Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

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Bald schon konnte ich einige Skizzen vorweisen. Niemand begriff auch nur ein bisschen davon. Selbst diejenigen, die meiner Sicht der Wahrheiten, die ich später in den Tempel meißeln wollte, wohlwollend gegenüberstanden, gratulierten mir dazu, sie mit dem »Mikroskop« entdeckt zu haben, während ich mich im Gegenteil eines Teleskops bedient hatte, um die Dinge wahrzunehmen, die zwar tatsächlich sehr klein waren, aber nur, weil sie sich in großer Entfernung befanden und jedes für sich eine eigene Welt darstellten. Dort, wo ich nach den großen Gesetzen suchte, nannte man mich einen Kleinigkeitenkrämer. (WZ, S. 492.)

Zu dem anderen Vorwurf Ghéons und anderer Kritiker, dem der Planlosigkeit, schreibt Proust am 6. Februar 1914 an den Schriftsteller und Mitarbeiter der Nouvelle Revue Française Jacques Rivière, der Proust vorbehaltlos bewunderte: »Endlich finde ich einen Leser, der errät [divine], dass mein Buch [WS] ein dogmatisches Werk und eine Konstruktion ist!« (Corr. XIII, S. 98.) In diesem Zusammenhang kann man allerdings den anderen Kritikern keine allzu großen Vorwürfe machen, denn der erste Band allein oder auch im Zusammenhang mit den spärlichen Ankündigungen zu den in Aussicht gestellten beiden Folgebänden lässt den Plan des Architekten kaum erahnen:

Erst am Ende des [ganzen] Buches, wenn die Lehren des Lebens verstanden worden sind, wird sich mein Denken enthüllen. Was ich zu Ende des ersten Bandes ausdrücke, in diesem Nebengedanken über den Bois de Boulogne, den ich dort wie einen Wandschirm hingestellt habe, um einen Band zu beenden und abzuschließen, der aus materiellen Gründen nicht über 500 Seiten hinausgehen durfte, ist das Gegenteil meiner endgültigen Schlussfolgerung. Es ist eine allem Anschein nach subjektive und oberflächliche Zwischenstation auf dem Weg zur objektivsten und gläubigsten aller Schlussfolgerungen. […] In diesem ersten Band haben Sie gesehen, welches Vergnügen mir die Empfindung der in Tee getunkten Madeleine bereitet, ich sage, dass ich aufhöre, mich sterblich zu fühlen usw. und dass ich nicht verstehe, warum. Das werde ich erst am Ende des dritten [nach damaliger Planung letzten] Bandes erklären. Alles ist in dieser Weise konstruiert. Wenn Swann Odette so arglos Charlus anvertraut […], dann deshalb, weil Charlus weit davon entfernt ist, Odettes Liebhaber zu sein, und vielmehr ein Homosexueller ist, der Frauen verabscheut, was Swann weiß. Ebenso werden Sie im dritten Band die tieferen Hintergründe für die Szene zwischen den beiden Mädchen [Mademoiselle Vinteuil und ihre Freundin] erkennen, für die fixen Ideen meiner Tante Léonie usw. (Corr. XIII, S. 99.)

Proust dagegen hatte bei Erscheinen des ersten Bandes den Grundriss des Ganzen bereits im Kopf: »Dieses Werk […] ist so peinlich genau ›komponiert‹ (ich könnte Ihnen dafür zahlreiche Beweise liefern), dass das letzte Kapitel des letzten Bandes unmittebar im Anschluss an das erste Kapitel des ersten Bandes geschrieben wurde« (Brief an Paul Souday vom 17. Dez. 1919; Corr. XVIII, S. 536).

Auch bei diesem »alles« in »alles ist in dieser Weise konstruiert« in dem oben eingerückten Zitat aus dem Brief an Rivière ist eine Prise Salz angebracht. Denn wenn Proust auch Herr des Ganzen ist, so ist er doch auch Paladin des Textes:

Ich denke, […] dass Sie enttäuscht gewesen sind, ihn [Swann] weniger sympathisch und sogar lächerlich werden zu sehen. Ich versichere Ihnen, dass es mir großen Schmerz bereitet hat, ihn derart zu verwandeln. Aber es steht mir nicht frei, gegen die Wahrheit zu verstoßen und die Gesetze der Charaktere zu verletzen. Amicus Swann, sed magis amica Veritas [Swann ist mir teuer, doch die Wahrheit ist mir teurer; nach Platon]. Die nettesten Menschen machen manchmal abscheuliche Perioden durch. Ich verspreche Ihnen, im nächsten Band wird Swann als Dreyfus-Anhänger wieder sympathisch werden. Unglücklicherweise stirbt er im vierten Band, und das bereitet mir großen Kummer. Und die Hauptperson des Buches ist nicht er. Ich hätte es gern gesehen, wenn er es wäre. Aber die Kunst ist ein ständiges Opfer des Gefühls an die Wahrheit. (Brief an Violet Schiff vom 2. Juli 1919; Corr. XVIII, S. 295 f.)

