Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

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»Er geht ganz in Proust auf, wie nur ein Kind das kann.«

Zur Rezeption

»›Das Lesen.‹ – ›Oh!, das ist aber eine sehr beruhigende Leidenschaft bei einem Ehemann!‹ rief Madame Bontemps und erstickte ein boshaftes Lachen.« (SJM, S. 247.)

Die Literatur zu Proust hat inzwischen den Pegel von 10 000 Titeln überschritten – die meisten davon gewiss zur Suche. Es ist daher kaum noch menschenmöglich, und ganz bestimmt nicht in diesem Rahmen, einen auch nur annähernd vollständigen Überblick über die Diskussion zu geben. Ich beschränke mich hier darauf, die wesentlichsten Gesichtspunkte anzudeuten, die unmittelbar nach Erscheinen der einzelnen Bände in der Tagespresse und Literaturkritik vorgebracht wurden. Die meisten dieser Rezensionen sind heute nur noch unter Mühen erhältlich; dem interessierten Leser steht aber immerhin Hodsons Sammlung (1989) umfangreicher Auszüge in englischer Übersetzung zur Verfügung. Eine erste Zusammenfassung der zeitgenössischen französischen Rezeption Prousts liefert Catalogne bereits 1926, eine naturgemäß umfangreichere Darstellung der französischen Kritik bietet dann Alden 1973. Eine speziell auf den moralischen Aspekt fokussierte Analyse der französischen Reaktionen auf Prousts Werk in den Jahren zwischen 1913 und 1930 liefert Ahlstedt 1985. Einen Überblick über die zentralen Themen der Diskussion liefert die 1971 erschienene Sammlung von Jacques Bersani mit 20 Aufsätzen, die den Zeitraum von 1912 bis 1970 umfasst und so illustre Namen wie Curtius, Butor, Deleuze, Barthes und Genette vereint. Ein ähnliches Konzept verfolgen 1990 Paolo Pinto und Giuseppe Grasso mit ihrer Sammlung Proust e la critica italiana von 36 Aufsätzen zur italienischen Proust-Rezeption, in der Beiträge von u. a. G. Ungaretti, B. Croce, A. Moravia, A. Beretta-Anguissola, G. Macchia und P. Citati zu finden sind. Ein feinmaschigeres Netz wirft 1983 Angelika Corbineau-Hoffmann aus, die unter dem Titel Marcel Proust die Literatur zu Proust thematisch gegliedert in Abrissen darstellt.

Einen vorläufigen Überblick über die Proust-Rezeption auch außerhalb Europas gab 2001 das Institut Marcel Proust International in einem Kongressbericht. Detailliert befasst sich Herbert E. Craig 2002 mit der Proust-Rezeption im spanischsprachigen Amerika; die umfangreiche Bibliographie erfasst zudem über die Fachdiskussion hinaus auch Zeitungsrezensionen und -erwähnungen.

2009 erschien an der Université de Provence eine Dissertation von Hongmei He, die einen Überblick über die Rezeption Prousts in China liefert.

1926 Gérard de Catalogne: Marcel Proust et ses critiques. In: Marcel Proust. Paris: Éditions de la Revue Le Capitole, 1926.

1967 René de Chantal: Marcel Proust. Critique littéraire. Montréal: Presses de l’Université de Montréal, 1967.

1971 Jacques Bersani (Hrsg.): Les critiques de notre temps et Proust. Paris: Garnier, 1971.

1973 Douglas W. Alden: Marcel Proust and his French Critics. Los Angeles: Lymanhouse, 1940. Nachdr. New York: Russell & Russell, 1973.

1983 Angelika Corbineau-Hoffmann: Marcel Proust. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. (Erträge der Forschung.)

1985 Eva Ahlstedt: La Pudeur en crise. Un aspect de l’accueil d’»À la recherche du temps perdu« de Marcel Proust, 1913–1930. Paris: Touzot, 1985.

1989 Leighton Hodson (Hrsg.): Marcel Proust. The Critical Heritage. London / New York: Routledge, 1989.

1990 Paolo Pinto, Giuseppe Grasso (Hrsg.): Proust e la critica italiana. Torriana: Orsa Maggiore, 1990.

2001 Institut Marcel Proust International (Hrsg.): La Réception de Proust à l’étranger. Illiers-Combray: Société des Amis de Marcel Proust, 2001.

2002 Herbert E. Craig: Marcel Proust and Spanish America. From Critical Response to Narrative Dialogue. London: Associated University Presses, 2002.

