Der Ausschluss des Gattenwohls als Ehenichtigkeitsgrund

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Bei seiner Ansprache zur feierlichen Eröffnung des Konzils vom 11.10.1962 warnte Papst Johannes XXIII. vor einer negativen Sicht auf den Verlauf der Geschichte und rief die Konzilsväter dazu auf, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die kirchliche Überlieferung, sondern auch auf die Entdeckungen und Bedürfnisse der Gegenwart zu richten.44 Das so verstandene aggiornamento im Sinne einer Inkulturation der Offenbarung im Dialog mit der Gegenwart sollte zu einem Leitmotiv des Konzils werden.45 Besonders deutlich tritt dieses Grundanliegen in der „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“ Gaudium et spes hervor: Bereits in der Überschrift des ersten Artikels wird die „engste Verbundenheit der Kirche mit der ganzen Menschheitsfamilie“46 ausgesagt. Die Kirche steht der Welt nicht einfachhin als (be-)lehrende Institution gegenüber, sondern ist innigst (intima) mit ihr verbunden und von ihr betroffen.47 Nach dieser programmatischen Einleitung entfaltet die Konstitution eine christliche Anthropologie, auf deren Basis sie wichtige Einzelfragen des menschlichen Lebens erörtert, darunter auch die „Förderung der Würde der Ehe und der Familie“48.

Das Ehekapitel in der jetzt vorliegenden Gestalt hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte.49

In den ersten Entwürfen wurde noch an der Hierarchie der Ehezwecke festgehalten: So bekräftigte bspw. das Schema De castitate, virginitate, matrimonio, familia vom 07.05.1962 die Vorrangstellung des Primärzwecks der Zeugung und Erziehung von Nachkommen vor den Sekundärzwecken und allen übrigen subjektiven Zielen, welche die Partner mit der Eheschließung verbinden.50 Diese Ordnung der Ehezwecke zu leugnen, wurde als zu verurteilender Irrtum angesehen.51 Das überarbeitete Schema Constitutio dogmatica de castitate, matrimonio, familia, virginitate, das Papst Johannes XXIII. am 13.07.1962 genehmigte und das den zukünftigen Konzilsvätern übersandt wurde,52 beinhaltete diesbezüglich kaum Änderungen.53 In einem nächsten Schema wurde zwar auf die Zweckterminologie verzichtet, doch verwies man zunächst noch auf das Dekret des Hl. Offiziums von 1944 und implizierte damit einen gewissen Vorrang der Fortpflanzung.54 Später wurde der Verweis auf das Dekret aufgegeben und die Rolle der ehelichen Liebe stärker betont; personaler und prokreativer Sinngehalt wurden in einer Balance gesehen.55 Diese Entwicklung setzte sich bis in die Endphase der konziliaren Beratung fort, blieb aber bis zum Ende nicht unwidersprochen: Noch unter den letzten Änderungsvorschlägen zum Schema Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis, wenige Wochen vor der Abstimmung über den endgültigen Text, wurde von 190 Vätern gefordert, sowohl die Hierarchie der Ehezwecke als auch die Übertragung des ius in corpus als Konsensobjekt im Ehekapitel festzuschreiben, „und damit versucht, diese deutlich kontraktuell geprägte Konzeption des alten Codex in den Konzilstext hineinzuretten.“56 Die zuständige Kommission wies diesen Vorschlag jedoch zurück: Einerseits mit dem formalen Argument, dass die Pastoralkonstitution nicht der richtige Ort für eine juristisch präzise Festlegung sei, andererseits wollte man nicht mehr davon abrücken, dass der Konsens wesentlich mehr umfasse als die bloße Übertragung von Rechten und Pflichten.57 Am 04.12.1965 wurde auf der 167. Generalkongregation des Konzils in zwölf einzelnen Abstimmungen über die Berücksichtigung der Änderungsvorschläge durch die Kommission entschieden. Der verbesserte Text des Ehekapitels wurde mit großer Mehrheit angenommen58 und die Konstitution schließlich am 07.12.1965 feierlich verabschiedet.59

