New Order, Joy Division und ich

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Abgesehen von Girls und Klamotten drehte sich in meinen mittleren Teenagerjahren aber alles um Musik. Es war, als wäre eine Box geöffnet worden, aus der nun dieses sehr starke Licht entwich. Hooky und ich waren geradezu fanatisch. Ich weiß nicht, ob es damit zu tun hatte, dass uns in der Schule alles langweilte. Oder ob der Grund darin lag, dass es zu dieser speziellen Zeit gerade besonders viel gute Musik gab. Egal, unsere Faszination grenzte schon an Besessenheit.

Ein großes Ereignis während meiner Schulzeit war der Tod von Jimi Hendrix im Jahr 1970. Ich mochte Gitarrenmusik, konnte aber in Jimis Material nur wenige Melodien finden. Mein Banknachbar war ein eher stiller Typ. Ich sagte zu ihm: „Du magst doch Jimi Hendrix, oder? Er ist gerade gestorben, ja?“ Er antwortete: „Ja, das stimmt.“ Ich meinte darauf: „Ich habe versucht, mich in sein Zeug einzuhören, aber ich finde keine Melodien. Was ist so besonders an ihm?“ Er drehte sich zu mir um und sah mir in die Augen. Dann sagte er ganz ruhig: „Ich mag ihn einfach. Okay?“ Ich hielt das für eine sonderbare Reaktion und sie machte mich nur noch neugieriger. Polydor hatte nach seinem Tod eine EP mit „Voodoo Chile“, „All Along the Watchtower“ und „Hey Joe“ veröffentlicht. Ich legte die Scheibe auf den Plattenteller, hörte zu und die ersten paar Male kam es mir wie Krach vor. Zuerst konnte ich mir einfach keinen Reim darauf machen, was die Leute darin hörten. Doch dann, ganz plötzlich und mit einem Schlag, erschloss es sich mir. Es hatte ein Weilchen gedauert. Ich bin dem Jungen, der mir damals in der Schule keine Erklärung geben wollte, heute dankbar, weil ich mich stattdessen selbst dahinterklemmte, bis es schließlich „klick“ bei mir machte.

Die frühen Fleetwood Mac, vor allem Peter Greens Songwriting und sein Gitarrenspiel, mochte ich ebenfalls. Weniger das bluesige Zeug. Es verwirrte mich immer, wenn britische Bands sich endlos über den Blues ausließen. Ich mochte keine Nummern, die nach Blues klangen – ich mochte es, wenn sie nach einer Band aus England klangen und nicht versuchten, eine Blues-Combo aus Amerika zu sein. So wie ein Album der Rolling Stones mit einem achteckigen Plattencover. Es hieß Through the Past, Darkly und es waren alle Hits darauf vertreten: „Jumping Jack Flash“, „Street Fighting Man“ – ich liebte das Zeug. Vor allem „2000 Light Years From Home“ war ein großartiger Track, weil es sich nicht nach einer Bluesband anhörte, sondern einfach wie die Rolling Stones. Selbstverständlich gab und gibt es einige großartige, authentische amerikanische Bluesmusiker, aber der Kram, den ich mochte, war kein Blues, nein, es waren Bands, die den Blues als Zutat verwendeten, aber wo letztlich etwas total anderes dabei herauskam. Sie filterten ihn durch ihre eigenen Erfahrungen und ihre ihnen vertraute Umgebung. Das gefiel mir am besten und das tut es immer noch.

Meine eigene Musik ist mit Sicherheit das Produkt meiner Erfahrungen. Und als ich mich dem späten Teenageralter näherte, machte ich diese Erfahrungen Länge mal Breite.


Auch nachdem wir in die Wohnung auf der anderen Seite des Flusses in Greengate gezogen waren, verbrachte ich die meiste Zeit in der Alfred Street. Sie hatte eine magnetische Anziehungskraft auf mich. Ich besuchte dort ständig meine Großeltern und hing mit meinen Freunden ab. Meine Kindheit war definitiv nicht unglücklich. In vielerlei Hinsicht war es eine schwierige Zeit, vor allem im Vergleich zu anderen, aber ich war auf keinen Fall unglücklich.

Ich liebte es, in Salford aufzuwachsen und fühlte mich mit der dortigen Gemeinschaft eng verbunden. Außerdem hatte ich dort viel Spaß und erlebte fantastische Zeiten. Mein Horizont ging nicht weit über die paar lokalen Straßenzüge hinaus – aber immerhin kannte ich diese dafür in- und auswendig. Mitunter schwangen wir uns auf unsere Motorroller und fuhren in das Mittelgebirge der Pennines, zum Moor oder nach Blackpool. Wir schwänzten die Schule und preschten einfach davon.