2009 Hongmei He: La réception de Marcel Proust en Chine. De la lecture critique à la lecture créatrice. Aix/Marseille: Université de Provence, 2009.

Die Kritik zu Lebzeiten

»The clumsy centipedalian crawling of the interminable sentences.« (Arnold Bennett in Erinnerung an eine Lektüre von Swann kurz vor Prousts Tod; in: A. B., Things that have interested me, London: Chatto & Windus, 1926, S. 197.)

Swann (erschienen 14. 11. 1913) Man muss Grasset zugutehalten, dass er das Erscheinen von Du côté de chez Swann in professioneller Manier nach modernsten Maßstäben vorbereitet hatte. Zahlreiche Besprechungsexemplare wurden beizeiten versandt, der Freundeskreis Prousts wurde animiert, Rezensionen zu verfassen. Am 13. November 1913 erschien in der bedeutenden Tageszeitung Le Temps eine umfangreiche Ankündigung durch Élie-Joseph Bois (1878–1941), in der dieser »vorhersagt«, dass der angekündigte erste Band der Recherche du temps perdu »wohl keinen Leser gleichgültig lassen wird. Er wird vielleicht manche verstören«, und Swann als »eigenartig, tief, überraschend, mitreißend, verwirrend, überwältigend« charakterisiert: »Kann nicht als leichte Lektüre für eine Zug­reise bezeichnet werden.« Hier wird auch erstmals das notorische Bild von Proust als einem bettlägerigen Invaliden gezeichnet: »Marcel Proust ist ein Märtyrer seiner schlechten Gesundheit, aber erscheint nicht so, sobald der Schriftsteller in ihm, bittet man ihn, sein Werk zu erläutern, erwacht und spricht.« Eingebettet in den Artikel ist ein Interview mit Proust, in dem dieser auf seinen Stil, seine Arbeitsmethode und seine Ästhetik eingeht: »Für mich ist der Roman nicht Psychologie in der Ebene, sondern Psychologie in der Zeit. Ich habe versucht, diese unsichtbare Substanz der Zeit zu isolieren, aber damit das möglich wurde, musste das Experiment über längere Zeit fortgeführt werden. […] Die Charaktere werden sich später als sehr verschieden herausstellen von dem, was sie in diesem Band sind und von dem, was man von ihnen annehmen wird. […] Mein Werk ist beherrscht von der Unterscheidung zwischen unwillentlicher und willentlicher Erinnerung, eine Unterscheidung, die nicht nur nicht in Bergsons Philosophie vorkommt, sondern der sogar von ihr widersprochen wird.« Zu seiner Arbeitsmethode erklärt Proust: »Ich meine, dass der Künstler das Rohmaterial für seine Arbeit eigentlich nur in den unwillentlichen Erinnerungen suchen sollte. […] Nur sie tragen den Stempel der Authentizität. […] Sie lassen uns dasselbe Erlebnis unter verschiedenen Umständen wahrnehmen, sie befreien es so von allen Zufälligkeiten und zeigen uns seine außerzeitliche Essenz, eine Essenz, die tatsächlich den Inhalt eines schönen Stils ausmacht, jene allgemeine und notwendige Wahrheit, die allein die Schönheit des Stils verständlich machen kann.« Und weiter zum Stil: »Stil ist nicht nur Zierat, wie manche Leute meinen, nicht einmal eine Frage der Technik, er ist, wie die Farbe des Malers, eine Qualität des Sehens, die Enthüllung jenes besonderen Universums, das jeder von uns sieht und das kein anderer sehen kann. Das Vergnügen, das ein Künstler uns bereitet, liegt darin, dass er uns mit einem weiteren Universum bekannt macht.« (Übers. nach Compagnon, Swann, S. 451 ff.)