Oder doch zumindest Juniorpartner: »[…] während ich mein Buch schrieb, hatte ich das Gefühl, dass ich, wenn Swann mich gekannt hätte und es ihm möglich gewesen wäre, Gebrauch von mir zu machen, Odette sich in ihn hätte verlieben lassen können.« (Brief an André Gide vom 22. März 1914; Corr. XIII, S. 119.)


Titelblatt des ersten Teilbandes (von zwei) der ersten deutschen

Übersetzung von Bd. 1 durch Rudolf Schottlaender.

Übersetzungen

»Ein Französisch, in dem alle Wörter leicht und alle Sätze schwierig sind.« (The Spectator, 11. November 1922, anlässlich des Erscheinens von Scott-Moncrieffs Übersetzung von WS.)

Ins Deutsche

Der ›Entdecker‹ Prousts für Deutschland war sicherlich Rainer Maria Rilke, der bereits in einem Brief vom 21. Januar 1914 der Prinzessin Marie-Auguste von Thurn und Taxis die Lektüre empfahl31 und in einem Brief vom 3. Februar 191432 den Verleger Anton Kippenberg aufforderte, unverzüglich die Übersetzungsrechte für den Insel-Verlag zu sichern. Die erste öffentliche Stellungnahme zu Proust in Deutschland war aber wohl eine Studie des eminenten Romanisten Ernst Robert Curtius (1886–1956), die im Februar 1922 in der Zeitschrift Der Neue Merkur S. 745–761 erschien und von der Proust begeistert war (s. Prousts Brief an Curtius, Corr. XXI, S. 81, und dessen Antwort S. 128 f.). Fast zeitgleich (1923, aber Vorwort von Oktober 1922) erschien Victor Klemperers Die moderne französische Prosa, ein Studientext, in dem er Proust mit einem Ausschnitt aus Swann vorstellt (der letzte Abschnitt von Combray I) und die Passage vom »ungeheuren Bauwerk der Erinnerung« (WS, S. 70) mit den Worten kommentiert: »Man könnte die Formel aufstellen: Baudelaire + Bergson, doch ohne Bergsons Religiosität« (S. 301). Prousts literarische Bedeutung hat er offenbar nicht erkannt, obwohl er ihm die »Schluss- und Gipfelstellung« gibt: »Man wird in Marcel Prousts reichem und lockerem Skizzenbuch der modernen Seele kaum die große moderne französische Dichtung schlechthin sehen dürfen. Zu viel kühles und beklemmendes Spiel, zu viel bloßes Anschauen der Welt ohne den Versuch, einen Höhenweg in ihr zu finden, zu viel Religionslosigkeit der Haltung befremden mehr als der Verzicht auf Komposition eines Ganzen, als die Neuheit des Technischen. Aber ein Zeugnis für die Möglichkeiten der Verschmelzung von Romantik und Klassik ist das vielbändige und vielfältige Werk und weiter ein Zeugnis für den unversieglichen Reichtum und das ständig strömende Werden der französischen Dichtung« (S. 71 f.).

