Die Kuh gräbt nicht nach Gold

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Bevor er seinen Unmut loswerden konnte, kam Milka ihm zuvor. »War das nicht reichlich übervorsichtig, dem Mann die Hände abzuhacken? Die Arme lagen doch im Wasser, da dürften dann beim Aufweichen der Haut kaum Fingerabdrücke mehr möglich sein, oder?«

»Der oder die Täter wollten wohl ganz sicher gehen. Sie konnten schließlich nicht wissen, wie schnell der Tote gefunden würde. Oder sie waren besonders schlau. Es gibt da neue Verfahren, die es erlauben, auch nach … Verdammt, warum erkläre ich dir das denn.« Milkas strahlendes Lächeln war einfach zu viel. Zumindest führte es zu einer gewissen Besänftigung. »Eigentlich sollte ich dir …«

»… die Leviten lesen, lieber Paul? Ich kann hier doch nicht auf Tourismus machen, während du auf Spurensuche gehst. Außerdem wurde ich eingeladen.«

»Von diesem jungen Assi etwa?«

Milka nickte, weiterhin strahlend. »Ja, netter Typ. Hat mir viel erklärt und …«

Paul unterbrach sie. »Still. Kein Wort weiter. Da kommt Karle.«

»Sie haben sich hoffentlich nicht gelangweilt, Frau Mayr.« Es klang beinahe fürsorglich, als würde 50 Meter weiter hinten die Welt in Ordnung sein, kein übel zugerichteter Toter hier liegen. »Die Spurensicherung ist eben eine langwierige Angelegenheit.«

»Aber nein, keineswegs.«

»Bitte?«

»Ich habe mich nicht gelangweilt. Wenn die Spurensicherung da fertig ist – ich hätte vielleicht etwas für sie.«

»Für mich?« Karle staunte, ratlos.

»Für Ihre Spurensicherung. Ich hab da was gefunden, das könnte …«

Paul, in der festen Überzeugung, es handle sich um das Umfeld am Fundort der Leiche, sandte Milka einen verzweifelten Blick zu.

»… von Interesse sein«, fuhr Milka unbeirrt fort, Pauls dezentes Kopfschütteln und Stirnrunzeln ignorierend.

»Soso. Und was?«

»Etwa 400 Meter flussaufwärts öffnet sich der Wald zum Ufer hin. Auf der kleinen Wiese liegen neben einem umgekippten Klappsessel eine Angel und ein Anglerkorb. Und Gummistiefel. Kein Angler weit und breit.«

»Hm.« Der Kommissar fand die Entdeckung nicht gerade weltbewegend. »Vielleicht musste er mal?« Karle grinste.

»Es roch nach verfaultem Fisch.« Milkas Kommentar veranlasste die beiden Kommissare zu einem kurzen Blickaustausch.

»Kommen Sie, da fahren wir hin.«

Milka deutete auf die gut erkennbare Spur, die sie in dem hohen Gras hinterlassen hatte. Hauptkommissar Karle ließ seinen Blick prüfend über die freie Uferstelle gleiten. »Sie sind dann da vorn herumgelaufen und haben sich umgeschaut?«

»Keineswegs. Ein paar Schritte nach vorn, haargenau auf dieser Spur wieder zurück.«

Der Kommissar zeigte sich einigermaßen verblüfft, griff nach seinem Handy und rief zwei Mitarbeiter der Spurensicherung. »Sie müssen wissen, Frau Mayr, Herr Riegel äußerte die Vermutung, der Tod könnte an anderer Stelle eingetreten sein – ein heftiger Schlag auf Gesicht und Schläfe.«

Milkas Augen glänzten, als Karle ihr nach Ankunft der Spurensicherung einen Schutzanzug bot. Beim Überziehen warf sie Paul einen Ätsch-Blick zu, gemildert durch ein spitzbübisches Grinsen.

Paul verschluckte seinen bissigen Kommentar, als er sah, wie Doktor Sven Rühle und sein Assistent, bis auf die Kapuzen bereits eingekleidet, einem Einsatzfahrzeug entstiegen. Peter Riegels verschwörerisches Zwinkern, als er an Milka vorbei eilte, entging ihm nicht. Milka stapfte hinterher, blieb auf der Spur und hielt in gebührendem Abstand zur Anglerausrüstung inne. Hier konnte sie nur stören. Das dachten wohl auch die beiden Hauptkommissare, die eine abwartende Beobachterposition einnahmen. Milka gesellte sich dazu.