Am 27. November 1913 veröffentlichte Lucien Daudet, der den Text bereits aus den Fahnen kannte, eine enthusiastische und einfühlsame Besprechung im Figaro; darin hebt er neben anderen auch den amüsanten Aspekt des Textes hervor: »Marcel Prousts Analysen […] stehen so perfekt im Einklang mit einer überwältigenden Sensibilität, dass die beiden untrennbar zusammengehen sowohl bei schmerzlichem Empfinden wie auch bei Ironie, und wir schließlich […] meinen, dass seine Analyse unsere Gefühle freisetzt und seine Sensibilität unser Lachen.« Zum Stil steuert Daudet eine Beobachtung bei, die den Übersetzer ständig in den Konflikt zwischen Texttreue und Inhaltstreue stürzt: »Der Stil von Marcel Proust befindet sich in vollkommenem Einklang mit seinem Denken: mit einer skrupulösen Präzision erfüllt er unaufhörlich in unglaublicher Weise unsere Erwartungen hinsichtlich der Beziehung zwischen einem Eindruck und seinem Ausdruck.« Es ist dies wohl die schwierigste Hürde bei einer Übersetzung, denn so mancher französische Ausdruck neigt dazu, nach Übersetzung nicht mehr den Eindruck zu liefern, dem er im Original entsprach. In seinem Résumé schließlich schreibt Daudet: »Man kann ganz schlicht sagen, dass später einmal, vielleicht sehr viel später, Marcel Prousts Buch, wenn man von ihm spricht, als eine außergewöhnliche Manifestation menschlichen Verstandes im zwanzigsten Jahrhundert erscheinen wird.« (Übers. nach L. Daudet, Autour de soixante let­tres de Marcel Proust, 1929.)

Bereits am 3. Dezember 1913 erschien auch eine Besprechung im Times Literary Supplement von Mary Duclaux (1857–1944), die sich schwerpunktmäßig mit literarischen Kindheitserinnerungen befasste und sich begeistert zeigt von der Darstellung des Knaben Marcel: »Von allen diesen Büchern [bis vielleicht auf zwei] ist das zarteste, das mit einer außerordentlich tiefen Empfindsamkeit gesättigtste, umfassende und doch für das Erleben von Krankheit oder die ersten Eindrücke der Kindheit sensible, ein gewaltiger Roman […] von Marcel Proust […]. Das Buch, mit dem man ihn am ehesten vergleichen könnte, wäre Henry James’s A Small Boy, obwohl dieses ganz entschieden schlicht und kompakt ist verglichen mit Marcel Prousts Versuchen, die undeutlich schillernden Eindrücke eines jungen Geistes zu rekonstruieren, das – uns unerklärliche – Staunen, mit dem er Orte und Personen betrachtet, die in unseren Augen keinerlei Zauber ausüben.« Als Beispiel zitiert sie die Träumerei, in die Marcel versinkt, als seine Mutter ihm erzählt, sie habe Swann in den Trois-Quartiers getroffen, der einen Schirm kaufen wollte (WS, S. 567), und schließt: »Etwas Älteres und Tieferes als Wissen erfüllt dieses Buch.« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 89–92.) Mary Duclaux hatte übrigens für Proust während des Ersten Weltkrieges eine Patenschaft für Soldaten übernommen.

 

Nach diesen Elogen meldeten sich allerdings auch weit weniger begeisterte Stimmen. So erschien im Figaro am 8. Dezember eine weitere Rezension, diesmal von Francis Chevassu (1862–1918), der Swann als eine kaum verhüllte Autobiographie liest: »Das Fehlen einer Handlung und das kapriziöse Wesen der Komposition zeigen darüber hinaus, dass es Marcel Prousts geringster Wunsch war, sich auf das zu beschränken, was für gewöhnlich die Betrachtung des Lebens genannt wird. Man wird wohl eher zu dem Schluss kommen, dass das, was er schreiben wollte, eine angenehme und bilderreiche Autobiographie war, aber in einem ungewöhnlichen Format.« Die von Duclaux so überschwenglich gelobte Kindheitsdarstellung sieht Chevassu in einem anderen Licht: »In Marcel Prousts Buch bleiben seine Erinnerungen in einem unberührten Zustand und sind klar umrissen; und doch ist ihnen das Empfinden des erwachsenen Mannes, der sie wachruft, unweigerlich aufgeprägt; dieses Empfinden führt zu keiner Veränderung; es setzt sie lediglich fort in einer träumerischen Stimmung oder illustriert sie mit einem zarten, feinsinnigen Humor; im Gegensatz zum üblichen Vorgehen ist es hier die Gegenwart, die der Vergangenheit ihre Ausstrahlung verleiht.«