Einem breiteren deutschen Publikum wurde À la recherche du temps perdu eigentlich erst 1925 durch Curtius’ umfangreichen Essay Marcel Proust bekannt gemacht, der die ersten fünf Bände zum Gegenstand hat und als Teil seiner Monographie Französischer Geist im neuen Europa erschien (Einzeldruck 1955 bei Suhrkamp). Die Verzögerung lag freilich ebenfalls an Curtius, der es verstand, sein Territorium zu verteidigen und Proust dazu zu bewegen, allen Übersetzungsversuchen, so 1922 für die Tägliche Rundschau – »›Taëjlishes Roundschau‹ (excusez l’allemand de Céleste)« –, eine Absage zu erteilen, weil sie nicht Curtius’ Beifall fanden (s. Briefwechsel Proust–Gallimard, S. 517, 519, 525). Auf Anfrage des Berliner Verlages Die Schmiede, ob denn nicht Curtius selbst eine Gesamtübersetzung erstellen wolle, lehnte dieser jedoch ab. Nach diesem »Korb« betraute der Verlag den Philologen Rudolf Schottlaender (1900–88) mit der Übersetzung und publizierte 1926 den ersten Band des Gesamtprojekts Auf den Spuren der verlorenen Zeit unter dem Titel Der Weg zu Swann in zwei Teilbänden.33 Diese Ausgabe wurde – man ist versucht zu sagen: erwartungsgemäß – von Curtius so unmäßig verrissen, dass auf Druck von Gallimard der deutsche Verlag die Fortführung des Vorhabens an Walter Benjamin (1882–1940) und Franz Hessel (1880–1941) übertrug. Deren Band II, Im Schatten der jungen Mädchen, erschien 1927. Nachdem der Berliner Verlag 1929 den Betrieb einstellen musste, übernahm der Piper-Verlag München das Proust-Projekt; hier erschien 1930 in der Benjamin/Hessel-Übersetzung (in zwei Teilbänden) der dritte Band, Die Herzogin von Guermantes. Der heraufziehende Faschismus setzte dem Versuch, einen ausländischen und zudem halbjüdischen Autor in Deutschland zu publizieren, ein Ende; das Manuskript zur Übersetzung von Sodome et Gomorrhe, das Notizen Benjamins zufolge bereits 1926 fertig gewesen sein soll, ist verschollen.

1953 verkaufte der Verleger Peter Suhrkamp sein Haus in Kampen auf Sylt an das Verlegerehepaar Axel und Rosemarie Springer, um liquide genug zu sein, die Rechte an der deutschen Übersetzung vom Piper-Verlag erwerben zu können. Hier war wohl auch der Suhrkamp-Autor Hermann Hesse ein moralischer Motor, der schon seit 1925 gedrängt hatte, die »Gespinste dieses zarten Dichters«34 endlich vollständig ins Deutsche zu übertragen. Noch im gleichen Jahr stellte Suhrkamp die Literaturwissenschaftlerin Eva Rechel-Mertens (1895–1981), die bei Ernst Robert Curtius promoviert hatte, in seinem Verlag ein mit dem ausschließlichen Auftrag, eine Neu- bzw. Erstübersetzung von À la recherche du temps perdu zu erstellen; diese wurde 1957 abgeschlossen. Die Hilfsmittel, die ihr als Angestellte in einem Verlag zur Verfügung standen, erklären das erstaunliche Tempo, mit dem sie sich ihrer Aufgabe entledigte. Doch noch während Rechel-Mertens mit dem ersten Band beschäftigt war, erschien in Frankreich in Gallimards Reihe Bibliothèque de la Pléiade die von Clarac/Ferré überarbeitete, textkritisch kommentierte Neuausgabe der Recherche, die Rechel-Mertens dann ihrer Übersetzung zugrunde legte, notgedrungen erst nach dem ersten Band; dass der erste Band noch auf der EA beruht, ist jedoch nicht weiter problematisch, da bei diesem Band die Unterschiede zwischen dem Text der EA und der Clarac/Ferré-Fassung ohnehin marginal sind. Die erneute umfassende Revision des französischen Textes durch Tadié in den 1980er Jahren, die sich vor allem durch Neufassungen in den Texten der postumen Bände auszeichnete, machte allerdings auch eine Überarbeitung der deutschen Übersetzung erforderlich. Diese Aufgabe übernahmen Luzius Keller und Sybilla Laemmel 1994–2004 im Rahmen einer Gesamtausgabe der Werke Prousts bei Suhrkamp, die zudem mit Editionsberichten, Anmerkungsapparat, Namenverzeichnis und Bibliographie ausgestattet wurde.

 

2002 legte der Autor Michael Kleeberg mit Combray eine Übersetzung der ersten Hälfte des ersten Bandes vor, der 2004 die zweite Hälfte unter dem Titel Eine Liebe Swanns folgte.

Zu den Übersetzungen der Vorveröffentlichungen von Auszügen aus der Suche durch Hanno Helbling siehe oben, »Vorveröffentlichungen«.