»Die müssen Verdächtiges gefunden haben«, vermutete Kriminalhauptkommissar Karle angesichts der konzentrierten Aktionen. Er fand sich bestätigt, als gleich darauf der Fotograf mit seiner Ausrüstung erschien. »Sie haben eine hervorragende Beobachtungsgabe, Frau Mayr. Bin gespannt, was die herausfinden, und …« Er fummelte unter seinem Overall herum, als sein Handy plötzlich losheulte. Paul schreckte auf, Milka konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Statt eines gewöhnlichen Klingeltons war eine amerikanische Polizeisirene zu vernehmen. »Ja, ich höre … ja, okay. Die Adresse habt ihr bereits? Gebe ich weiter.«

Peter Riegel kam auf sie zu, streifte seine Kapuze ab und öffnete den Overall. »Kurzer Bericht: Wir haben Fußspuren von mindestens zwei verschiedenen Personen gefunden. Zu vermuten ist, dass eine davon wohl der Angler war. Dann …«

»Und das ist unser Toter«, unterbrach Karle.

»Mit großer Wahrscheinlichkeit. Dann gibt es Blutspuren. Auch hier nur eine Vermutung: Der Schlag auf Gesicht und Schläfe könnte hier, an dieser Stelle, erfolgt sein. Jedenfalls sind Blutspuren vorhanden. Ein DNA-Abgleich wird das klären.«

»Eine Blutmenge, die auf ein Abhacken der Hände an diesem Ort schließen lässt?«, warf Milka ein.

Riegel schüttelte den Kopf. »Definitiv nicht. Das muss am Fundort der Leiche erfolgt sein.« Der Assistent, das gewiss grausige Geschehen anscheinend ignorierend, lächelte Milka an. So, als hätte sie ihn gerade zu einem privaten Kerzenscheinsouper eingeladen. »Doktor Rühle meint, der Schlag auf den Kopf könnte bereits tödlich gewesen sein. Das wird sich bei der Obduktion erweisen.« Er richtete den Blick auf Karle, der nickte. »Ihr Opfer ist bereits auf dem Weg nach Heidelberg. Haben Sie so was wie eine Tatwaffe gefunden? Ich meine, für den Schlag, der dem Mann versetzt wurde?«

Riegel verneinte. »Wir haben hier alles abgesucht – außer …« Er blickte auf die träge dahinfließende Jagst.

»Sie meinen …«, setzte Karle an, stockte abrupt, als ihm der Rattenschwanz an Konsequenzen bewusst wurde.

»Tja, liegt an Ihnen. Wenn die Dichte der verwendeten Waffe größer als die Dichte von Wasser war, können Sie im Bereich der Wurfweite suchen. War die Dichte kleiner als ein Gramm je Kubikzentimeter, ist sie Ihnen weggeschwommen.«

Karle nahm es mit Humor. »Finden Sie das jetzt hilfreich?«

»Nicht wirklich. Reine Schulphysik.« Riegel hörte unvermittelt auf zu grinsen, als sich Doktor Rühle zu ihnen gesellte. »Wir sind jetzt hier durch. Unsere Hausaufgaben müssen wir am Institut erledigen. Und fragen Sie mich nicht, wann der Bericht kommt. Keine Ahnung, was alles zwischenzeitlich in Heidelberg auf meinem Seziertisch gelandet ist.«

»Wenigstens eine kleine, eine erste vorsichtige Einschätzung?« Karle wollte sich nicht so schnell abspeisen lassen.

Der Rechtsmediziner streifte seinen Overall ab und reichte ihn an Riegel weiter. »Das hat er Ihnen doch bestimmt schon erklärt. Also: Vor etwa einer Woche wurde der Mann an dieser Stelle mit einem stabartigen Gegenstand geschlagen. Ob der Schlag tödlich war? Hm, vermutlich. Wir werden sehen. Täter: eventuell eine Person, können auch zwei gewesen sein. Lässt sich aus den Spuren nicht klar erkennen. Einfach zu lange her.«

»Eine Woche?« Paul Eichert griff Riegels Andeutung auf.

»Plus ein oder zwei Tage. Werden wir ziemlich genau bestimmen können. Wir holen uns später die Wetterdaten.«

»Und nach dem Schlag wurde er zum Fundort geschafft?«

»Bei dem Gewicht des Mannes voraussichtlich mit einem Fahrzeug, ist immerhin ein halber Kilometer oder so«, sagte der Rechtsmediziner.