Als ich zum ersten Mal am Land war, war das für mich wie eine andere Welt, denn die unsrige bestand aus roten Ziegelsteinen, Schmutz und Staub. Aber auf unseren Rollern mit ihren zwölf Zoll breiten Reifen konnten wir mitten im Winter durch die verschneiten, nebelverhangenen Pennines düsen. Sturzhelme hatten wir keine. Es war vollkommen irre. Dennoch lag darin eine seltsame Art von jugendlicher Unschuld. Wenn man in der Nacht spazieren ging, musste man sich schon gut auskennen. Man musste wissen, wo man sich aufhielt, und darauf achten, nicht zur falschen Zeit der falschen Posse über den Weg zu laufen. Sonst drohte einem eine gehörige Tracht Prügel. Es schlichen sich genügend Psychos in der Gegend herum – Leute, die mit zugespitzten Regenschirmen, Hämmern und mitunter auch Schwertern bewaffnet waren. Man versuchte einfach, diesen Knallköpfen aus dem Weg zu gehen.

Salford war meine Welt. Man machte aus dem, was man hatte, das Beste und darüber hinaus kannte man gar nichts Anderes oder Besseres. Ich hatte null Ahnung, was es sonst noch so gab. Und in gewisser Weise war das auch egal: Ich war fest in meiner Familie verankert, weshalb nie zur Debatte stand, fortzugehen. Es war eine so intensive Phase meines Lebens, dass ich immer noch, mittlerweile 40 Jahre später, davon träume. Dies war eine der glücklichsten Zeiten in meinem Leben, was an meiner Familie, der Gemeinschaft, den Freunden, dem Zugehörigkeitsgefühl und dem wunderbaren Mangel an Verantwortung lag.

Allerdings sollte ich schon bald begreifen, dass nichts für immer ist. Ich erinnere mich daran, wie ich eines Tages von der Schule nachhause kam und auf dem Tisch eine landesweit erscheinende Londoner Zeitung lag. Aufgeschlagen war eine Seite, die von einem Artikel über „Großbritanniens größten Slum“ dominiert wurde. Ich begann zu lesen. Die Kernaussage war, dass Großbritannien einen der größten und schlimmsten Slums Europas und ein wahres Augengeschwür beheimate. Es handle sich um einen Ort, für den sich die Nation schämen müsse. Als ich weiter las, wurde mir klar, dass diese Schande Großbritanniens Salford sei. Ich dachte mir: „Moment, da lebe ich ja. Ich lebe doch in keinem Slum.“ Ich war ernsthaft gekränkt und außerdem verwirrt, weil, soweit es mich betraf, das hier ein schöner Wohnort war. Offensichtlich herrschten unten im Süden andere Maßstäbe.

Es sollte nicht lange dauern, da begann die örtliche Verwaltung, Teile dieses angeblichen Schandflecks auszuradieren. Pläne wurden umgesetzt, um die Leute aus den alten viktorianischen Straßen in neue Wohntürme umzusiedeln. Aus ihrer Perspektive war es billiger, alle in so einem Blockgebäude unterzubringen, als die alten viktorianischen Häuserreihen zu renovieren, sie mit Zentralheizungen und ordentlichen Badezimmern zu versehen, was leicht möglich gewesen wäre, da die meisten Häuser ja über ein drittes Schlafzimmer verfügten. Sie beschlossen allerdings, einfach alles plattzumachen und die Menschen in diese Bienenstöcke aus Beton zu stopfen. Die Architekten scherten sich nicht um die Gemeinschaft – warum hätten sie das auch tun sollen?

Als ob das alles nicht schon beunruhigend genug gewesen wäre, verschlechterte sich darüber hinaus auch noch der allgemeine Gesundheitszustand meiner Familie. Eines Tages erlitt mein Großvater einen Schlaganfall, was ihn sowohl mental als auch körperlich stark in Mitleidenschaft zog. Rückblickend hatte es vielleicht etwas mit seinem Gehirntumor zu tun. War er zuvor noch ein liebenswerter, rücksichtsvoller Mann gewesen, so war er nun mit einem Mal ein wütender Kerl, der die ganze Zeit um sich schrie. Meine Großmutter war blind. Sie hielt sich überwiegend im ersten Stock auf. Großvater schlief nun im Erdgeschoss. Da mein Großvater den Verstand verloren hatte, musste sich Großmutter nun zusätzlich zu ihrer Erblindung auch noch mit ihm herumschlagen. Schrecklich. Es brach einem das Herz und es gab nichts, was ich hätte tun können.