Zur Reclam-Übersetzung

Die in den Bänden I bis VII der Reclam-Ausgabe vorgelegte Übersetzung hat sich zum Ziel gesetzt, die Sprache Prousts so, wie der Übersetzer sie im französischen Text gehört hat, auch im Deutschen zum Ausdruck zu bringen. Die Verwirklichung dieses Vorhabens ist natürlich nur auf einer sehr abstrakten Ebene möglich, denn dass das Französische anders klingt als das Deutsche, ist bekannt. Und so zeigen sich die ersten Fallstricke auch schon auf phonetischer Ebene, etwa bei den Händlerrufen in G, wenn der Ruf des Glasers »le vitri–, le vitri–er« mit seinen spitzen »i« unverzüglich Glasscherben assoziieren lässt – eine Assoziation, die im Schriftbild noch durch die Gestalt der »i« mit den Splittern ihrer Punkte unterstützt wird –, während das deutsche »Gla–, der Gla–ser« eher Gemütlichkeit transportiert. Ein ähnliches Problem stellt sich in großräumigerer Ausprägung bei der Aufführung von Vinteuils Sonate für Piano und Violine in WS, in deren Beschreibung Proust einen Absatz mit überdurchschnittlich vielen »p« und »f« ausstattet, offenkundig, um die Anschläge des Pianos und die Striche der Violine zu Gehör zu bringen – wobei dem Frikativ »ph« in »phrase«/»Phrase« offenbar eine Gelenkfunktion zwischen den Instrumenten zukommt, wie ja auch das Wort »phrase«/»Phrase« selbst als Gelenk zwischen dem Sprachlichen und dem Musikalischen fungiert:

Elle reparut, mais cette fois pour se suspendre dans l’air et se jouer un instant seulement, comme immobile, et pour expirer après. Aussi Swann ne perdait-il rien du temps si court où elle se prorogeait. Elle était encore là comme une bulle irisée qui se soutient. Tel un arc-en-ciel, dont l’éclat faiblit, s’abaisse, puis se relève et avant de s’éteindre, s’exalte un moment comme il n’avait pas encore fait: aux deux couleurs qu’elle avait jusque-là laissé paraître, elle ajouta d’autres cordes diaprées, toutes celles du prisme, et les fit chanter.

Swann n’osait pas bouger et aurait voulu faire tenir tranquilles aussi les autres personnes, comme si le moindre mouvement avait pu compromettre le prestige surnaturel, délicieux et fragile qui était si près de s’évanouir. Personne, à dire vrai, ne songeait à parler. La parole ineffable d’un seul absent, peut-être d’n mort (Swann ne savait pas si Vinteuil vivait encore) s’exhalant au-dessus des rites de ces officiants, suffisait à tenir en échec l’attention de trois cents personnes, et faisait de cette estrade où une âme était ainsi évoquée un des plus nobles autels où pût s’accomplir une cérémonie surnaturelle. De sorte que quand la phrase se fut enfin défaite flottant en lambeaux dans les motifs suivants qui déjà avaient pris sa place, si Swann au premier instant fut irrité de voir la comtesse de Monteriender, célèbre par ses naïvetés, se pencher vers lui pour lui confier ses impressions avant même que la sonate fût finie, il ne put s’empêcher de sourire, et peut-être de trouver aussi un sens profond qu’elle n’y voyait pas, dans les mots dont elle se servit.

Ein solches onomatopoetisches Spiel ließe sich in der Übersetzung nur auf Kosten der Semantik reproduzieren. In solchen Fällen heißt es abzuwägen, wie weit man dabei gehen sollte. In diesem Fall schien mir eher Zurückhaltung geboten, da auch die wenigsten französischen Leser diesen Kunstgriff überhaupt bemerken:35

Sie kehrte wieder, doch dieses Mal nur, um fast reglos in der Luft zu schweben, einen Augenblick ihr Spiel zu treiben und dann zu ersterben. Deshalb versäumte Swann nichts von dieser so kurzen Zeit, die sie verweilte. Sie war noch immer da, wie eine irisierende Seifenblase, die nicht vergeht. Wie ein Regenbogen, dessen Pracht verblasst, versinkt, dann wieder erblüht, bevor er gänzlich erstirbt, sich für einen Augenblick begeistert erhebt wie noch niemals zuvor: So fügte sie den beiden Farben, die sie bisher nur hatte erblicken lassen, andere schillernde Bänder, alle jene des Prismas hinzu und ließ sie erklingen.