Der endgültige Text des Kapitels über die Ehe umfasst sechs Artikel: Zunächst stellt GS 47 die fundamentale Bedeutung von Ehe und Familie für das Wohl der Person und der ganzen Gesellschaft fest, bevor einzelne Gefährdungen (bspw. Polygamie oder Egoismus) für die Würde dieser Institution aufgezählt werden. Die Lehre des Konzils versteht sich demgegenüber als Stärkung für die von diesen Problemen betroffenen Menschen. GS 48 beschreibt die Ehe in schöpfungstheologischer und soteriologischer Hinsicht.60 Gott wird als Urheber dieser „innige[n] Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“, vorgestellt, die auch als Bund, als Ort inniger Verbundenheit und als „gegenseitiges Sich-Schenken zweier Personen“ beschrieben wird und als Sakrament die Eheleute stärkt. Die beiden Artikel 49 und 50 befassen sich mit der Bedeutung der Liebe bzw. der Fruchtbarkeit für die Ehe. Die Liebe umgreift die gesamte Wirklichkeit der ehelichen Gemeinschaft und kennt verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten. Diese eheliche Liebe und die Ehe sind auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommen hingeordnet, Kinder werden als „vorzüglichste Gabe für die Ehe“ verstanden, doch wird explizit erklärt, dass auch eine kinderlose Ehe ihren Wert behalte. Die Aufgabe der Elternschaft sollen die Partner verantwortet und im Hören auf das eigene Gewissen wahrnehmen. GS 51 führt diesen letzten Gedanken weiter und hebt hervor, dass bei der Geburtenregelung nicht auf unsittliche Methoden zurückgegriffen werden dürfe.61 Mit Aussagen über die Erziehung der Kinder und einem Appell an alle Menschen, sich für den Schutz und die Förderung der Familie einzusetzen, schließt Artikel 52 das Ehekapitel der Pastoralkonstitution ab.

In Bezug auf das Verhältnis der Sinngehalte der Ehe ist von Bedeutung, welche Rolle die Konzilsväter der ehelichen Liebe (amor coniugalis) zuschreiben: Nach der Charakterisierung der ehelichen Gemeinschaft in GS 48 wird in den beiden folgenden Artikeln zuerst die eheliche Liebe und dann die Fortpflanzung behandelt. Ebenso wird die Liebe in eine Reihe mit der Fortpflanzung, der Einheit und der Treue gestellt.62 Die Parallelisierung von Liebe und Nachkommenschaft begegnet auch in GS 51.63 Solche Textstellen vermitteln den Eindruck, dass mit der Liebe ein eigenständiger Sinngehalt der Ehe neben der Fortpflanzung ausgedrückt werden sollte.

Doch es ist eine andere Verwendungsweise des Liebesbegriffs, die das Ehekapitel dominiert:64 So wird bereits zu Beginn von GS 48 mit der Liebe nicht nur ein Teilaspekt, sondern die gesamte Wirklichkeit der Ehe definiert.65 Derselbe Artikel handelt vom Segen Christi über die Liebe, womit auch an dieser Stelle die Ehe als Ganzes gemeint ist.66 Zweimal tritt die Liebe als Subjekt neben der Ehe auf, wenn erklärt wird, dass Ehe und Liebe auf Nachkommenschaft hingeordnet seien.67 An diesen Aussagen wird erkennbar, dass die eheliche Liebe nicht als ein bloßer Teilaspekt der Ehe verstanden wird, sondern die ganze Wirklichkeit der Ehe betrifft und beschreibt. Norbert Lüdecke sieht daher in der Liebe das „Strukturprinzip der gesamten Ehewirklichkeit“ und den „kontinuierliche[n] Referenzpunkt des ganzen Ehekapitels.“68