Oliver Karle nickte, als teile er die Einschätzung. »Dann könnten Blutspuren im Fahrzeug sein. Das Gesicht ist schließlich übel zugerichtet.«

»Da können Sie zuvor eine Plastiktüte drüber stülpen, damit nicht alles versaut wird. Aber theoretisch haben Sie recht.«

»Wie alt schätzen Sie denn das Opfer?«

»Schwer zu sagen«, Rühle zog die Augenbrauen hoch, »so um die 60, vielleicht knapp darunter. So. Das muss jetzt aber reichen. Wenn Sie noch etwas Wichtiges wissen wollen, fragen Sie Herrn Riegel.« Er blickte auf seinen Alukoffer. Sein Assistent verstand.

»Ich begleite Sie zum Auto«, meinte Karle. An Paul gewandt: »Bin gleich zurück.«

Peter Riegel nickte, lächelte Milka an und stapfte hinter seinem Chef her.

Paul Eichert sah für einen kurzen Moment den Kriminaltechnikern zu, die gerade ihre Utensilien verstauten. »Gehen wir, Milka?«

»Wohin?« Abgekoppelt von der Tatortanalyse und Spekulationen zum Geschehen, fehlte irgendwie der Plan. »Für Schöntal dürfte es jetzt zu spät sein.«

»Komm, wir gehen Karle nach.«

Der Künzelsauer Kommissar stand auf dem Weg und blickte dem Fahrzeug des Rechtsmediziners nach. »Ich nehme euch mit zum Kanu.«

»Und dann?«, fragte Milka trocken und blickte zwischen Karle und Paul hin und her.

Karle warf einen Blick auf das Display seines Handys. »Verdammt, schon spät. Ihr wollt bestimmt nicht weiter flussabwärts, Kloster Schöntal, oder? Ich rufe den Bootsverleiher an, der soll das Kanu abholen. Und euch nehme ich mit nach Krautheim zum Auto.«

Kommissar Karle und Paul schwiegen. Sie hängen anscheinend ihren eigenen Gedanken nach oder sind nach der nervenaufreibenden Aktion geistig entkräftet, dachte Milka. Sie fühlte sich selbst angegriffen, versuchte, Distanz zum Geschehen zu finden. Erst eine prickelnde, neugierige Anspannung zu Beginn ihrer Kanufahrt, das Wohlfühlen nach den ersten Kilometern in einer beruhigenden Natur. Und dann ein abrupter Schwenk, ein grausiger Fund, der an den Nerven zerrte und tief betroffen machte – obwohl sie persönlich nicht tangiert war. Es war das sich entfaltende innere Bild. Ein Mann, der geruhsam in einem Sessel am Flussufer sitzt, entspannt und geduldig auf den Biss eines Fisches wartend. Mit sich und der Welt zufrieden. Ruhig. Und dann, plötzlich, eine explosive Aktion. Womöglich ein kurzes, täuschend harmloses Gespräch über das Angeln an der Jagst, bei dem er den Kopf nach oben wendet und etwas über Elritzen oder Flusskrebse oder seinen Fang erzählt. Aus dem Nichts ein heftiger, brutaler Schlag auf Kopf und Gesicht, der Schmerz. Stille. Nichts mehr. Einfach so. Vorbei.

 

»Milka?«

Sie schreckte hoch. »Ja?«

»Kommissar Karle schlug gerade vor, hier in Krautheim in der Gaststätte zum Rad eine Kleinigkeit zu essen. Ist das okay für dich?«

»Ja sicher.« Im gleichen Moment bereute sie ihre Zusage. Eigentlich verspürte sie keinen Hunger und eine sicher belebte, laute Gasthausstube widersprach eigentlich ihrem momentanen Gemütszustand. Andererseits fehlte ihr die Energie, sich zu weigern und damit eine Diskussion auszulösen.

Milka atmete erleichtert auf, als sie das Lokal betraten. Nur an zwei Tischen saßen Gäste. Sie wählten einen entfernten Ecktisch.

Milkas Versuch, jedwede Nahrungsaufnahme zu verweigern und nur eine Apfelsaftschorle zu trinken, wurde von Hauptkommissar Karle entschieden abgeblockt – mit dem Hinweis, dies sei seine Einladung, sein Revier, und überhaupt. Schließlich musste sie seiner Empfehlung zu Kalbsbäckchen in Rahmsoße mit Spätzle und Salat Folge leisten. »Einen Seniorenteller«, rief sie der Wirtin nach, eingedenk ihrer Appetitlosigkeit.

»So äbbes hem’r ned«, kam es zurück, »s’isch ned so arg viel.«

Milka war froh, dass sich das Gespräch um, aus ihrer Sicht, eher belanglose Inhalte drehte. Die Konsequenzen der Polizeireform, neue Analysemethoden, die Kriminalstatistik im Landkreis. Für Milka war es nur ein Hintergrundrauschen, und so konnte sie ihren eigenen Gedanken nachhängen, bis die Wirtin das Essen auftrug. Zu ihrer eigenen Verwunderung entwickelte sie nach den ersten Bissen einen gesunden Appetit, es schmeckte auch zu gut. Als Karle dann doch auf den Mord zu sprechen kam, hatte Milka gerade ihren leer gegessenen Teller beiseitegeschoben und eine zweite Schorle bestellt.