Ich erinnere mich an das Haus in der Alfred Street. Es war der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, wo ich meine glücklichste Zeit verbracht habe – und dann lief plötzlich einfach alles schief. Die Stadtverwaltung übersiedelte die Leute aus der Straße, ganz egal, ob sie damit einverstanden waren, sie verbarrikadierte die Häuser mit Brettern und verwandelte den Straßenzug kontinuierlich in eine trostlose, verlassene Geisterstraße. Die nachbarschaftliche Gemeinschaft wurde über die Region versprengt, nach Swinton und Little Hulton, an Orte, die zuvor nur Namen für uns gewesen waren. Sie wurde auseinandergerissen, ohne dazu befragt worden zu sein. Es gab kein Mitspracherecht, keine Auswahlmöglichkeiten. Wo einst Kinder beim Spielen auf der Straße gelärmt beziehungsweise die Nachbarn sich angeregt unterhalten hatten, herrschte nun Stille. Hie und da konnte man vielleicht ein paar Arbeiter der Stadtverwaltung hören, wie sie Bretter vor die Fenster der nun leerstehenden Häuser nagelten. Binnen Kurzem waren nur mehr drei Häuser in der Straße bewohnt. Die restlichen Gebäude waren dunkel und entseelt, ein Zuhause nur mehr für Geister und Erinnerungen. In einem dieser drei Häuser, in denen immer noch Licht brannte, saßen meine völlig erblindete Großmutter und mein Großvater, der total von Sinnen war. Bis heute habe ich einen wiederkehrenden Traum, in dem die Häuser der Straße mit Brettern verbarrikadiert sind und meiner verzweifelten Großmutter in ihrem Haus Tränen übers Gesicht laufen. Auch heute noch fühle ich mich in diesem Traum völlig hilflos. Ich war damals noch sehr jung und wusste nicht, wie ich helfen hätte können. Meine Großeltern hatten mich de facto aufgezogen und mir mein ganzes Leben nichts außer Liebe entgegengebracht – und hier war ich nun, absolut chancenlos angesichts dieser Flutwelle an Veränderungen und dem Unglück, in dem sie zu versinken drohten. Ich musste mitansehen, wie diese wunderbare, lebendige Gemeinschaft, von der ich gedacht hätte, dass sie für immer bestehen bleibe, vor meinen Augen zerbröckelte. Die Leute verstreuten sich in alle Windrichtungen.

 

Ich war tatsächlich davon ausgegangen, dass alle auf ewig dort leben würden, mitsamt der Bonfire Nights, den Pinks, die mit dem Gesetz in Konflikt kamen, den alten Frauen, die in ihren Stühlen die Sonnenstrahlen genossen, sowie meinem Großvater, der zwei Mal am Tag im Hof hinterm Haus seine Lungen auffüllte. All dies war in kürzester Zeit in einer auf dem Klassensystem beruhenden Säuberungsaktion, die zwar auf guten Absichten beruhte, jedoch keinen Bezug zur Realität hatte, ausgelöscht worden.

Schließlich wurde mein Großvater in einem Heim untergebracht, was aber auch ein Segen war. Allerdings sollte er nur mehr sechs Monate leben. Und so lebte meine Großmutter allein mit einer ihrer Schwestern in der nunmehr desolaten Straße, wo nur noch zwei weitere Häuser bewohnt waren. Schlussendlich zog sie in ein betreutes Wohnprojekt in Swinton, was sie hasste. Sie wollte nicht aus dem Haus ausziehen, in dem sie beinahe 50 Jahre gewohnt hatte und das für sie nach wie vor derselbe Zufluchtsort war wie in der Zeit, bevor sie ihr Augenlicht verloren hatte.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich sie gegen Ende hin im alten Haus in der Alfred Street besuchte. Da liefen Mäuse herum und sie bekam das gar nicht mit, weil sie sie nicht sehen konnte. Wir hatten nie Mäuse gehabt, da sie in puncto Sauberkeit sehr penibel war. Es war einfach entsetzlich, ein Bild, das zusammenfasste, was mit unserer Gemeinschaft als Ganzes geschehen war. Sobald die letzten Bewohner umgezogen waren und all die Historie, die Menschen, die Familien und ihre Eigenheime, der Stolz und die Würde – einfach alles – verschwunden waren, übernahmen die Mäuse das Kommando.