Die widersprüchliche Beschreibung des amor coniugalis als eigenständiger Sinngehalt neben der Fortpflanzung einerseits und als ein die ganze Ehe durchdringendes Strukturprinzip andererseits liegt darin begründet, dass während des Konzils noch keine klare Terminologie für einen partnerschaftlichen Sinngehalt zur Verfügung stand.69 Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Konzilstext neben dem prokreativen Sinngehalt ein selbständiger personaler Wert ausgedrückt werden sollte. Das wird sehr anschaulich in GS 48: Die Ehe wird hier vorgestellt als „innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“, als ein „heilige[s] Band“, das „im Hinblick auf das Wohl der Gatten und der Nachkommenschaft sowie auf das Wohl der Gesellschaft nicht mehr menschlicher Willkür“ unterliege.70 Als dem Zugriff des Menschen entzogen werden demnach nicht mehr nur die Wesenseigenschaften der Ehe, Einheit und Unauflöslichkeit, sowie die prokreative Ausrichtung der Ehe betrachtet, sondern auch das Wohl der Gatten und das Wohl der Gesellschaft.71 Weiter heißt es, die Ehe sei „mit verschiedenen Gütern und Zielen ausgestattet“, die „von größter Bedeutung für den Fortbestand der Menschheit, für den persönlichen Fortschritt der einzelnen Familienmitglieder und ihr ewiges Heil; für die Würde, die Festigkeit, den Frieden und das Wohlergehen der Familie selbst und der ganzen menschlichen Gesellschaft“72 seien. Auch hier ist der Bezug zur Nachkommenschaft gegeben, gleichzeitig wird jedoch ausführlich die Wichtigkeit für die einzelnen Personen beschrieben und dieser Zusammenhang – allerdings nicht im Sinne einer Rangfolge – von der prokreativen Dimension abgesetzt.73 Die Güter und Ziele „lassen sich sowohl textgeschichtlich als auch in bezug auf die offizielle Endfassung des Ehekapitels textanalytisch als die beiden neben den Wesenseigenschaften der Einheit und Unauflöslichkeit bestehenden Werte der Partnerschaft und der Nachkommenschaft identifizieren.“74 Diese Werte werden mit den beiden folgenden Sätzen jeweils konkretisiert: Zunächst beschreibt die Konstitution die natürliche Hinordnung der Ehe und der Liebe auf Nachkommen, die als „Krönung“ angesehen werden.75 Danach wird die partnerschaftliche Dimension durch das biblische Bild des Ein-Fleisch-Werdens näher bestimmt.76 Die Gatten sind aufs Engste miteinander verbunden, bestreiten gemeinsam ihr Leben und „erfahren und vollziehen dadurch immer mehr und voller das eigentliche Wesen ihrer Einheit.“77 Diese eheliche Partnerschaft, die „Lebenseinheit der Ehegatten“78 wird nicht als Nebenzweck zur Fortpflanzung verstanden, sondern stellt einen „Wesenszug der Ehe“79 dar. Es geht hier um die Intersubjektivität der Partner und um die Bereicherung, die sie aus dem täglichen Miteinander erfahren.80

 

Anschließend werden aus beiden Sinngehalten – und zwar gleichermaßen aus dem partnerschaftlichen wie dem prokreativen – die Wesenseigenschaften der Ehe abgeleitet: Treue und unauflösliche Einheit der Partner liegen in der Vereinigung und der Selbstschenkung der Gatten ebenso begründet wie im Wohl der Kinder.81 Die traditionelle Herleitung der Wesenseigenschaften allein aus dem bonum prolis wird damit überwunden.82 Auch daran lässt sich ablesen, dass die Konzilsväter eine Gleichrangigkeit zwischen beiden Werten vertreten.83 GS 48 schließt mit dem Auftrag an die Ehepartner und die ganze Familie, Zeugnis für das Wirken Christi abzulegen. Erreicht werden soll das „durch die Liebe der Gatten, in hochherziger Fruchtbarkeit, in Einheit und Treue“84 und durch die Kooperation der Familienmitglieder. Liebe ist hier wiederum nicht Synonym für die Ehe als Ganzes, sondern drückt den partnerschaftlichen Wert aus. Entscheidend ist, dass partnerschaftlichem und prokreativem Wert in gleicher Weise Zeugnischarakter zugeschrieben wird.85

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Konzilsväter in GS 47–52 die im CIC/1917 normierte und später lehramtlich wiederholt eingeschärfte Unterscheidung zwischen dem Primärzweck der Zeugung und Erziehung von Nachkommen und den Sekundärzwecken der gegenseitigen Hilfe bzw. dem Heilmittel gegen die Begierlichkeit aufgeben. Stattdessen etablieren sie neben dem prokreativen Sinngehalt der Ehe einen diesem gleichwertigen und eigenständigen partnerschaftlichen Sinngehalt. Die Verbindung der Ehepartner wird nicht länger in erster Linie als Gemeinschaft zur Fortpflanzung gesehen, sondern als gleichermaßen von beiden Werten geprägter Liebesbund. Dies lässt sich – trotz begrifflicher Unschärfen im Endtext – anhand der Textgeschichte aufzeigen. Beide Sinngehalte gehören zum Wesen der Ehe, zwischen ihnen besteht eine Balance und nicht eine Rangfolge.86 Insofern ist die konziliare Lehre auch eine Absage an ehetheologische Entwürfe, die der Paarbeziehung als solcher einen Vorrang vor der Fortpflanzung einräumten.87 Dass die Konzilsväter bewusst auf eine juristische Terminologie verzichteten, bedeutet indes nicht, dass mit dem Ehekapitel der Pastoralkonstitution keine verbindlichen Aussagen getroffen wurden.88 Vielmehr enthalten alle Konzilsbeschlüsse, auch das Ehekapitel von Gaudium et spes, „Grundsatzentscheidungen oder Fundamentalprinzipien“, die zwar rechtlich noch zu konkretisieren sind, aber die bereits eine Position bestimmen, „hinter welche die Kirche nicht zurück kann und will.“89 Tatsächlich hat die konziliare Rede von einem eigenständigen partnerschaftlichen Sinngehalt der Ehe im CIC auch eine rechtliche Konkretion erfahren.