Swann wagte nicht, sich zu rühren, und hätte auch gern die anderen Leute zur Ruhe gebracht, als hätte die leiseste Bewegung den übernatürlichen, lieblichen und zerbrechlichen Nimbus gefährden können, der doch so nah daran war zu vergehen. Tatsächlich jedoch dachte niemand daran, zu sprechen. Das unsagbare Wort eines einzelnen Abwesenden, vielleicht eines Toten (Swann wusste nicht, ob Vinteuil noch lebte), das über den kultischen Handlungen dieser Zelebranten atmete, genügte, die Aufmerksamkeit der dreihundert Personen gebannt zu halten, und machte aus diesem Podium, auf dem eine Seele also beschworen wurde, einen der erhabensten Altäre für den Vollzug eines übernatürlichen Rituals. Dieser Eindruck war so stark, dass Swann, als die Phrase sich schließlich auflöste und in Bruchstücken durch die folgenden Motive flatterte, die bereits an ihre Stelle getreten waren, zwar im ersten Augenblick irritiert war, als er die Gräfin von Monteriender, berühmt für ihre Naivität, sich zu ihm neigen sah, um ihm ihre Eindrücke sogar noch vor dem Ende der Sonate anzuvertrauen, sich dann aber eines Lächelns nicht enthalten konnte, wohl auch, weil er in den Worten, deren sie sich bediente, noch einen tieferen Sinn fand, den sie nicht darin sah. (WS, S. 483 f.)

Anders etwa bei dem Martinville-Aufsatz in WS (S. 252 f.), der rhythmisch stark gebunden ist und deshalb in SJM auch als »Prosagedicht« bezeichnet wird. Da dieses Merkmal insbesondere dazu dient, das etwas Schülerhaft-Eklektische dieses Marcelschen Erstlings zu transportieren, schien es mir wichtig genug, bei der Wortwahl gegebenenfalls Konzessionen an die Präzision zu machen, um hier auch im Deutschen einen naiv-plätschernden Tonfall zu erzielen.

Sein Interesse an den musikalischen Aspekten der Sprache machte Proust schon in dem Essay Mélancolique villégiature de Madame des Breyves36 explizit; in der Suche wird es ganz allgemein im Gebrauch der Satzzeichen deutlich und kommt konzentriert in den »cris de Paris« der Gefangenen zum Ausdruck. Die Kommasetzung in der Recherche ignoriert großzügig die »logischen« Regeln der französischen Grammatik und orientiert sich primär gleich den Atempausen im Gesang an rhythmischen Merkmalen; dies im Deutschen nachbilden zu wollen erwies sich jedoch als heikles Unterfangen, denn da die Intonationsstrukturen im Deutschen von anderen Regeln geleitet werden als im Französischen, könnte eine prosodische Kommasetzung im Deutschen nicht mehr die des Autors sein, sondern wäre zwangsläufig die des Übersetzers, der sich damit etwas zu sehr in den Vordergrund spielen würde; zudem ist eine Kommasetzung, die sich nicht dem Duden unterwirft, jenseits historischer Orthographie in wissenschaftlichen Editionen in Deutschland kaum plausibel zu machen. Im übrigen aber orientiert sich die Punktuation gänzlich – bis auf eine Ausnahme – an der Textvorlage. Die Sätze blieben durchweg unangetastet, Semikola blieben Semikola, Klammereinschübe und Einschübe zwischen Gedankenstrichen wurden originalgetreu wiedergegeben. Die Ausnahme bilden einige Einschübe, die bei Proust nur durch Kommata eingefasst sind; hier legte dann gelegentlich der andere Satzbau des Deutschen dem Leser eine falsche Vermutung über den Fortgang des Satzes nahe. In solchen Fällen hielt ich es für besser, die Kommata durch Gedankenstriche zu ersetzen.

In den »cris de Paris« (G, S. 153–157, 167–173, 182–184) werden die Händlerrufe, die Marcel in seinem Schlafzimmer von der Straße hereindringen hört, explizit in Bezug zu melodischen Strukturen der Gregorianik und zum Parlando bestimmter Opern gesetzt. Hier war natürlich Sorge zu tragen, dass die Übertragung der Rufe dann auch den beschriebenen Merkmalen entspricht. Zudem verleiht Proust den »cris« (auch: ›Schreie‹) eine gewisse Straßen-Authentizität, indem er sie mit derb-erotischen Konnotationen befrachtet. Um diesen beiden Aspekten Genüge tun zu können, waren gelegentlich Eingriffe vor allem auf lexikalischer Ebene notwendig, wenn eine deutsche Entsprechung einfach nicht passt oder nichts hergibt (z. B. »Römersalat« oder »Artischocke«, die durch »Feige« bzw. »Pflaume« ersetzt wurden). Um solche Behelfe zu vermeiden, hatte ich anfangs erwogen, die Rufe im Text auf Französisch stehen zu lassen und nur in den Anmerkungen eine wortgetreue Übersetzung anzubieten. Dies hätte aber den meines Erachtens erheblichen Nachteil gehabt, dass ein Leser, der nicht das Französische beherrscht – und von dem muss der Übersetzer natürlich ausgehen – dieses Glanzstück der Recherche (und ich hoffe, auch der Suche) nicht als die verliebte Komposition für ein Solo-Instrument, die Sprache nämlich, zu lesen, zu hören und zu genießen vermöchte, die es für französische Leser darstellt.