Ich war gerade einmal 18 Jahre alt und alles, was ich gekannt hatte, war vernichtet worden. Dies miterleben zu müssen, hatte große psychologische Auswirkungen auf mich. Es machte mich emotional ein wenig härter. Anders hätte ich mit der Situation nicht umgehen können. Ich stelle mir das ein wenig so vor, als wäre man ein Arzt – die müssen sich auch ein dickes Fell zulegen, weil sie so viele schreckliche Dinge sehen und den Menschen oft schlimme Nachrichten mitteilen müssen. Bekommt man das nicht auf die Reihe, wird man untergehen. Dieser Entscheidung musste auch ich mich stellen, während ich dabei zusehen musste, wie unsere Welt zerbröselte.

Alles war verschwunden. Sogar die Schule war abgerissen worden. Es war fast so, als würde jemand alles daran setzen, meine Erinnerungen auszulöschen. Alles Greifbare, all die Dinge, die man berühren, fühlen, sogar riechen konnte – sie waren weg und würden nie mehr zurückkommen.

Mein Übergang ins Erwachsenenalter war nicht gerade sanft. Ich wurde aus der Kindheit gerissen, noch bevor ich dazu bereit war. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Plötzlich war alles so unglaublich ernst und ich musste schnell erwachsen werden. Es war wohl kein Zufall, dass ich mich noch mehr in die Musik vertiefte. Was sich zu jener Zeit abspielte, hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Musik, die ich machen sollte. Ich denke, dass man den Untergang einer Gemeinde und das Ende meiner Adoleszenz in meinen Beiträgen zur Musik von Joy Division deutlich heraushören kann.


Ich schloss die Schule 1972 mit meinen O-Levels ab. Im Abschlusszeugnis hatte ich ein Sehr gut in Kunsterziehung. Ich hätte im Anschluss auch gerne irgendetwas mit bildender Kunst gemacht, weil mir das von allem am besten gefiel. Natürlich war ich ein Musikfreak, aber ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen, selbst welche zu machen. Zusätzlich zu meinem Schallplattenspieler hatte mir meine Mutter noch eine E-Gitarre gekauft. Ich weiß gar nicht, warum ich mir eine gewünscht hatte, vermutlich, weil ich den Sound einer Gitarre schon immer geliebt hatte und der nächste logische Schritt einfach darin bestand, sich selbst eine zuzulegen. Infolgedessen unternahm ich ein paar obligatorische Versuche, sie zu spielen. Um ehrlich zu sein, fand ich es einigermaßen sinnlos. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Deswegen verstaubte das Ding bald in einer Ecke meines Zimmers. Das war Sackgasse Nummer eins.

Nachdem ich mit 16 mit der Schule fertig war, sollte also Kunst die Richtung sein, in die ich gehen wollte. Der Besuch beim Karriereberater an der Salford Grammar School war ein Fehlschlag. Ich suchte ihn auf und erklärte, dass ich etwas mit Kunst machen wolle. Er dachte einen Moment nach und teilte mir dann mit, dass es zwei Jobs für mich geben würde. Der eine wäre bei einem Frisör, beim anderen würde ich die weißen Ränder von Fotos wegschneiden. Und das war Sackgasse Nummer zwei.

Es sah so aus, als würde eine Laufbahn in einem kreativen Beruf nicht zur Debatte stehen. Ich stand nämlich bereits unter Druck vonseiten meiner Mutter, einen Job zu finden, damit ich etwas Geld zum Haushalt beitragen könnte. Nach meinem Schulabschluss hatte ich mich beim Bolton College of Art beworben, da es einen guten Ruf genoss, und war daher absolut begeistert, als mir dort ein Studienplatz angeboten wurde. Als ich jedoch meiner Mutter davon berichtete, war sie nicht gerade enthusiastisch. Bevor ich mich versah, tauchte ein Onkel von Jimmys Seite der Familie auf, um sich mit mir zu unterhalten. Er erklärte mir, dass es sich die Familie nicht leisten könne, mich an eine Kunstschule zu schicken. Ich sollte mir das aus dem Kopf schlagen und mich stattdessen darauf konzentrieren, eine feste Anstellung zu finden. Zwar verstand ich die Situation, weil wir ja in der Tat nicht viel Geld hatten, doch war ich auch ziemlich aufgebracht. Womöglich hatte Mr. Strapps letzten Endes doch Recht gehabt. Und somit war ich am Ende von Sackgasse Nummer drei angelangt.