2.3 Der personale Sinngehalt der Ehe bei der Revision des Codex Iuris Canonici

Schon vor dem Ende des Konzils hatte Papst Paul VI. dazu ermahnt, bei der Revision des CIC die konziliaren Erkenntnisse zu berücksichtigen.90 Die mit der Redaktion des Eherechts befasste Studiengruppe (Coetus Studiorum De Matrimonio)91 war von Anfang an bestrebt, diesen Auftrag auch im Hinblick auf das konziliare Eheverständnis zu beherzigen. Dies erwies sich als nicht ganz einfach: Bereits bei den ersten Zusammenkünften machten die Konsultoren mehrere Vorschläge für einen Canon zur Beschreibung der Ehe.92 Einerseits enthielten alle Vorschläge neben der Hinordnung auf Zeugung und Erziehung von Nachkommen ein partnerschaftliches Element, das in der Mehrzahl der Entwürfe als conformatio93 der Gatten ausgedrückt wurde.94 Andererseits wurde die Zuordnung von prokreativer und partnerschaftlicher Dimension sehr unterschiedlich vorgenommen: Teils wurde eine Hinordnung der Ehe auf die wechselseitige Formung erklärt,95 teils wurde die conformatio als Strebeziel („Matrimonium […] tendit96) oder als causa der Ehe angesehen.97 Bei der Aufnahme der ehetheologischen Impulse von Gaudium et spes bestand Unsicherheit, welche rechtliche Relevanz den dortigen Aussagen zukommen sollte.98 Dabei wurde auch diskutiert, ob mit den altkodikarischen Begriffen „Primärzweck“ und „Sekundärzweck“ überhaupt noch operiert werden könnte99 und was das Fehlen einer Rangfolge der Zwecke in der Pastoralkonstitution bedeuten sollte.100 Strittig war ebenso die Frage nach der Aufnahme des amor coniugalis und dessen rechtlicher Relevanz.101 Zur Lösung dieser Fragen wurde mehrfach der Wunsch nach einer lehramtlichen Klarstellung geäußert,102 die jedoch offenbar ausblieb. Der Berichterstatter der Arbeitsgruppe, Pieter Huizing, teilte später mit, dass innerhalb des Coetus die Entscheidung gefallen sei, im Anschluss an Gaudium et spes auf den Zweckbegriff und die Zweckhierarchie zu verzichten.103 Zusammengefasst gab es zu Beginn des Revisionsprozesses Stimmen, die ein Umdenken im Sinne der Aussagen über die Ehe in der Pastoralkonstitution als notwendig erachteten,104 wohingegen andere ein Abrücken von der traditionellen Ehezwecklehre für nicht angeraten hielten.105 Eine ausdrückliche Übereinkunft über die strittigen Punkte wurde nicht erreicht. Das Ergebnis dieser ersten Beratungen war der Formulierungsvorschlag: „Matrimonium est intima totius vitae coniunctio inter virum et mulierem, quae indole sua naturali ad prolis procreationem et educationem ordinatur“.106 Zwei Konsultoren merkten dazu an, dass die Sekundärzwecke durch die Rede von der intima totius vitae coniunctio ausgedrückt seien107, der Sekretär lobte, dass mit dieser Formulierung die Nichtigkeit einer Ehe wegen Ausschlusses der Sekundärzwecke vermieden sei.108

Das Resultat ist – betrachtet man sowohl dessen Zustandekommen als auch das Ergebnis selbst – mehrdeutig. Auffällig ist das oft bezuglos scheinende Nebeneinander von Aussagen und Konzepten in der Diskussion. Einzelne sprachen sich bspw. gegen eine Aufnahme des ius in corpus aus109, andere gingen darauf nicht weiter ein und schlugen später die Beibehaltung des altkodikarischen Konsensobjekts vor.110

Die Beschreibung der Ehe als intima totius vitae coniunctio fand Eingang in das SchemaSacr. So lautet c. 243 § 1 des Schemas: „Matrimonium, quod fit mutuo consensu de quo in cann. 295 ss., est (intima) totius vitae coniunctio inter virum et mulierem, quae, indole sua naturali, ad prolis procreationem et educationem ordinatur.