Auch Le Temps schob am 10. Dezember eine zweite Kritik nach, diesmal von dem anerkannten und einflussreichen Literaturkritiker Paul Souday (1868–1929). Trotz des scharfen Tones dieser Kritik (»Enthält durchaus glänzende Partien, aus denen der Autor ein recht hübsches Büchlein hätte machen können«) war Proust erfreut über die Publizität, die sie ihm verschaffte, jedoch indigniert über den Vorwurf, schlechtes Französisch zu schreiben. Soudays Mängelrügen bezogen sich jedoch fast ausschließlich auf Fehler, die jedermann mühelos als Satz- oder Druckfehler erkennen könnte, so er denn wollte. Aus heutiger Sicht etwas befremdlich nimmt sich eine Bemerkung gegen Ende von Soudays Besprechung aus: »Den nächsten Band erwarten wir mit Wohlwollen und in der Hoffnung, etwas mehr Ordnung und Strenge zu finden und einen etwas ausgefeilteren Stil.« Wie ausgefeilt denn noch? Der emimente britische Literaturwissenschaftler Leighton Hodson bemerkt dazu, wie auch zu den Rufen nach mehr Ordnung und Strenge, die allerdings auch schon bei anderen Kritikern zu hören waren: »Veränderungen im geistigen und künstlerischen Klima erklären zum Teil, was heutige Leser wahrzunehmen vermögen. Die Erklärung besteht zum Teil darin, dass Prousts Genie von 1896 an [dem Erscheinen von Les Plaisirs et les Jours] dem künstlerischen Verständnis seiner Leser weit vorauseilte« (Hodson, Heritage, S. 36).

Übrigens antwortete Proust Souday am nächsten Tag mit einem spöttischen Brief, in dem er genüsslich auf eine falsche Zuschreibung und obendrein falsche Deutung eines lateinischen Zitats hinwies, das Souday in seiner Kritik verwendet hatte: unter Aufnahme von Soudays Empfehlung, einen pensionierten Akademiker einzustellen, der seine Grammatik kontrolliert, empfiehlt Proust Souday (»ich hoffe, Sie nehmen mir diese kleine Bosheit nicht übel«), jemanden einzustellen, der seine lateinischen Zitate überprüft: »Er würde nicht versäumen, Sie darauf hinzuweisen, dass Materiam superabat opus nicht von Horaz stammt, sondern von Ovid, und zudem nicht als Rüge, sondern als Lob verwendet wurde« (Corr. XII, S. 380–383). Die kleine Gemeinheit wurde nicht verziehen, wie man sieben Jahre später in Soudays Rezension von Guermantes I nachlesen kann (s. unten).

Offenbar verärgert über die Lobhudelei der Freunde Prousts in den ersten Kritiken, stößt Lucien Maury (1872–1953) in der Revue politique et littéraire am 27. Dezember 1913 in dasselbe Horn: Nachdem er erst einmal Lucien Daudets Charakterisierung Prousts als »Genie« auf menschliches Maß zurechtgestutzt hat (»ich würde eher sagen, dass er eine ganze Menge Talent hat«), fährt er fort: »Eine ausgedehnte Fläche klaren Wassers, das all die Großartigkeit einer ausgedehnten, vielfältigen Landschaft widerspiegelt, mag sich als nicht so sehr tief erweisen; wir werden angezogen von seiner Durchsichtigkeit, dem Zauber dieser glatten und trügerischen Oberfläche. […] Die Anziehungskraft von Prousts Geist beruht auf ähnlichen Eigenschaften.« An Prousts Stil bemängelt er die »konturlosen Sätze, in denen Klammereinschübe und Nebensätze ziellos umherwandern in einem ungezügelten ›Jeder-kann-mitmachen‹« und spricht von »kakophonischem Schreiben« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 101–104).

Gaston de Pawlowski (1874–1933) hebt in seiner Rezension vom 11. Januar 1914 für die Zeitschrift Comædia, S. 3, wohl erstmalig in dieser Deutlichkeit die psychologische Durchdringungskraft Prousts hervor, dessen Analysen er geradezu als Neuland empfindet: »Wir haben uns weit von der bruchstückhaften, lediglich beschreibenden Psychologie der Romanciers entfernt, die wir in unserer Jugend genossen haben. […] Dies ist Psychologie, die dem Studium von Bakterien unter dem Mikroskop vergleichbar ist; dies ist nicht die Psychologisiererei eines Salonhelden mit Hilfe eines bloßen Monokels. […] Nachdem ich dies gesagt habe, habe ich jedoch auch den Eindruck, dass das psychologische Vorgehen des Autors in bedenklicher Weise durch die Theorien Bergsons inspiriert wurde […]« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 108 f.). Gegen diesen Brückenschlag zu Bergson verwahrt sich Proust energisch in einer umgehenden Antwort an Pawlowski (Datierung 11. 1. 1914 unsicher): »Nicht im Traum habe ich daran gedacht, die Philosophie Bergsons zu ›illustrieren‹. Ich habe den Namen Bergson nur einmal ausgesprochen, und dies, um zu sagen, dass es nichts ›Bergsonisches‹ an einem solchen Buch gibt [in dem Interview mit Bois, s. oben]. Doch von dem Augenblick an wurde ich unaufhörlich entweder beglückwünscht oder gescholten, der Autor eines ›bergsonischen‹ Romans zu sein.« Übrigens findet sich in diesem Brief auch eine Bemerkung, die so manchen Kenner der Suche verblüffen dürfte: »Die Fotografie ist jene Kunst, die ich am heftigsten verabscheue« (Corr. XIII, S. 54 f.).