In rhythmischer Hinsicht bilden die deutschen Hilfsverben ein ständiges Ärgernis: während sich im Französischen auch bei längeren, im Perfekt oder Plusquamperfekt gehaltenen Passagen die Formen zu »avoir« mit ihren weichen oder gar nicht vorhandenen Konsonanten prosodisch im Hintergrund halten, gehen die deutschen Hilfsverbformen gern auf stimmlose Plosive und womöglich obendrein noch Frikative aus (»bist«, »hattest«) und drängen sich so verstärkt ins Bewusstsein, was die Sätze dann leicht ins Stampfen bringt. Um einer linguistischen Seekrankheit beim Leser vorzubeugen, habe ich gelegentlich den einen oder anderen Teilsatz ins Passiv transformiert, um wenigstens einen Wechsel zwischen den Formen von »haben« und »sein« zu erzielen.

Ein bekanntes Problem bei Übersetzungen aus dem Französischen bilden die Partizipialkonstruktionen, die zwar eine kompakte Ausdrucksgestaltung erlauben, aber im Deutschen für ungeschickt gelten und deshalb im allgemeinen in Relativsätze aufgelöst werden. Damit ist jedoch eine Erhöhung der syntaktischen Komplexität verbunden, was bei der Startbasis, die Proust vorgibt, wenig wünschenswert ist. Erfreulicherweise benutzt Proust aber gelegentlich auch Konstruktionen, bei denen man sich fragt, ob es nicht auch einfacher geht. Hier bietet sich dann die Möglichkeit, ein wenig Ausgleich zu schaffen. Die Auflösung der Partizipialkonstruktionen in Relativsätze sollte man allerdings nicht zum Prinzip erheben, denn häufig verbindet sich damit auch ein Verlust an Dynamik. So habe ich etwa dem längsten Satz der Recherche (SG, S. 28 ff., »Ohne mehr als eine zerbrechliche Ehre …«) schließlich die verpönten Partizipien belassen, da alle meine Versuche, sie zu vermeiden, dem Satz (dessen Matrixsatz übrigens die finite Verbform fehlt) die Spannkraft ausgetrieben hatten.

Obwohl das Französische und das Deutsche so eng verwandte Sprachen sind, zeigen sich bei der Genuszuordnung, die doch sprachhistorisch im allgemeinen recht stabil ist, erhebliche Unterschiede: man denke nur an le/die »Tour de France«. Dies hat weitreichende Konsequenzen, denn der Zusammenhalt der verschiedenen Teile eines Satzes wird ganz wesentlich über Kongruenzen gestiftet, d. h. durch Übereinstimmungen (oder eben Unterschiede) zwischen den Genus-Markierungen der Nomen und Pronomen des Satzes. Durch die Übersetzung wird aber gelegentlich verschieden, was gleich war, was kein Problem ist, und leider häufig auch gleich, was verschieden war: das kann dann den ganzen Satz durcheinanderbringen. Mit etwas Glück findet man zwar für dieses oder jenes Wort ein Synonym mit passenderem Genus, aber meist lässt sich nicht vermeiden, den Satz umzubauen, um ein Nomen aus dem Fokus eines Pronomens zu entfernen, in den es nicht gehört, oder um es umgekehrt in den Fokus des zugehörigen Pronomens hineinzurücken. Je komplexer der Ausgangssatz, desto umfassender im allgemeinen die Umbauarbeiten. Dabei treten natürlich auch Konflikte auf, wenn z. B. Proust eine Konstituente ans Satzende rückt, um ihr mehr Gewicht zu verleihen, sie im Deutschen an dieser Stelle aber aus Kongruenzgründen nicht stehen bleiben kann. Solche Erwägungen haben allerdings untergeordneten Stellenwert, da im Französischen die Prominenz der Endposition auch weitgehend durch die Neigung der französischen Sprache zur Endbetonung bedingt ist, während man bei den deutschen Satzenden mit ihrer Tonsenkung eher aufpassen muss, dass sie einem nicht allzu abrupt abstürzen (weshalb ich gelegentlich eine Partikel einfüge oder zu einer Langform greife, um eine Silbe zu gewinnen) oder sich in Gemurmel verlieren.