Meine Mutter kannte ein Mitglied der örtlichen Verwaltung. Er vermittelte mir ein Vorstellungsgespräch im Ratshaus von Salford, welches mir letztlich einen fixen Job einbrachte. Anfangs wusste ich noch nicht, was meine Aufgabe sein würde, aber immerhin war es eine Anstellung – und die gab es in den Mittsiebzigern nicht gerade im Überfluss. Ich kam schließlich in der Finanzabteilung unter. Meine Aufgabe bestand darin, Kommunalsteuerbescheide zu verschicken. Ich faltete den Bescheid, gab ihn in einen Umschlag, feuchtete ihn an und klebte ihn zu. Einen nach dem anderen. Tausende Male pro Woche. Unser Büro befand sich direkt im Rathaus. Es hatte ein Fenster für Anfragen, wo man sich anstellen konnte, um über die Rechnungen, die man zugeschickt bekam, zu jammern. Niemand setzte sich gerne mit ihnen auseinander, weshalb ich es tun musste. Ein weiterer Teil meines Jobs war es, dem Stadtkämmerer am Morgen seinen Kaffee zu bringen. Da gab es eine Kanne mit heißem Kaffee und einen mit heißer Milch. Ich trug beide in sein Büro und schenkte ihm ein.

Viele unserer Büroangestellten gingen seit 40 Jahren derselben Beschäftigung nach und langweilten sich zu Tode. Es war tatsächlich wie ein schleichender Tod. Da gab es einen Typen, der nach dem Mittagessen immer auf seinem Schreibtisch einpennte. Eines Tages drehte ein wacher Geist die Uhr auf 5.30 vor. Dann machten wir alle einen Heidenlärm, zogen unsere Mäntel an und taten so, als würden wir uns auf den Heimweg machen. Durch dieses Treiben erwachte der Typ. Er schoss hoch, rannte zur Tür und eilte heimwärts.

Ich hatte noch nicht sehr lange dort gearbeitet, als ein eigenartiger Kauz beim Anfragenfenster aufkreuzte. Er trug altmodische Klamotten im Stile der viktorianischen Epoche, von Kopf bis Fuß in Schwarz. Außerdem war er sternhagelvoll. Alle in der Nähe des Fensters gingen in Deckung. Im Büro gab es da diesen Kerl, der eigentlich in Ordnung war. Er erinnerte mich mit seinem gewachsten Schnauzer an den englischen Komiker und Schauspieler Terry-Thomas und trotz der Langeweile des Jobs strahlte er Tatkraft aus. Nun rief er mich zu sich und flüsterte: „Du wirst dich mit ihm herumschlagen müssen. Das ist der städtische Gerichtsmediziner. Er bringt die Liste von Körpern, die er sich angesehen hat. Wir bezahlen ihn in bar und er gibt alles für Schnaps aus.“ Er lehnte sich halb gegen das Fenster, dieser Gerichtsmediziner, fluchte heftig vor sich hin und schrie: „Hier, ich habe diese Woche sechs Leichen aufgeschnitten. Jetzt will ich mein Geld. Wenn du es mir nicht gibst, bist du der nächste!“ Jeder hatte eine Scheißangst vor dem Kerl, weshalb man mich vorgeschoben hatte. Ich gab ihm seine Kohle und sagte ihm, dass er die Schnauze halten solle – nachdem er hinter sich die Türe zugezogen hätte. Nun ja, immerhin war ich erst sechzehneinhalb.

Ich kann mich zwar nicht mehr an den Namen des Terry-Thomas-Typen erinnern, aber er war ein sehr netter Mann. Er hatte einen VW-Bus, einen dieser coolen alten, und zur Mittagszeit machten sich gelegentlich fünf von uns auf den Weg, um in der Pause in den Bädern von Broughton schwimmen zu gehen. Er war der einzige Kerl in der Arbeit, in dem ein wenig Leben steckte. Er war witzig – tatsächlich glaube ich, dass er es war, der die Uhr damals vorgestellt hatte.