In der letzten publikationsnahen Rezension, die ich hier erwähnen möchte, rückt der Maler und Kunstkritiker Jacques-Émile Blanche am 15. April 1914 im Écho de Paris, S. 1, Prousts Stilkritikern den Kopf zurecht: »[Prousts] Mut wird in den Verbindungen und den Verzierungen nicht enden wollender Satzgefüge deutlich, die dennoch klar sind, bildhaft und, wenn sie nicht dabei verweilen, zu viele Girlanden einzuweben, fest gefügt, konturiert, geschmeidig und bedeutungsgeladen sind.« Blanche hebt die amüsanten Seiten an Proust hervor, die bislang bestenfalls in Nebensätzen zu ihrem Recht kamen: »Zu seinen Fähigkeiten als Irrenarzt und Psychologe fügt er dieses seltene Gewürz feiner Ironie hinzu, das unbarmherzig wäre, wenn es nicht durch Sympathie gemildert würde. Er ist geistvoll und profund.« Blanche schließt mit dem Satz: »Es [dieses Buch] ist fast zu grell für Augen, die halb blind sind selbst bei vollem Tageslicht.«

Mädchenblüte (erschienen 20. 6. 1919) Der Prix Goncourt wird seit 1903 im Herbst für das beste erzählerische Werk französischer Sprache vergeben, das im vorangegangenen Jahr publiziert wurde. Er verschaffte sich trotz seiner intellektualistischen Tendenzen im Handumdrehen ein außerordentliches Renommee beim Publikum wie auch bei den Autoren. Als Gallimard 1913 Swann für den Prix Goncourt vorschlug, war dies bereits ein Griff nach den Sternen – ein berechtigter, aber etwas verfrühter Vorstoß, denn Proust erhielt am Ende nicht eine der zehn Stimmen des Preisgremiums. Aber auch Alain-Fourniers erfolgreicher Roman Le Grand Meaulnes (dt. Der große Kamerad, 1930) wurde nach immerhin elf Abstimmungsrunden für nicht preiswürdig erachtet; ausgezeichnet wurde vielmehr Marc Elders Le Peuple de la mer (nicht übersetzt), ein Roman, der vom Überlebenskampf der Fischer auf der Insel Noirmoutier erzählt. Beim Erscheinen von Mädchenblüte dagegen war der Boden gründlicher vorbereitet: am 10. Dezember 1919 wurde ihm der mit 5000 F (etwa 3900 €) dotierte Preis verliehen; sechs der Jury-Mitglieder hatten für Proust gestimmt, die restlichen vier dagegen für Roland Dorgelès’ Kriegsroman Les Croix de bois (dt. Die hölzernen Kreuze, 1930), den immerhin Tucholsky als ein Meisterwerk apostrophierte.

Allerdings war die Kritik in dieser Zeit, zu der das Kriegsende erst ein Jahr zurücklag, von der Entscheidung der Jury nicht einhellig überzeugt, wenn auch nicht unbedingt aus literarischen Gründen. Am prägnantesten kommt dieses zeitpolitisch motivierte Missfallen in Jean de Pierrefeus Rezension für das Journal des débats vom 12. Dezember 1919 zum Ausdruck, in der er bemängelt, dass Proust schon zu arriviert sei, um der Unterstützung des Prix Goncourt zu bedürfen, ferner zu alt (»Talent von jenseits des Grabes, nicht ohne Charme«), zu pazifistisch, und vor allem zu antiquiert: »Diese Sammlung von Erörterungen […] werden jene kränklichen Seelen genießen, die sich der Realität nicht stellen können und sich in Träumereien verlieren. Sie hat wenig mit den Neigungen einer jungen Generation zu tun, die die Schönheit des Kampfes feiert und die Tugenden des Lichts; sie steht nicht im Einklang mit der Erneuerung des klassischen Geistes, den die Partei der Intelligenz zum einzigen erklärt, der mit der Größe unserer siegreichen Nation vereinbar ist.« Mit einer hübschen Wendung richtet sich Jacques Rivière in der Nouvelle Revue Française gegen die Oberflächlichkeit des Alters-Arguments, das in der Tagespresse wiederholt angeführt wurde: »Sollten wir der Académie Goncourt nicht dankbar sein, dass sie nicht den Jüngsten, sondern den Verjüngendsten […] gekrönt hat?«