 

In lexikalischer Hinsicht habe ich mich insbesondere bei Fremdwörtern im Zweifelsfall am Verwendungsstatus eines Wortes orientiert, über den man sich ja heute mit Hilfe von Suchmaschinen mühelos ein einigermaßen repräsentatives Bild verschaffen kann. Wenn etwa Sachs/Villatte für »métempsycose« kommentarlos »Metempsychose« und »Seelenwanderung« nebeneinander anbieten, und umgekehrt für »Seelenwanderung« »métempsycose« und »migration des âmes«, dann zeigt ein Vergleich der Trefferhäufigkeiten, dass vom Gebrauchswert her der »métempsycose« mit Abstand die »Seelenwanderung« entspricht, der »Metempsychose« dagegen eher die »migration des âmes«. Häufig ist es allerdings auch so, dass sich Fremdwörter im Französischen ganz anders in einen Satz einschmiegen als im Deutschen, wenn sie Sprachen entstammen, die dem Französischen eng verwandt sind. So wird »chimisme« im Französischen kaum mehr als Fremdwort empfunden (obwohl es aus dem Lateinischen stammt, letztlich sogar aus dem Altägyptischen), während »Chemismus« im Deutschen stilistisch deutlich aus dem Rahmen fällt. In solchen Fällen habe ich es vorgezogen, zu Umschreibungen zu greifen – womit ich freilich das Fremdwort nicht vom Dienst suspendieren möchte. Denn bei anderen Gelegenheiten, wie etwa dem Wilhelm Meister-Pastiche in WG (S. 344 f.), wo goethisches Lokalkolorit aufgelegt werden muss, kann ein vollmundiges Fremdwort (»Kreszenz«) äußerst gelegen kommen. Generell habe ich mich, wie auch Proust selbst (vgl. das Motto zu diesem Kapitel), darum bemüht, lexikalisch den Ball flach zu halten – die Steilvorlagen liefert ja schon die Syntax – und damit die Sprache jener Salonatmosphäre fernzuhalten, in der sich der Proust der Freuden und Tage (»ich verleugne sie«)37 noch zu Hause fühlte: »Ich würde begrüßen, wenn [wie in den Rezensionen zu Freuden und Tage] die Epitheta ›feinsinnig‹ [›fin‹] oder ›empfindsam‹ [›délicat‹] ebenso wenig vorkämen wie Hinweise auf Freuden und Tage – dies hier [Swann] ist ein Werk der Kraft«, mahnt Proust den Herausgeber des Figaro, Gaston Calmette,38 und den Kriker René Blum weist er ausdrücklich auf den »›changé‹ et ›grandi‹«, den »›veränderten‹ und ›gewachsenen‹« Marcel hin, der ihm in der Suche nach der verlorenen Zeit begegnen wird.39 Ein Wort wie »Antlitz« etwa, das in der Rechel-Mertens/Keller-Übersetzung neunzigmal vorkommt, wäre geeignet, einem Text ein goethisches Flair zu verleihen, das dem reifen Proust nicht mehr steht; allerdings ist es auch kein Wort, auf das man mit leichter Hand verzichten könnte, denn neunmal habe ich es selbst auch für das Wort der Wahl angesehen.

Ein scheinbar untergeordnetes lexikalisches Problem bilden bei Proust die Wortwiederholungen. Er benutzt sie (in den Teilen, die er noch selbst durchgesehen hat) als Instrument, einem Satz, einer Passage und sogar dem ganzen Text ein konzeptuelles Zentrum zu verschaffen. Als Beispiel für einen Satz sei etwa auf den von »Blaubarts Zimmern« (so Michel Butor) in WS hingewiesen (S. 15 f., »Aber bald hatte ich …«), der um das Verb »creuser« (in der Übers.: »ausheben«) kreist, um das Motiv vom Bett als Grab zu konturieren, für eine längere Passage auf das »Diner Norpois« in SJM, dessen »Komposition« von dem Wort »composition« gekennzeichnet ist (S. 26–47), um auf die im Hintergrund stehende »composition« = »Aufsatz« zu verweisen, Marcels Martinville-Essay nämlich – der dann ironischerweise als einziges nicht als »composition«, sondern als Prosagedicht (»poème en prose«) auftritt. Hier wird das Problem deutlich, dass Allerweltswörter wie »creuser« oder »composition« je nach Zusammenhang verschieden übersetzt werden können und im allgemeinen auch sollten, hier aber wegen der speziellen Wiederholungsfunktion gleichartig behandelt werden müssen, will man nicht einen wichtigen Aspekt des Textes verschenken. In solchen Fällen nehme ich dann schon einmal leichte Schiefigkeiten im Ausdruck in Kauf: So würde man gemeinhin kaum von der »Komposition« eines Aktienpakets sprechen. – Zu einem textübergreifenden Leitbegriff s. die Bemerkungen zu »doute« S. 25 und S. 241. Den Wortwiederholungen in den späteren Bänden, insbes. E und WZ, lässt sich allerdings in den meisten Fällen schwerlich eine gestalterische Funktion zusprechen; hier handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach einfach um unkorrigiertes Material.