Nachdem ich den Job schließlich hinter mir gelassen hatte, hatte ich mal einen sehr seltsamen Traum von ihm. Darin saß ich wieder im Büro und schaute ihn durch das Empfangsfenster an. Er stand mit dem Rücken zu mir und ich klopfte gegen die Fensterscheibe und rief seinen Namen. Allerdings drehte er sich nicht um. Ich schrie weiter, bis er mich endlich ansah – und alle Venen und Sehnen in seinem Gesicht verliefen auf der Außenseite. Es sah schrecklich aus. Ich wachte auf und wunderte mich über diesen horrenden Albtraum. Kurze Zeit später war ich in einem Nachtclub in Manchester und traf ein paar Typen, die immer noch dort arbeiteten. Sie erzählten mir, dass er bei einem Unfall mit seinem VW-Bus ums Leben gekommen sei. Das waren erschütternde Neuigkeiten, die meinen Traum in einem seltsamen Licht erscheinen ließen.

Es war ein echt sonderbarer Arbeitsplatz. Hier arbeiteten Menschen, die von der Autobahn des Lebens abgefahren waren, um sich in dieser friedlichen, unaufgeregten Sackgasse von Existenz niederzulassen und die Jahre bis zur Pensionierung abzustottern. Da gab es diesen Typen in der Abteilung für Stadtplanung – wahrscheinlich war er mitverantwortlich für den Abriss des Hauses meiner Großmutter. Hin und wieder kam er ganz verstohlen zu mir und sagte: „Ich habe da einen Brief, kannst du ihn bitte durch deine Frankiermaschine laufen lassen?“ Wenn ich das dann getan hatte, meinte er: „Guter Junge, hier hast du eine Süßigkeit.“ Das war meine Belohnung. Korruption auf Gemeindeebene, was?

Einmal wurde ich ins Büro des Stellvertreters des Stadtkämmerers gerufen. Er war eigentlich auch okay. Er ließ mich Platz nehmen und fragte: „Bernard, du bist neu in diesem Job, oder? Wie lange bist du schon hier?“ Ich antwortete, dass es vier oder fünf Monate seien – je nachdem, was es eben war. Er hielt kurz inne, sah mich von oben bis unten an, deutete mit dem Kopf in Richtung Wand und sagte: „Siehst du dieses Bild? Weißt du, was das ist?“ Ich verneinte. „Es heißt Whistler’s Mother“, klärte er mich auf. Dann blickte er eine Weile lang auf seine Füße, als ob er ein Problem mit dem hätte, was er als Nächstes zu mir sagen würde: „Es … es geht um die Kleidung, die du trägst.“ Ich trug einen Pulli mit einem schottischen Muster – die waren damals ziemlich angesagt – und darunter ein T-Shirt. „Wie soll ich das ausdrücken?“, sagte er, „du würdest so ja auch nicht auf ein Begräbnis gehen, oder?“ Ich gab ihm Recht, ich würde so gekleidet tatsächlich nicht auf einem Begräbnis erscheinen. Mit einer leicht gequälten Stimme sagte er dann: „Nun, warum kommst du dann so zur Arbeit?“

Der Vergleich mit der Beerdigung war in Bezug auf das Büro ziemlich passend. Ich war mir nicht sicher, ob er diese Analogie sogar bewusst anbrachte, um mir zu vermitteln: „Hey, ich weiß schon, wie der Hase läuft. Aber lass uns hier drinnen so wenig Aufsehen wie möglich erregen.“ Was das Gemälde mit alldem zu tun hatte, weiß ich bis heute nicht.

Es war ein sonderlicher Ort. Als wäre man im Büro aus A Christmas Carol – Die drei Weihnachtsgeister angestellt, besonders dann, wenn der Leichenbeschauer in seinen seltsamen viktorianischen Klamotten vorbeikam und aus dem Mund nach Balsamierflüssigkeit roch. Ich wusste, dass ich hier raus musste. Endgültig reichte es mir schließlich, als man mich ans College schickte, um mich bezüglich Kommunalverwaltung und Zentralregierung weiterzubilden. Es war, als wäre ich wieder an der Schule. Wir lernten über Dinge wie Parlamentsprotokolle und Bürokratie und ich war nicht im Geringsten interessiert. Wie vorherzusehen war, schnitt ich in der Prüfung richtig schlecht ab. „Jetzt geht das schon wieder los“, dachte ich mir und nahm meinen Hut. Letztlich hatte ich es ein Jahr lang versucht. In dieser Zeit habe ich bestimmt eine Viertelmillion dieser Umschläge verschickt. In keinem dürften gute Nachrichten für den Empfänger gesteckt haben.

