das Gesicht der Frau erhellt sich. „Nehmen Sie doch eine mit!“, ruft sie freundlich zurück. Helga sieht mich an. Dann sagt sie laut: „Danke, wir bekommen schon was zu Hause!“



Ich nehme Helga an die Hand, und wir wenden uns dem Eingangstor unserer Wirtsleute zu. Meschkes Hund trottet uns neugierig ein Stück entgegen. Wir haben keine Eile – es ist

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