»Die Tat soll ja vor gut einer Woche begangen worden sein. Mich wundert, dass in diesem Zeitraum keine Vermisstenmeldung auf unseren Tisch kam.«

»Viele Möglichkeiten«, meinte Paul Eichert. »Kann sein, er kommt von außerhalb, macht Urlaub, ist alleinstehend.«

»Muss er nicht eine Erlaubnis zum Angeln haben?«, warf Milka ein. »Ihre Leute könnten beim Hohenloher Fischereiverein nachfragen.«

»Ja, die Idee kam mir auch. Wenn er eine Gastkarte hat, dann wäre das wahrscheinlich ein Volltreffer. Ist er Mitglied, dann wird es schon schwieriger. Unsere IT-Spezialisten müssen mal zusehen, ob sie eine der Aufnahmen so bearbeiten können, dass ein halbwegs erkennbares Gesicht entsteht. Das Foto der Leiche kann ich unmöglich herumreichen.«

»Dem Anglerkorb konnten Sie nichts entnehmen, kein Handy, kein …?«

»Nichts«, sagte Karle in Milkas Satz hinein. »Kein Angelschein, kein Ausweis, kein Ring, keine Uhr – na ja, wir wissen, warum. Keine Geldbörse, kein Autoschlüssel. Absolut nichts, was irgendwie einen Hinweis auf die Identität des Toten geben könnte.«

»Also war jemand sehr gründlich«, folgerte Paul Eichert. »Unter der Annahme, dass ein Angler nicht in Gummistiefeln, Angelausrüstung und Klappstuhl Bus fährt, muss jemand sein Auto genommen haben.«

»Muss nicht, spricht aber einiges dafür.«

»Vielleicht sollten Sie doch die Jagst absuchen lassen.« Paul Eichert brachte den Vorschlag eher beiläufig, ins Off gesprochen vor.

Karle grinste. »Wollte diesem jungen Riegel nicht das Wort reden. Die Suche ist bereits veranlasst. Wir werden den Wald entlang des Weges absuchen und zwei Taucher in die Jagst schicken. Glaube zwar nicht, dass wir was finden, dran vorbei kommen wir aber nicht.«

»Irgendwie«, sagte Kriminalhauptkommissar Karle, als er Milkas Sporttasche in Paul Eicherts Auto umlud, »gefällt mir die Sache ganz und gar nicht.«

Paul hörte mit. »Ja? Ich ahne, was Sie meinen.«

Karle nickte. »Sie denken so wie ich. Das ist kein einfacher Mord. Hast du die feste Absicht, eine Person umzubringen, dann gehst du hin, haust ihr mit einem harten Gegenstand eins über die Rübe. Und wenn notwendig, dann eben nochmal. Aber du säbelst keine Hände ab, entfernst nicht alle Hinweise auf ihre Identität, versuchst nicht, sie zu verbergen, damit sie nicht so schnell gefunden wird, und fährst dann kaltblütig mit dem Wagen des Opfers weg. Nein und nochmals nein. Das wird uns länger beschäftigen, fürchte ich.«

Euch in Künzelsau, dachte Milka. Nicht Paul, und schon gar nicht mich.

Sie sollte sich irren.

Kapitel 2 – Sonntag

Milkas Nacht war kurz. Ihr Bruder Christoph hatte sie am gestrigen Abend wegen einer anscheinend unaufschiebbaren Ersatzinvestition in Beschlag genommen. Es gab zwar keine schriftliche Festlegung, aber eine gewachsene Verantwortung. Milka war für Marketing, Vertrieb und für Buchführung und Finanzen zuständig. Jedenfalls bedurfte der neue Trecker ihrer Zustimmung. Die Diskussion entzündete sich an den Sonderausstattungen, die den vorgesehenen Finanzierungsrahmen sprengten. Wie immer wurde es ein Kompromiss, der mit den beiden Kooperationspartnern und Mitnutzern abzustimmen war. Und wie immer dauerte es lang, trotz des guten Verhältnisses zwischen Bruder und Schwester. Und dann hatte es Ewigkeiten gedauert, bis sie einschlafen konnte. Es gab da etwas, das ihr am Tatort aufgefallen war. Etwas, das nur für einen winzigen Augenblick in ihr Blickfeld geraten war. Oder, sie zweifelte, hatte sie sich das nur eingebildet? Sie haderte mit ihrem Gedächtnis.