Neben diesen neuen, wenn auch entlegenen Stellungnahmen ist auch wieder das Klagelied zu vernehmen, das schon im Zusammenhang mit Swann angestimmt wurde. »Ein Buch, das zu lang ist, offenbart«, nach Meinung von Rachilde (d. i. Marguerite Eymery, 1860–1953) im Mercure de France vom 1. Januar 1920, »immer einen Mangel an Höflichkeit«, und Jean Pellerin befürchtet in seinem Artikel für die Zeitschrift La Lanterne vom 11. Dezember 1919, dass »das große Publikum verzagen wird, wenn es sich diesem undurchdringlichen Gewebe von Subtilitäten gegenübersieht«, dass es »nicht zum ersten Mal über die ›Literatur‹ hohnlachen und sich einfach wieder seinem Fantomas zuwenden wird«. Ganz anders dagegen J. A. G. Binet-Valmers Zukunftserwartungen am 5. Oktober 1919 in Comœdia: »Wenn wir seinen Charakter erst einmal nach noch weiteren Bänden vollständig kennengelernt haben werden, werden wir vermutlich über Marcel Proust sagen: ›Vor dem Krieg gab es in Paris eine sensible Zivilisation; sie war eingeschlossen in einen Kranken, der lächerliche Beobachtungen machte, während er mit Freunden Tee trank, während er in den Alleen spazieren ging, während er versuchte, sich in erblühende junge Mädchen zu verlieben. Und er war ein Poet, ein Poet voller Traurigkeit …‹«

Erfreulicherweise waren überhaupt die Stimmen, die Prousts neues Werk enthusiastisch begrüßten, in der Überzahl und auch von größerem Gewicht. Léon Daudet (ältester Sohn von Alphonse Daudet), der im Goncourt-Gremium für Proust stimmte, hebt in einem Beitrag für die Action française vom 12. Dezember 1919 den bislang übersehenen Aspekt des genialen Humors hervor, der Prousts Skizzen von Personen und Alltagssituationen kennzeichnet; besonders das Diner mit Monsieur de Norpois zu Anfang von Mädchenblüte hat es ihm angetan: »Denken Sie an ein Fresko, dessen allgemeine Wirkung man aus der Entfernung bewundern kann und das einen aus der Nähe durch seine Details entzückt. Die präzisen Beschreibungen, die Proust von einer häuslichen Szene, jemandes Kleidung oder Gesicht liefert, bilden letztlich moralische Züge oder geistige Merkmale in einer überraschend überzeugenden Weise ab.« Auch Jacques Rivière begrüßt am 11. Dezember 1919 in der Zeitung Excelsior aus vollem Herzen die Goncourt-Entscheidung und ist gleichermaßen von Prousts geradezu »anatomischer« Analyse noch des feinsten psychologischen Details begeistert, denkt dabei jedoch in erster Linie an die kleine Mädchenbande: »Seit langem – womöglich seit Stendhal – hat sich niemand in Frankreich – dem einzigen Land, in dem man eine solche Person treffen könnte – mit einer solchen Sorgfalt mit der Liebe befasst, d. h. der einzigen Angelegenheit auf der Welt, auf die es wirklich ankommt. Und seine Frauen-Porträts!« Abel Hermant hatte zu diesem Aspekt bereits am 24. August 1919 im Figaro geschrieben: »Er hat die wahrsten Seiten aller Literatur über die Liebe in den unsicheren und unbeständigen Jahren der Reifung geschrieben.« Anders als Hermant jedoch, der in Proust einen unsteten Charakter am Werk sieht, mit »Launen wie Madame de Sévigné und dem grausamen Talent eines La Bruyère für Porträts«, sieht Rivière hinter dem Werk einen »zutiefst unromantischen« Autor, dessen »Mangel an intellektueller Bequemlichkeit eines Naturwissenschaftlers würdig wäre«.