Auch anlässlich der Sichtung und Beratung der Antworten der Konsultationsorgane im Februar des Jahres 1977 hielt man an der Formulierung fest und entschied sich ausdrücklich dafür, die Begriffe intima111, totius112 und coniunctio113 beizubehalten.

Allerdings wurde hinsichtlich der alleinigen Hinordnung auf Zeugung und Erziehung angefragt, ob hierin eine „indirekte Bekräftigung der Hierarchie hinsichtlich der Ehezwecke verborgen“ und es daher angezeigt sei, „auch andere Ehezwecke im Canon aufzuzählen“.114 Daraufhin antwortete ein Konsultor, dass der Coetus mit der Norm keine Zweckhierarchie ausdrücken wollte, die Ehezwecke jedoch in ihr enthalten seien,115 und schlug zur besseren Wiedergabe des Intendierten vor, die Norm um ein etiam zu ergänzen.116 Die Frage nach der Nennung anderer Ehezwecke wurde dahingehend positiv beantwortet, dass die Arbeitsgruppe die Aufnahme eines finis personalis matrimonii befürwortete und sich auf folgenden Formulierungsvorschlag einigte: „Matrimonium est viri et mulieris intima totius vitae coniunctio quae indole sua naturali ad bonum coniugum atque ad prolis procreationem et educationem ordinatur:“117

An diesem Punkt der Revisionsarbeiten begegnet zum ersten Mal der Begriff des bonum coniugum.118 Zur Herkunft des Begriffs finden sich keine Angaben, es wird nur beschrieben, dass die Formulierung aus zwei Vorschlägen zusammengestellt wurde und allgemeine Zustimmung fand.119 Später stellte der Vorsitzende der Revisionskommission fest, dass diesem personalen Aspekt in Bezug auf den Ehekonsens auch rechtliche Relevanz zukomme.120 Nach weiteren Beratungen wurden die cc. 242 und 243 § 1 des Schemas zu c. 1008 Schema/1980 zusammengefasst. Die das Eherecht einleitende Norm lautete jetzt: „§ 1. Matrimoniale foedus, quo vir et mulier intimam inter se constituunt totius vitae communionem, indole sua naturali ad bonum coniugum atque ad prolis procreationem et educationem ordinatam, a Christo Domino ad sacramenti dignitatem inter baptizatos evectum est. § 2. Quare inter baptizatos nequit matrimonialis contractus validus consistere quin sit eo ipso sacramentum.121

In der Relatio über die Änderungswünsche der Kommissionsmitglieder am Schema/1980 findet sich eine grundsätzliche Kritik an dieser Norm.122 Kardinal Pietro Palazzini lehnte das zu starke Abrücken von der theologischen und kanonistischen Tradition ab und verwies auf das Armenierdekret vom 22.11.1439123, wo die drei augustinischen bona aufgeführt werden, sowie auf Aussagen des Catechismus Romanus124 zum Wesen der Ehe. Auch in Gaudium et spes sei nicht konkret vom bonum coniugum, sondern allgemein von Gütern die Rede, mit denen die Ehe ausgestattet worden sei. Dabei habe man jedoch besonderen Wert auf Zeugung und Erziehung von Nachkommen gelegt.125 Im Einzelnen wandte sich der Relator erstens gegen die Beschreibung der Lebensgemeinschaft als totius, weil das u. a. den sog. Gewissensehen und den Mischehen widerspräche.126 Zweitens sprach er sich gegen die Erklärung aus, die Ehe sei auf das Gattenwohl hingeordnet, weil „der Zweck eines geschaffenen Dinges immer außerhalb dessen Wesens liegt. Nun aber ist das Gattenwohl kein Ding außerhalb der Ehe, sondern bezieht sich auf deren Wesen wie eine wechselseitige Ergänzung […] hauptsächlich auf physischer und psychischer Geschlechtsebene. Es kann nicht als ein Zweck der Ehe dargestellt werden. Es wäre ein finis operantis, aber kein [finis] operis.“127 Mit Verweis auf Thomas von Aquin hielt er es für „philosophisch absurd, einem Seienden mehr als einen wesentlichen und hauptsächlichen Zweck zuzuweisen“128, jedoch fines operantis könne es mehrere geben.129 Die Hinordnung auf das Gattenwohl sei demnach zu streichen. Gleichzeitig wurde von Kardinal Giuseppe Siri die Wiedereinführung der Zweckhierarchie aus c. 1013 CIC/1917 gefordert und von Erzbischof Luis E. Henríquez Jiménez kritisiert, dass der Terminus communio in § 1 unklar sei.130