Der Erzähler der Suche ist im allgemeinen in einem Monolog befangen, doch gelegentlich wendet er sich auch mit Verve an den Leser. In Sodom und Gomorrha II,1 etwa entspinnt er sogar ein fiktives Zwiegespräch mit dem Leser über das mangelhafte Namengedächtnis des jungen Mannes, »›der der Autor‹« war bzw. »›der Ihr Held war, falls Sie es nicht selber sind.‹ – ›Das ist in der Tat sehr fatal, werter Herr Leser‹« (S. 75). Diese Erzählereingriffe werfen gewisse Übersetzungsschwierigkeiten auf, denn da das Französische häufig mit dem definiten Pronomen »vous« (»Sie«/»Ihr«/»ihr«) auch ausdrückt, was im Deutschen im Nominativ mit dem indefiniten »man« bzw. in den anderen Kasus mit »eines«/»einem«/»einen« ausgedrückt wird, bleibt an solchen Stellen unklar, eben weil direkte Erzählereingriffe keine Seltenheit sind, ob nicht auch bei diesen Formulierungen eine direkte Leseransprache intendiert ist. Ein typischer Fall, in dem dann auch die verschiedenen Übersetzungen zu verschiedenen Lösungen gekommen sind, ist etwa die Beschreibung der Aufführung eines Prélude von Chopin bei Madame de Saint-Euverte in WS II: »pour […] vous frapper au cœur« – um »Sie« (von mir lange bevorzugt), um »dich« (Schottlaender), um »einen« (Rechel-Mertens) oder um »uns« (S. 456) ins Herz zu treffen? Da der Fall häufiger vorkommt, wird jede starre Lösung auch das Gewicht von Erzählereingriffen verschieben und die Suche damit mehr oder eben weniger dem auktorialen Roman annähern, für den eine gewisse Distanz zwischen dem Erzähler und seiner Erzählung charakteristisch ist. Letztlich muss der Übersetzer von Fall zu Fall entscheiden und sich dabei auf sein Gefühl für Angemessenheit verlassen.

Zur Gretchenfrage der Übersetzungstheorie: »Wie hältst du’s mit den Redewendungen?«, gibt es im wesentlichen zwei Antworten: man übersetzt die Wendung wortgetreu, um die Metaphorik der Quellsprache zu erhalten und damit die Weltsicht ihrer Sprecher abzubilden (»Der frühe Vogel fängt den Wurm«), oder aber man sucht eine Wendung in der Zielsprache, die das in Rede stehende Konzept zum Ausdruck bringt (»Morgenstund hat Gold im Mund«). Beide Lösungen sind unbefriedigend: bei der ersten hat man oft das Gefühl, die »Übersetzung« überhaupt erst noch übersetzen zu müssen, bei der zweiten dagegen, dass die Wendung einfach nicht zu den Personen passt, denen sie in den Mund gelegt wird, die ja trotz aller Übersetzerei weiterhin Engländer, Franzosen, eben Angehörige der Sprechergemeinschaft der Quellsprache bleiben. Wie so häufig in den Geisteswissenschaften ist auch hier mit allgemeinen Rezepten nicht viel zu holen. Für gewöhnlich bemühe ich mich, Redewendungen so wörtlich wie möglich zu übersetzen, mich dabei aber an Wendungen, die im Deutschen zur Verfügung stehen, anzuschmiegen. Wenn etwa Albertine ausruft: »Tu me mets aux anges«, so wäre die sinngemäße Übersetzung »du bringst mich zum Höhepunkt« arg akademisch angesichts der Situation, die wörtliche »du bringst mich zu den Engeln« im Deutschen aber zu unüblich. Die Lösung »du bringst mich in den siebten Himmel« (E, S. 157), für die ich mich schließlich entschieden habe, versucht, beiden Aspekten gerecht zu werden, weist allerdings die Schwäche auf, dass es auch im Französischen die Wendung vom siebten Himmel (»septième ciel«) gibt, die Albertine ja aber nicht benutzt hat.