 

Ich schrieb zahlreiche Werbeagenturen in Manchester an, weil sie die einzigen potenziellen Arbeitgeber waren, die damals eine Aussicht auf eine künstlerisch-kreative Beschäftigung boten. Ich ging zu ein paar Vorstellungsgesprächen und mir wurden auch zwei Jobs angeboten. In beiden würde ich weniger verdienen als im Rathaus, aber das war nicht wirklich wichtig. Ich wollte nur eine Anstellung, in die ich ein wenig Herzblut fließen lassen könnte.

Der einen Firma sagte ich, dass ich sofort anfangen würde, wohingegen ich der anderen erzählte, dass ich in ein paar Wochen loslegen könne. Ich würde mich bei der ersten Agentur einfach krankmelden und dann im Anschluss entscheiden, welchen der beiden Jobs ich bevorzugte. Ersterer war einfach nur beschissen. Ich machte dort diese schrecklichen Anzeigen, die man aus Zeitungen kennt – „10 % Discount, JETZT!“ umgeben von einem großen Stern. Das war keine Kunst, sondern Müll. Ich hielt es dort gerade mal eine Woche aus.

Der zweite Job war bei Greendow Commercials, einer Agentur, die Fernsehwerbungen produzierte, etwa für die Zeitschrift TV Times. Außerdem bestand eine Verbindung zu Granada Television, denn die meisten der Angestellten hatten dort als Grafiker gearbeitet, sich im Anschluss selbstständig gemacht und waren nun hier gelandet. Die Firma hatte einen eigenen Schneideraum, eine Trickkamera und ein Synchronstudio, weshalb praktisch alles gleich im Haus fertiggestellt werden konnte. Ich war als Laufbursche engagiert und mein Vorgesetzter war ein Typ namens Simon Bosanquet. Sein Onkel war Reginald Bosanquet, ein Nachrichtensprecher. Er war in Ordnung und hatte für Bryan Ferry ein Musikvideo zu „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ gedreht. Darauf war er sehr stolz. Die Leute in dieser Agentur waren eigentlich alle großartig. Mir gefiel es dort sehr. Meine Kollegen waren kreative Leute und es herrschte eine viel bessere Atmosphäre als bei der Arbeit im Rathaus. Ich glaube, dass ich den Job nur wegen meines Motorrollers bekam. Immerhin musste ich als Laufbursche Botendienste erledigen – etwa überall in Manchester Filmrollen ausliefern. Aber ich beschwerte mich sicherlich nicht darüber. Die Leute in der Firma standen auch total auf Musik. Man konnte den ganzen Tag Musik auflegen. Viele – nicht alle – jammerten, wenn ich meine spielte. „Wie kannst du dir nur so einen Scheiß anhören?“, fragten sie dann. Allerdings waren sie auch älter als ich.

Ich hatte noch nicht sehr lange dort gearbeitet, als wir die Hiobsbotschaft erhielten, dass die Firma zusperren würde. Gerry Dow, der oberste Chef, teilte uns mit, dass es ihm leidtäte, sie aber planen würden, etwas Neues zu starten, und sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung setzen würden. Seine beiden Stellvertreter hießen Brian Cosgrove und Mark Hall und sie waren echt gut zu mir. Zu dieser Zeit verdiente ich rund zehn Pfund in der Woche. Sie bezahlten mir netterweise weiterhin acht Pfund in der Woche dafür, dass ich gelegentlich Arbeiten bei ihnen zuhause erledigte – etwa im Garten half und solche Dinge –, bis sie etwas Neues am Start hätten.

Obwohl Greendow zumachte, war Thames Television aus London daran interessiert, Teile der Einrichtung zu nutzen, was dazu führte, dass Mark und Brian gerade einmal sechs bis acht Monate nach dem Ende von Greendow in Chorlton eine neue Firma – Cosgrove Hall Animation –