Wie üblich meldete sich ihr innerer Wecker kurz vor 6 Uhr. Milka blieb liegen, ging in Gedanken ihr Meeting mit Beate Balzer, zuständig für den Hofladen, und den Brüdern Lukas und Tim Holl vom benachbarten Betrieb durch.

Sie kam später als sonst zum Frühstück. Bettina, ihre Schwägerin, redete gerade auf ihre beiden Kinder Jonas und Laura ein. Es ging um eine Theaterprobe, die ausgerechnet heute Vormittag stattfinden sollte. Ihr Vater Georg, 65 Jahre alt, war bereits irgendwo auf dem Hofgut unterwegs. Christoph blickte von der Zeitung auf. »Kaffee?«

»Und ob. Steht was Wichtiges in der Zeitung?« Sie griff nach dem Bauernbrot und der Butter.

»Wir werden wieder mal aufs Korn genommen. Ein Rundumschlag von A wie Antibiotika über G wie Gülle bis Z wie Zerstörung der Insektenwelt. Von den Bienen ganz zu schweigen. Die Wunschliste an uns ist riesengroß. Ach was, Wunschliste. Es sind alles Forderungen. Dabei mussten in den vergangenen zehn Jahren mehr als 100.000 Höfe aufgeben.«

»Das hatte nicht nur wirtschaftliche Gründe, Christoph«, warf Milka kauend ein.

»Stimmt ja. Aber trotzdem.«

Bettina bugsierte ihre Kinder zur Tür, die zwölfjährige Laura, riss sich wieder los. »Ich hab morgen meine erste Reitstunde. Kommst du dazu?«, flüsterte sie Milka ins Ohr. »Bitte!«

Milka nickte. »Bei den Paludis?«

»Ja. Britta macht das. Danke.« Sie eilte zur Tür. »Um 14 Uhr!«

Milka wechselte von ihrem kleinen Büro zum Hofladen, der sich seit der Neugestaltung im Vorjahr immer besser entwickelte. Abgelehnt hatte sie bislang allerdings, zusätzlich auch einen Bio-Lieferservice anzubieten. Nachdem aber viele Stammkunden nachfragten und es ihr gelungen war, mehrere Heime und Firmenkantinen als Abnehmer zu gewinnen, änderte sie langsam ihre Meinung.

Lukas und Tim Holl, deren benachbarter Hof zu ihrem kleinen Kooperationsverbund gehörte, saßen bereits mit Beate Balzer, der Leiterin des Hofladens, am großen Tisch vor der Theke.

Milka stellte das Konzept vor, unterbreitete Vorschläge für die Hinzunahme von Waren aus fremder Produktion, um das Angebotssortiment auf eine breitere Basis zu stellen. »Eines muss klar sein«, betonte Milka, »die Produkte aus unserer Kooperation müssen überwiegen. Und das, was wir dazu nehmen, muss ausnahmslos unseren Bio-Anforderungen entsprechen.« Allgemeines Nicken. »Und wir dürfen uns nicht verzetteln.«

Tim Holl demonstrierte eine Vorversion der Internetseite, auf der die Kunden ihre Warenbestellung vornehmen sollten. Die Diskussion übersprang die Funktionen, entzündete sich an der grafischen Darstellung und den Bildern. Bis Tim laut wurde: »Diese Fotos, das sind doch nur Platzhalter. Ihr müsst aber endlich eine Lösung für die Auslieferung finden. Die sollten nicht wir übernehmen.«

»Und für eine personelle Unterstützung, wenn der Lieferservice ins Laufen kommt«, ergänzte Beate Balzer.

Milka drehte sich um, als sie das »Guten Morgen« einer bekannten Stimme in ihrem Rücken hörte. Angesichts der Präsenz von Beate Balzer und den Holls fiel Pauls Begrüßung vornehm zurückhaltend aus. Er wies in Richtung des Eingangs. »Ihr habt da draußen vor dem Hofladen freilaufende Hühner und sogar einen kleinen Stall mit Leiter, bringt denn …«

»Den hat Christoph zusammen mit Laura und Jonas gebastelt«, erklärte Milka.

»Was ich wissen wollte: Bringt das überhaupt was für euren Laden? Die Fläche ist doch ziemlich klein.«

»Aber mit Baum und Sträuchern. Die Anlage ist eher für Kinder gedacht, die mit ihren Eltern zum Einkaufen kommen. Die haben dann was zum Gucken. Und einen Hahn haben wir auch.«

»Hab ich gesehen. Der beschützt dann die Hennen, wenn der Fuchs kommt, ja?« Paul grinste.