Auf diese Grundsatzkritik wurde geantwortet, dass wegen des Beschlusses der Congregatio Plenaria, eine Beschreibung der Ehe einzuführen, diese Beschreibung nicht gestrichen werden könnte. Gleiches würde für den adspectus personalis gelten. Die ordinatio ad bonum coniugum sollte im Canon erhalten bleiben, weil „[d]ie Hinordnung auf das Gattenwohl wirklich ein wesentliches Element des Ehebundes ist und keinesfalls ein subjektiver Zweck eines Nupturienten.“131 Zur Frage nach der Zweckhierarchie wurde darauf verwiesen, dass in GS 48 auf die Festlegung einer Rangfolge der Güter und Zwecke der Ehe verzichtet worden war.132 Das Attribut totius sei synonym zum in den Digesten verwendeten omnis133 und daher auch nicht zu streichen.134 Weil communio im Schema nicht einheitlich verwendet wurde, wurde der Begriff schließlich durch consortium ersetzt. Weiterhin wurde intima als nicht mehr länger passend betrachtet und getilgt.135 Der resultierende c. 1055 § 1 SchemaNov ist identisch mit der später als c. 1055 § 1 CIC/1983 promulgierten Fassung.136

Die Textgeschichte von c. 1055 § 1 zeigt deutlich, dass der in Gaudium et spes etablierte personale Sinngehalt der Ehe nach der Intention der Redaktoren seinen kodikarischen Niederschlag im bonum coniugum finden sollte. Er steht damit für ein bestimmtes, nämlich ein personales Eheverständnis. Wie der Begriff näherhin formal zu bestimmen und inhaltlich zu füllen ist, wird dadurch aber noch nicht festgelegt, sondern bleibt offen für die Interpretation der Rechtsanwender.

13Vgl. c. 1055 § 1: § 1. „Matrimoniale foedus, quo vir et mulier inter se totius vitae consortium constituunt, indole sua naturali ad bonum coniugum atque ad prolis generationem et educationem ordinatum, a Christo Domino ad sacramenti dignitatem inter baptizatos evectum est. – Der Ehebund, durch den Mann und Frau unter sich die Gemeinschaft des ganzen Lebens begründen, welche durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist, wurde zwischen Getauften von Christus dem Herrn zur Würde eines Sakramentes erhoben.“

 

14Bis zu einer genauen Begriffsbestimmung unter Berücksichtigung des kodikarischen Befundes unten in Kapitel 3 wird zunächst im Anschluss an Hans-Günter Gruber der kanonistisch nicht besetzte Ausdruck „Sinngehalt“ als Oberbegriff für Elternschaft und Paarbeziehung verwendet; vgl. Gruber: Ehe, 110–145.

15Da es erst im Umfeld der Kodifizierung von 1917 zu theologischen und lehramtlichen Zuspitzungen kommt, wird hier ein entsprechend späterer Ausgangspunkt gewählt. Für die vorangehende Zeit sei auf die Übersicht von Enrica Montagna verwiesen; vgl. Montagna: Bonum, 400–429.

16Vgl. Leo XIII.: Arcanum, 395: „Si consideretur quorsum matrimoniorum pertineat divina institutio, id erit evidentissimum, includere in illis voluisse Deum utilitatis et salutis publicae uberrimos fontes. Et sane, praeter quam quod propagationi generis humani prospiciunt, illuc quoque pertinent, ut meliorem vitam coniugum beatioremque efficiant; idque pluribus caussis, nempe mutuo ad necessitates sublevandas adiumento, amore constanti et fideli, communione omnium bonorum, gratia caelesti, quae a sacramento proficiscitur. Eadem vero plurimum possunt ad familiarum salutem […].“

17Vgl. Lüdecke: Ausschluß, 123f.; Montagna: Bonum, 417–419; Mörsdorf: Lehrbuch, 137: „Auf die Gültigkeit des Ehevertrages haben die Nebenzwecke keinen Einfluß […].“ Für den Hinweis auf Thomas von Aquin vgl. STh Suppl. q. 65 art. 1. Zum Verständnis der Ehezwecke im CIC/1917 vgl. Knecht: Handbuch, 37–43; Lüdicke: Ehezwecke, 40–42 sowie unten Kapitel 6.1.1.