 

Nachdem sich die Wogen ein wenig geglättet hatten, fasste Albert Thibaudet in einem Artikel für den London Mercury im Mai 1920 den Stand der Diskussion zusammen und verglich wie viele vor ihm Proust mit Stendhal: »Proust hat ein Bild der Welt gemalt als ein Mann, der die Welt mit der gleichen aufrichtigen Herzlichkeit liebt wie die Goncourts die Literatur oder wie ein Militarist die Armee. […] Seine Porträts […], darunter der erstaunliche Legrandin, ein Charakter wie von Dickens, erwecken den Eindruck von Unmittelbarkeit und bewegen den Leser mit einer lebensvollen Körperlichkeit, wie wir sie seit der Chartreuse de Parme nicht mehr gewohnt waren.« Interessant ist aber vor allem der Zusammenhang des Proustschen Textes mit literarischen Strömungen der Zeit, auf den er hinweist und den die französische Kritik bis dahin übersehen hatte: »Bei der Proust-Lektüre denken wir an jenen Roman ohne Handlung, von dem die Naturalisten träumten und den sie zu schreiben versuchten. ›Huysmans‹, sagt Rémy de Gourmont, ›dachte lange Zeit über ein Buch mit folgendem Plan nach: Jemand verlässt seine Wohnung auf dem Weg ins Büro, sieht, dass seine Schuhe ungeputzt sind, lässt sie putzen und denkt derweilen über seine Geschäfte nach, und geht dann weiter. Das Problem war, die Sache auf 300 Seiten auszudehnen.‹« James Joyce’ Ulysses, der einen Tag im Leben des Leopold Blum beschreibt, war da schon in Arbeit und erschien nur zwei Jahre später. Und erscheint ›Marcels‹ Leben, oder genauer gesagt die Erinnerung an sein Leben, nicht eigentlich auch wie ein einziger Tag, der im Fluge vergeht?

Guermantes I (erschienen 22. 10. 1920) und Guermantes II (erschienen 29. 4. 1921) Ich fasse hier die Stimmen zu Guermantes zusammen und unter Sodom I die Stimmen zum Thema Homosexualität in der Suche.

Der erste Teil von Guermantes hat erstaunlich geringen Widerhall in der öffentlichen Presse gefunden; Paul Souday, der es sich als aufmerksamer Proust-Beobachter nicht hat nehmen lassen, auch diesen Band ausführlich in Le Temps vom 4. November 1920 zu besprechen, weist gleich zu Anfang auf einen möglichen Grund hin: »Dieser dritte Teil ist nur ein Übergangsband, weniger in sich abgeschlossen als die beiden anderen, und dient vor allem dazu, die beiden letzten Bände vorzubereiten, die schrecklich werden dürften und uns den Ankündigungen zufolge bis nach Sodom und nach Gomorrha verschleppen sollen.« Auch die römische Eins hinter dem Titel mag so manchen Rezensenten bewogen haben, erst einmal abzuwarten. Souday geht in dieser ­Rezension ungewohnt milde mit Proust um. Er verdeutlicht anhand umfangreicher Textauszüge, wie präzise und gnadenlos Proust die »Arroganz (insolence) und Flegelhaftigkeit (grossièreté)« einer Schicht geißelt, von der Souday kaum zu glauben vermag, dass es sie »von diesem Kaliber« noch gibt: »eine Schatztruhe voller scharfsinniger Betrachtungen, empfindsamer und profunder Wahrnehmungen, lebhafter und subtiler Vorstellungen.« Die Milde ist vielleicht der Tatsache zu verdanken, dass Souday in diesem Zusammenhang Gelegenheit findet, in subtiler Weise die »kleine Bosheit« von 1913 heimzuzahlen: Sein Zitat der Passage, in der sich der Erzähler darüber ärgert, dass er die Gelegenheit verpasst hat, sich bei der Herzogin von Guermantes einzuschmeicheln, indem er ihr Bergotte vorstellt, und sich stattdessen seiner Bekanntschaft mit dem Literaten geschämt hat, kommentiert Souday süffisant: »Gut gemacht, mein Freund, zu deinem eigenen Schaden! Das wird dich lehren, den Umgang mit einem überlegenen Geist, der dich andernfalls hochzuschätzen wüsste, für kompromittierend zu halten und ihm den erstbesten Dummkopf mit Adelsprädikat vorzuziehen.« Zum Ende seiner Rezension weist Souday noch auf zwei »exquisite und bewundernswerte Gemälde« im Text hin, »deren deskriptive Meisterschaft mit den größten Malern wetteifert: ich empfehle insbesondere den Böcklin [die Bai­gnoire-Szene S. 50–52], der sehr viel harmonischer ist als jene in Basel [s. insbes. Spiel der Najaden, 1886], und den Rembrandt [Der Antiquitätenladen, S. 127 f.].«