Milka und Beate konnten ein Kichern nicht unterdrücken. »Wenn ein Fuchs kommt, ist der Hahn in Regel der Erste, der Fersengeld gibt und sich über die Hühnerleiter verdrückt. Ist schließlich kein Hocco, kein Buschhahn«, erklärte Milka.

»Ist nicht wahr. Kann nicht sein.«

»Doch. Wie im richtigen Leben.«

Paul grinste breiter. Er kannte Milkas manchmal spitze Ironie und wechselte das Thema. »Und die braunen Hühner legen die braunen Eier, die weißen die weißen Eier?«

»Nix da. Die Schalenfarbe hat mit der Farbe der Federn nichts zu tun. Hängt von den Genen ab. Meist ist es so: Hat die Henne rote Ohrscheiben, so legt sie braune Eier. Hat sie weiße Ohrscheiben, dann meist weiße. Können wir jetzt das Thema wechseln?«

Paul nickte zustimmend. »Gern. Hab ich eure Besprechung unterbrochen?«

»Nein. Wir sind mehr oder weniger durch. Setz dich dazu. Ein Kaffee?«

Paul ging mit Frau Balzer zum Kaffeeautomaten hinter der Theke. »Habt ihr heute die Zeitung gelesen?« Paul balancierte den Becher mit Cappuccino zurück zum Tisch.

»Allerdings«, sagte Milka, »wir werden wieder mal als die großen CO2-Sünder gebrandmarkt.«

»Na ja, eure Trecker und Maschinen, die …«

»Die, lieber Paul, werden statistisch im Energiesektor verbucht. Ackerbau und Viehzucht machen gerade acht Prozent des Treibhausgasausstoßes, und …«

»Das ist doch schon erheblich.«

»… und Haushalte etwa zehn und der Verkehr weitaus mehr, um die 18 Prozent«, schaltete sich Lukas Holl ein. »Das Thema beschäftigt uns ja, sehr sogar, Herr Eichert. Wir bringen weniger Dünger auf die Felder, nutzen demnächst in unserem Dreierverbund die Gülle zur Energieproduktion, stoppen die Umwandlung von Grünflächen in Ackerland. Was uns nicht gefällt, ist, dass alles auf Verzichtsstrategien hinausläuft.«

Milka lächelte leise und beobachtete die Diskussion, in die sich nun auch Beate Balzer einbrachte. »Wenn die Verbraucher ihren Hamburger oder ihr Steak wollen, können wir nicht einfach die Tierhaltung stoppen. Sonst kaufen die eben Importware, und wir fahren die Betriebe gegen die Wand. Wir sind ja dabei, stärker auf Obst und auf Gemüse umzustellen. Ein Butterverzicht allein wird unser Klima nicht retten und uns auch nicht.« Frau Balzer redete sich in Rage, holte tief Luft.

Milka nutzte die kleine Pause. »Wir verkennen gar nicht, dass Methan und Lachgas weitaus schädlicher sind als CO2. Deshalb sind wir auch dran, mit Maßnahmen auf breiter Front. Was mich persönlich ärgert, das ist eine gewisse, beinahe blinde Fokussierung auf bestimmte Hassobjekte. Mal sind pauschal alle SUVs die Umweltsünder, die verteufelt werden, mal der Diesel und morgen wieder etwas anderes. Die Diskussionen hängen sich pauschal an einzelnen Dingen oder Objekten auf, ohne wirkliche Differenzierung.«

Tim Holl setzte seine Cola ab. Kaffee war nicht sein Ding. »Eigentlich müssten wir dann unseren Canis sofort einschläfern lassen.«

Paul erinnerte sich. »Euren Schäferhund? Warum das? Und was hat das jetzt mit …«

»Hat es.« Tim grinste. »Hab gerade ein Buch darüber gelesen. Der Titel lautet: ›Time to eat the dog?‹«

Paul schüttelte nur den Kopf und wunderte sich über Milkas helles Lachen. Sie kannte die Story.