18Vgl. Pius XI.: Casti connubii, 561: „Habentur enim tam in ipso matrimonio quam in coniugalis iuris usu etiam secundarii fines, ut sunt mutuum adiutorium mutuusque fovendus amor et concupiscentiae sedatio, quos intendere coniuges minime vetantur, dummodo salva semper sit intrinseca illius actus natura ideoque eius ad primarium finem debita ordinatio.“

19Ebd.: Casti connubii, 548f.: „Haec mutua coniugum interior conformatio, hoc assiduum sese invicem perficiendi studium, verissima quadam ratione, ut docet Catechismus Romanus, etiam primaria matrimonii causa et ratio dici potest, si tamen matrimonium non pressius ut institutum ad prolem rite procreandam educandamque, sed latius ut totius vitae communio, consuetudo, societas accipiatur.“ (Übersetzung B. V.). Die im Text angegebene Stelle aus dem Catechismus Romanus (pars II, cap. VIII, q. 13) zählt zwei causae für die eheliche Verbindung zwischen Mann und Frau auf: 1. die Gemeinschaft (societas) der Eheleute und 2. die Zeugung von Nachkommen. In der folgenden q. 14 wird als dritter Grund die Vermeidung der Sünden der Wollust angeführt. Die eheliche Gemeinschaft als causa prima wird allerdings nicht wie in der Enzyklika im Sinne einer conformatio oder einer gegenseitigen Vollendung der Gatten beschrieben, sondern ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der gegenseitigen Hilfe (mutuum auxilium) in den Widrigkeiten des Lebens und der Schwäche des Alters charakterisiert; vgl. Catechismus Romanus, pars II, cap. VIII, q. 13 : „Prima igitur est haec ipsa diversi sexus naturae instinctu expetita societas, mutui auxilii spe conciliata, ut alter alterius ope adiutus vitae incommoda facilius ferre et senectutis imbecillitatem sustentare queat.“ Papst Pius XI. ging in seiner Interpretation demnach über die ursprüngliche Aussage im Catechismus Romanus hinaus.

20Vgl. Gruber: Ehe, 101f.

21Vgl. Koch: Lehrbuch, 602: „Wenn auch mit vollem Rechte die natürliche Geschlechtsgemeinschaft als Zweck der Ehe bezeichnet wird, um die Begierlichkeit zu dämpfen und durch Kindererzeugung das Geschlecht fortzupflanzen, so ist doch ihr höchster oder Hauptzweck die ungeteilte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau.“ Für weitere Belege vgl. Montagna: Bonum, 415–417.

22Zur Person und zum Werk Herbert Doms vgl. Glombik: Zweieinigeit.

23Vgl. Doms: Sinn, 73f: „Die Kinder sind zunächst die natürliche Frucht des ehelichen Aktes, die gar nicht direkt gewollt werden kann, sie wachsen naturhaft aus dem natürlichen ehelichen Verkehr hervor. Umgekehrt ist aber die eheliche Gemeinschaft und Vollendung der Gatten selbst etwas, was unmittelbar gewollt wird und was sodann viel näher und naturhafter an der Einzelpersönlichkeit und ihrer naturgemäßen Vollendung steht, als jede andere Gemeinschaftsform und -betätigung. […] Selbst wo, wie etwa in einem Erziehungsheim, Menschen ihren Beruf ganz der Erziehung von Kindern widmen, ist die Vollendung der Persönlichkeit durch die Berufshingabe an die Kinder doch eine akzidentelle. Aber in der Ehe vollendet dadurch außerdem ein Gatte den anderen, und dies nicht nur als akzidentelle Rückwirkung, sondern als primären und wesentlichen Inhalt ehelichen Lebens selbst.“

24Ebd., 93.

25Ebd., 94.

26Vgl. ebd., 92–94.