André Gide nutzt die Gelegenheit des Erscheinens des dritten Bandes, um in der Nouvelle Revue Française vom 1. Mai 1921 in einem seiner regelmäßigen literaturkritischen Briefe Billet à Angèle an eine fiktive Adressatin in der NRF einen Überblick über die vorliegende erste Hälfte des Gesamtprojekts der Suche zu geben, die bekannten Kritikpunkte zu entkräften und vor allem die unvergleichlichen Stärken auf den Punkt zu bringen: »Da die Dinge, die er beobachtet, die selbstverständlichsten von der Welt sind, kommt es uns, wenn wir ihn lesen, ständig so vor, als seien wir selbst es, in die er uns einen Blick gestattet.« Dies erinnert sehr an Proust selbst, der in WZ, also sehr viel später, schreibt: »mit meinem Buch würde ich ihnen [den Lesern] das Mittel an die Hand geben, in sich selbst zu lesen.« Gide wendet sich dann dem Stil Prousts zu und konstatiert begeistert: »Soll ich etwas gestehen? Jedesmal, wenn ich in diesem Meer von Herrlichkeiten geschwommen bin, wage ich es eine Reihe von Tagen nicht mehr, die Feder in die Hand zu nehmen […] und kann in dem, was Du die ›Reinheit‹ meines Stils nennst, nur noch Armut erkennen.« Dann wendet er sich dem beliebtesten Beschwernis der Proust-Anfänger zu, der Satzlänge: »Warte nur, bis ich zurückkomme und Dir diese endlosen Sätze laut vorlese: sofort fällt alles einfach an seinen Platz! Die verschiedenen Ebenen nehmen eine nach der anderen ihren Platz ein, die Landschaft seiner Gedanken vertieft sich einfach immer weiter! […] Ich kann Dir [mit meiner Intonation] beweisen, dass es nichts Überflüssiges gibt in diesem Satz, dass jedes Wort notwendig ist, um die verschiedenen Ebenen getrennt zu halten und seine Komplexität erblühen zu lassen.« Zum Abschluss seiner im Ganzen äußerst lesenswerten Rezension verweist Gide auf die Umstände, unter denen Prousts Werk erscheint: »Es ist seltsam, dass solche Bücher in einem Augenblick erscheinen, in dem überall Ereignisse über Ideen triumphieren, in dem die Zeit knapp ist, in dem Handeln das Denken zum Gespött macht, in dem Besinnung nicht mehr möglich oder zulässig zu sein scheint, in dem wir, die sich noch nicht gänzlich vom Krieg erholt haben, keine anderen Erwägungen mehr anstellen als die der Nützlichkeit, der Dienlichkeit. Und auf einmal scheint uns Prousts Werk, das so uneigennützig, so genügsam ist, ertrag- und hilfreicher zu sein als so manches Werk, dessen Nützlichkeit seine einzige Rechtfertigung ist.« Ist die Zeit stehengeblieben?

Gides Angebot an »Angèle«, ihr einen längeren Satz Prousts vorzulesen, hätte übrigens Paul Souday gern selbst wahrgenommen: In seiner Rezension von Guermantes II vom 12. Mai 1921 in Le Temps zitiert er einen Kandidaten für ein solches Unternehmen (den ich so strukturgetreu wie irgend möglich übersetzt habe):

Liegt es daran, dass wir unsere Jahre nicht in ihrer ungebrochenen Abfolge wieder durchleben, Tag für Tag, sondern in der Erinnerung in der Kühle oder der Durchsonntheit eines Morgens oder eines Abends erstarrt, im Schatten dieses oder jenes abgeschiedenen, umschlossenen Ortes, unbeweglich, gefangen und verloren, fern von allem anderen, und so die allmählichen Veränderungen nicht nur außerhalb unserer selbst, sondern in unseren Träumen und unserem sich entwickelnden Charakter, die uns im Leben unmerklich von einer Zeit in eine völlig andere geleitet haben, unterdrückt werden, dass wir, wenn wir eine neue, aus einem anderen Jahr stammende Erinnerung wieder durchleben, zwischen den beiden, dank von Auslassungen, von immensen Wänden des Vergessens, so etwas wie einen abgründigen Höhenunterschied, wie die Unvereinbarkeit zweier nicht vergleichbarer Eigenschaften, geatmeter Atmosphäre und umgebender Farbtönungen, feststellen?16