»Zu Deutsch: Ist es an der Zeit, den Hund zu essen?«, übersetzte Tim vorsorglich. »Anscheinend wird momentan für alles und jedes das Treibhausgas berechnet. In der Schweiz titelte eine Zeitung: ›Lumpi ist ein Sauhund‹. Jedenfalls soll die Haltung eines Hundes einer jährlichen Umweltbelastung von 1.400 Fahrkilometern mit dem Auto entsprechen. Die Katze kommt etwas besser weg. Das Pferd schlechter, da sind es 21.500 Kilometer.«

 

Paul schmunzelte. »Eines ist mal sicher. Wenn nach dem Butter- ein Hunde- und Katzenverbot kommt, dann bleibt in dieser Republik nichts mehr so, wie es war.«

»Kommt nicht durch, wäre auch zu kurz gesprungen«, meinte Milka. »Kein Hund, kein Spaziergang mehr an der frischen Luft, zu wenig Bewegung, kein Ansprechpartner zu Hause. Dann füllen sich die Wartezimmer bei den Ärzten bis zum Bersten. Man muss die Dinge einfach zu Ende denken.«

»Du hast heute frei?«, wollte Milka wissen, als sie zu zweit im Kaminzimmer saßen.

Paul nickte. »Du hast den gestrigen Tag überstanden?«

»Das Geschehen ging mir nach. Die halbe Nacht. Hast du was von deinem Kollegen gehört, diesem Karle?«

»Nein, nichts gehört, und das ist auch gut so. Hast du etwas vor? Mit mir?«

Milka zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, stand auf, gab Paul einen Kuss, schenkte Apfelsaft nach, ging zum Fenster und sah auf den Hof hinaus.

»Also was?«

»Also gut. Demnächst ist diese Langenburg Historic Rallye. Hab ich dir erzählt.«

»Ist mir bekannt. Und …« Paul stand auf, ging zum Fenster, hob sacht Milkas leicht geneigten Kopf an, blickte ihr in die Augen. »Und? Nun red schon.«

»Und? Ich suche weiter nach einem Beifahrer. Hättest du … ich meine, kannst du dir vorstellen …« Milka verstärkte ihr Lächeln.

Paul lächelte zurück. »Dein Bruder? Nein? Dieser Deiniger, der dir stets die Tipps für deinen Käfer gibt, nein? Und dein Professor, der könnte doch …«

»Paul, bitte. Der drückt doch das Bodenblech schon durch, wenn ich langsam an eine rote Ampel rolle. Du nimmst mich nicht …«

»Also gut. Zusage. Das geht über drei Tage, ja?«

»Und würdest du heute mit mir einmal die Bergstrecke fahren? Vom Startort bis hoch nach Langenburg?«

Paul akzeptierte. »Du hast deinen Oldtimer bereits vor die Scheune gestellt. Du wusstest, dass ich zusage, ja?«

Milka öffnete die Beifahrertür, sah zu, wie Paul mit skeptisch prüfendem Blick einmal um das Fahrzeug schlich und sich dann in den schmalen Sitz des 64er Käfers fädelte. »Du bist sicher, das Teil bringt uns bis nach Langenburg?« Er bewunderte den makellosen Zustand des lackierten Armaturenbretts, das zerbrechlich wirkende Zweispeichenlenkrad, den hoch aufragenden Ganghebel, drückte eine der fünf Tasten des Radios, öffnete das Handschuhfach.

»Ist deine Kontrolle damit zur vollen Zufriedenheit abgeschlossen, lieber Paul?«

»Dein Radio tut nicht.«

»Puh. Erstens ist die Zündung nicht an, und zweitens fehlt die Verbindung zur Antenne. Aber keine Sorge: Alles vom TÜV abgenommen. Einschließlich der Sicherheitsgurte.«

»Wunderte mich bereits, dass es welche gibt.«

»Die waren nicht serienmäßig. VW hat aber seit dem Jahr 1961 Verankerungspunkte eingebaut. Also hab ich nachgerüstet.«

Der Boxermotor sprang willig an, äußerte ein vernehmliches Brabbeln, das auch im Innenraum gut zu hören war. Milka fuhr los.

Es dauerte immerhin gute 20 Kilometer, bis Paul Eichert anfing, sich zu entspannen und nach den technischen Daten fragte.

»116 Stundenkilometer Spitze und in 32 Sekunden von null auf 100«, gab Milka bereitwillig Auskunft.

»Und damit willst du ein Bergrennen fahren? Gegen Porsche, Maserati und Co.?« Pauls Stimme klang eher belustigt als erstaunt.

»Das ist eine GLP, eine Berggleichmäßigkeitsprüfung. Es ist nicht so, dass der Schnellste gewinnt. Du hast zwei Trainingsläufe und dann zwei möglichst zeitgleich zu fahrende Wertungsläufe.«

»Und jetzt willst du mit mir einen Testlauf machen?«

»Aber nein, das ist eigentlich untersagt. Ich fahr einfach mal die Strecke bis hoch zum Schloss, und du schaust halt aus Versehen auf die Uhr, ja?«

Paul gab sich geschlagen, genoss die abwechslungsreiche Landschaft und schielte ab und zu verstohlen zu Milka hinüber, die konzentriert und umsichtig fuhr.