gründen konnten. So wurde ich zum Koloristen bei Zeichentrickserien wie Jamie and the Magic Torch. Ich versah die Animationen auf den einzelnen Folien, die zuvor von den Animatoren gezeichnet worden waren, mit Farbe. Das war definitiv ein Aufstieg gegenüber meinem Botenjob, aber der Umstand, dass ich in Bezug auf auf Kunst keine höhere Qualifikation als meine O-Level-Prüfung vorzuweisen hatte, bremste mich ein wenig. Jeder bei Cosgrove Hall Animation hatte eine Kunstschule besucht – außer mir. Deshalb war ich in der Hierarchie immer ganz unten. Ich mochte den Job, aber er war auch sehr eintönig. Da ich außerdem wusste, dass ich über keine wirklichen Aufstiegsmöglichkeiten verfügte, begann ich, mich zu langweilen. Also trug ich mich für Kunstkurse an der Abendschule ein und kam – so wie immer – gleich zur ersten Stunde zu spät. Ich riss die Türe auf und rannte hinein und da saß, inmitten des Raums, eine Frau mittleren Alters, umgeben von Leuten mit ihren Staffeleien. Alle sahen mich an. Ich sah alle an. Sah das Modell an. Sie sah mich an. Und mir blieb der Mund offen. Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet gewesen. So oder so half mir das nicht wirklich bei meinen Ambitionen in puncto Grafikdesign und Animation, was die Bereiche waren, in denen ich mich fortbilden hätte sollen. Ich erkundigte mich bei der Firma, ob sie mich fürs College freistellen würden, aber sie meinten, dass das nicht drin sei.

So begann meine Ruhelosigkeit zuzunehmen, obwohl ich die Leute, mit denen ich arbeitete, sehr, sehr gern hatte, insbesondere einen Animator namens Graham Garside. Außerdem gab es da noch einen mürrischen alten Typen namens Keith. Man begrüßte ihn und er schaute einen nur an. Antwort gab es keine. Eines Tages sagte er zu mir: „Schau dich nur an, du halbes Hemd. Eines Tages wirst du aufwachen, aufstehen und eine Wampe haben. Merk dir meine Worte!“ Das war so ein entsetzlicher Kommentar, dass er mich schon wieder zum Lachen brachte, aber er sollte Recht behalten: Genau so ist es nämlich gekommen. Wir machten ihm seinen Tee und er mochte ihn richtig stark. Wir nahmen ein widerliches Paar alter Socken, fischten ein paar alte Teebeutel aus dem Abfalleimer, stopften sie in die Socken und sagten: „Hättest du gerne Tee, Keith?“ Dann pressten wir das Sockengebräu in eine Tasse und gaben sie ihm.

Abseits der Arbeit investierte ich meine Zeit – und mein Geld – in Musik und meinen Motorroller. Ansonsten gab es in Salford damals auch nicht sonderlich viel zu tun. Es war eine ziemlich abgeschottete Gemeinschaft und man fuhr nicht oft weg. Ab und zu ging es vielleicht mit ein paar anderen Scooter-Jungs nach Blackpool oder Southport. Als ich 17 war, verschlug es uns sogar einmal bis runter nach Brighton. Die Polizei hielt mich an, weil ich keine Zulassungsplakette hatte. Mein lieber Großvater – Gott hab ihn selig – hatte mir 175 Pfund geliehen, damit ich mir meinen Lambretta-Flitzer hatte kaufen können. Das war damals eine schöne Stange Geld. Ich war richtig stolz auf meinen fahrbaren Untersatz – und auch stolz darauf, dass ich meinem Großvater mit meinem Gehalt sein Geld zurückzahlen konnte. Außerdem hatte er mir auch zehn Pfund gegeben, damit ich mir eine solche Plakette kaufen könne, was ich aber nicht tat. Stattdessen kaufte ich mir eine Schallplatte, nämlich Argos von Wishbone Ash. Ich hatte zwar noch nie von ihnen gehört, aber einfach mal auf gut Glück zugegriffen. Als ich mir die LP zuhause dann anhörte, gefiel sie mir nicht die Bohne, jedoch wollte man mir im Laden, wohin ich die Scheibe zurückgebracht hatte, mein Geld nicht zurückerstatten. So hatte ich das Geld für die Zulassungsplakette für ein Album verbraten, das mir nicht einmal gefiel, und, um alles noch schlimmer zu machen, wurde ich nun auf einem Roller mit L-Platten, die mich als Inhaber eines provisorischen Führerscheins auswiesen, von der Polizei aufgehalten. Außerdem saß noch ein Mädchen bei mir auf dem Sozius. Keine Zulassungsplakette – das hieß auch, dass ich nicht versichert war. So fasste ich eine empfindliche Strafe aus. Ich glaube zwar, dass ich einen Helm trug, aber das war bei dem ganzen Szenario auch schon das einzig Legale und die Gesetzeshüter gaben sich nicht sonderlich nachsichtig.