27Vgl. ebd., 79: „Damit ist angesprochen, daß für die rechtliche Sphäre allerdings die Nachkommenschaft mit bester Begründung als der finis primarius der Ehe in einem werthaften Sinne anzusehen ist, weil sie dasjenige Gut der Ehe ist, an dem die Allgemeinheit das stärkste Interesse hat, und weil das Wohl der Allgemeinheit dem Wohle des einzelnen vorgeht. Diese Auffassung steht völlig im Einklang mit can. 1013 § 1 des C.I.C. […]. Unter diesem Gesichtspunkte gesehen, erscheint der can. 1013 § 1 unter allen Umständen als innerlich berechtigt, mag man im übrigen über das metaphysische Verhältnis der Ehezwecke zueinander und zum Wesen der Ehe noch so verschieden denken.“ (Hervorhebung i. O. – sofern nicht anders vermerkt, sind Hervorhebungen stets aus dem Original übernommen.) Vgl. auch Lüdecke: Eheschließung, 142–146.

28Vgl. Muckermann: Sinn, 136.

29Ebd., 104.

30Ebd., 106.

31Vgl. ebd., 107.

32Ebd., 136f.

33Vgl. Lüdecke: Eheschließung, 171f. Für zahlreiche weitere Beispiele und eine ausführliche Darstellung der hier skizzierten Positionen vgl. ebd., 130–171. Vgl. auch Montagna: Bonum, 415–417.421–425.

34Vgl. Pius XII.: Rota-Ansprache 1941, 423.

35Vgl. ebd., 423. Vgl. auch Lüdecke: Eheschließung, 234: „Während der c. 1013 §1 CIC1917/18 die Zweckhierarchie lediglich konstatiert, erfolgt hier erstmals eine lehramtliche Erläuterung des Zuordnungsverhältnisses der Zwecke als eines der ‚Abhängigkeit‘ und der ‚wesentlichen Unterordnung‘ – ein Gedanke, der für die Ehelehre Pius XII. bestimmend bleiben und kennzeichnend sein wird.“

36Vgl. SC Off: Dekret, 103: „De matrimonii finibus eorumque relatione et ordine his postremis annis nonulla typis edita prodierunt, quae vel asserunt finem primarium matrimonii non esse prolis generationem, vel fines secundarios non esse fini primario subordinatos, sed ab eo independentes.“

37Vgl. ebd., 103: „Hisce in elucubrationibus primarius coniugii finis alius ab aliis designatur, ut ex. gr.: coniugum per omnimodam vitae actionisque communionem complementum ac personalis perfectio; coniugum mutuus amor atque unio fovenda ac perficienda per psychicam et somaticam propriae personae traditionem; et huiusmodi alia plura.“

38Vgl. ebd., 103: „Novatus hic cogitandi et loquendi modus natus est ad errores et incertitudines fovendas; quibus avertendis prospicientes Emi ac Revmi Patres huius Supremae Sacrae Congregationis, rebus fidei et morum tutandis praepositi, in consessu plenario feriae IV, die 29 Martii 1944 habito, proposito sibi dubio: «An admitti possit quorundam recentiorum sententia, qui vel negant finem primarium matrimonii esse prolis generationem et educationem, vel docent fines secundarios fini primario non esse essentialiter subordinatos, sed esse aeque principales et independentes»; respondendum decreverunt: Negative.“

39Vgl. Pius XII.: Hebammenansprache, 848f.: „Ora la verità è che il matrimonio, come istituzione naturale, in virtù della volontà del Creatore non ha come fine primario e intimo il perfezionamento personale degli sposi, ma la procreazione e la educazione della nuova vita. Gli altri fini, per quanto anch’essi intesi dalla natura, non si trovano nello stesso grado del primo, e ancor meno gli sono superiori, ma sono ad esso essenzialmente subordinati. […] Precisamente per tagliar corto a tutte le incertezze e le deviazioni, che minacciavano di diffondere errori intorno alla scala dei fini del matrimonio e ai loro reciproci rapporti, redigemmo Noi stessi alcuni anni or sono (10 marzo 1944) una dichiarazione sull’ordine di quei fini, indicando quel che la stessa struttura interna della disposizione naturale rivela, quel che è patrimonio della tradizione cristiana, quel che i Sommi Pontefici hanno ripetutamente insegnato, quel che poi nelle debite forme è stato fissato dal Codice di diritto canonico (can. 1013 § 1). Che anzi poco dopo, per correggere le contrastanti opinioni, la Santa Sede con un pubblico Decreto pronunziò non potersi ammettere la sentenza di alcuni autori recenti, i quali negano che il fine primario del matrimonio sia la procreazione e la educazione della prole, o insegnano che i fini secondari non sono essenzialmente subordinati al fine primario, ma equipollenti e da esso indipendenti.“ Für weitere Belege vgl. Lüdecke: Eheschließung, 232–246.