»Ab da vorn, Paul, ab der Brücke bitte Zeit nehmen.«

»Bist du jetzt zufrieden, Milka?«

Nach dem obligatorischen Besuch des Deutschen Automuseums im Schloss Langenburg saßen sie unter einem riesigen gelben Sonnenschirm auf der Terrasse des Schlosscafés bei einem bunten Sommersalat mit Frischkäsetasche für Milka. Mit einem herrlichen Blick hinunter ins sattgrüne Jagsttal, zum kleinen Ort Bächlingen und auf die Orangerie und den weitläufigen Barockgarten. Paul, im Status eines Junggesellen, benötigte eine deftigere Stärkung, obwohl er in letzter Zeit häufig Kostgänger bei den Mayrs war. Und das nicht nur, weil es dort gut schmeckte. Er bestellte einen Schwäbischen Zwiebelrostbraten mit Spätzle und Salat.

»Hast du von diesen Gerichtsmedizinern aus Heidelberg etwas gehört? Irgendeine Information zu dem Toten?«

Paul gab etwas Zucker in seinen Espresso, verneinte. »Habe ich auch nicht erwartet. Karle ist ihr Ansprechpartner.« Paul streckte sich und korrigierte den Sitz seiner Sonnenbrille. »Warum fragst du?« Nicht, dass er es wirklich wissen wollte. Es war eher eine belanglose Floskel. Ein externer Fall, nicht seine Zuständigkeit.

»Mir ist da was eingefallen.«

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis der Kriminalhauptkommissar Milkas Antwort inhaltlich registrierte. »Du meinst jetzt nicht …«

»Doch.«

Paul räumte sich erneut Bedenkzeit ein, bevor er nachfragte. Nicht gerade unwirsch, aber doch so, als würde er das Thema am liebsten über die Brüstungsmauer ins Tal kippen. »Und was?«

Milka ignorierte seine Unwilligkeit. »Stell dir mal vor, dieser Angler sitzt da, in der sengenden Sonne. Und wartet. Wartet darauf, dass ein Fisch beißt. Es ist heiß. Richtig heiß.«

»Milka, bitte!«

»Er bekommt Durst. Richtigen Durst. Was macht er?«

»Er trinkt, verflixt auch. Was ist da …«

»Habt ihr was gefunden? Eine Flasche, eine Milchtüte, irgendwas?«

»Den Angler möcht’ ich sehen, der in der Sommerhitze eine Tüte Milch neben sich stehen hat. Hm. Aber du hast recht. Es wurde alles abgesucht. Und in seinem Anglerkorb war auch nichts. Vielleicht hat er Jagstwasser geschöpft.«

»Da hätte er springen müssen. Was machst du, wenn du beispielsweise ein Bier kalt oder zumindest kühl halten willst? Du bindest die Flasche fest und hängst sie ins Wasser.«

Pauls Kombinationsgabe erwachte zu neuem Leben. »Da er bereits mehrere Fische gefangen hatte, könnte man vermuten, dass nicht mehr viel in der Flasche war. Aber, vielleicht, seine Fingerabdrücke drauf.«

»Wir fahren jetzt da hin und sehen nach.«

»Nix da. Ich ruf Karle an, der soll jemanden vorbeischicken.«

»Nein. Wenn dann nichts ist, stehe ich da wie ein Idiot. Wenn du nicht mit willst, bitte. Dann hol ich dich hier wieder ab.« Milka stampfte zur Bekräftigung mit dem linken Fuß auf.

»Liebe Milka, manchmal bist du schon …«

»Was bin ich, Paul? Sag’s schon. Nur Mut.«

»… so stur, na ja, so störrisch, wie ein Esel.«

»Eselin. Esel sind nicht stur, sie geben dem Menschen nur die Chance, seine Fehler zu erkennen.« Paul gab sich geschlagen.

Nun war Milka nicht einfach nur stur. Nicht im Sinn von bockig. Und nicht, dass sie neben ihrer Meinung keine andere duldete. Rechthaberisch war sie ganz und gar nicht. Milka nahm sich aber Zeit, analysierte, wog ab, versuchte, die Dinge zu drehen, sie aus anderen Winkeln zu betrachten. Hatte sie sich eine Meinung gebildet, ein Ziel vor Augen, bedurfte es überzeugender Argumente, sie umzustimmen. Andererseits ließ Milka auch Raum für Empfindungen. Sie schloss Gefühle nicht aus. Am wenigsten die Gefühle für ihre Familie, die Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Ihr war bewusst, dass rationale Argumente allein nicht überzeugen konnten. Meist jedenfalls.