Kalte Zukunft

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Kapitel 14

Im Kontrollzentrum war es stockdunkel geworden. Alle Lichter einschließlich der Notbeleuchtung waren nach der Systemabschaltung durch den Trojaner II erloschen; nur der schwache stroboskopförmige Lichtkegel von Shadows Taschenlampe erhellte noch die unmittelbare Umgebung.

Alles war nach Plan verlaufen, bis auf die Tatsache, dass er selbst eine Verletzung davongetragen hatte, die nicht beabsichtigt gewesen war. Nun saß auch er fest – was später immerhin jeglichen Verdacht von ihm ablenken würde.

Eine der Stromleitungen im Inneren war geplatzt und hatte einen der Serverschränke zum Wanken gebracht, der unglücklicherweise direkt auf sein Bein gefallen war. Er konnte den glatten Knochenbruch förmlich spüren und ohne fremde Hilfe würde er es nicht unter dem Monstrum hervorschaffen; blieb nur abzuwarten und zu hoffen, dass keine weiteren Leitungen in Mitleidenschaft gezogen wurden, die ihm gefährlich werden könnten.

Während er vor Schmerzen stöhnend am Boden saß, dachte er an seine Heimat. Nicht an die großen und von Abgasen verpesteten Städte Afrikas, in denen er sein Studium absolviert hatte, nein, die Wüste mit all ihrer natürlichen Faszination. Er stammte von den Beduinen ab, die schon seit Jahrtausenden von Ort zu Ort wanderten. Leider hatte er sich von seinem Stamm getrennt, seine Familie zurückgelassen, um die weite Welt außerhalb der Natur zur erkunden. Sein Vater hatte ihm diesen Schritt nie verziehen, und im Nachhinein schämte sich Shadow für seinen Entschluss. Was war nur aus ihm geworden? Anstatt an einer Universität zu lehren, sprengte er welche in die Luft.

Er konnte sich nicht einmal mehr genau daran erinnern, wann er zum ersten Mal mit den Brüdern seiner Organisation in Kontakt gekommen war. Dabei markierte dieser Tag einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben. Seitdem gab es für ihn kein Zurück mehr. Wer einmal dem Ruf des Dschihad folgte, war dazu verdammt, den Weg bis zum bitteren Ende zu gehen. Die Vergangenheit hörte auf zu existieren. Man ließ sein bisheriges Leben hinter sich, und jede Form der Reue, des Bedauern, war eine Todsünde. Allah und nur Allah alleine richtete über die Taten derer, die für ihn in den heiligen Krieg zogen. Shadow konnte sich dem nicht entziehen. Der Einfluss seiner Brüder reichte zu weit. Selbst wenn er sich dazu entschließen würde, den Schwur, den er vor genau acht Jahren in den Tiefen der pakistanischen Höhlen geleistet hatte, zu brechen, würden sie ihn jagen und zur Strecke bringen. Überall auf der Welt. Viele Male hatte er an diesem Punkt gestanden, die Zweifel in ihm die Oberhand gewinnen lassen, doch jedes Mal hatte schlussendlich sein Überlebenswille gesiegt. Er dachte daran, wie viel Macht und Einfluss die Terrororganisationen über die Jahre gewonnen hatten. Spätestens seit Nine-Eleven formierten sich die einzelnen Terrorzellen zu einem gigantischen weltweiten Netzwerk, dessen Ausmaße man erst begriff, wenn man sich mittendrin befand. Jede der scheinbar selbständigen Organisationen war mit den anderen auf eine verstrickte Weise verbunden. Die Unterschiede waren marginal. Das gemeinsame Ziel, entstanden aus dem fanatischen Dunst aus Glaubenskriegen, politischen Anschlägen und Wirtschaftssabotagen stand nun im Vordergrund – der Terror um des Terrors selbst willen, um jeden Preis.

Der ursprüngliche Gedanke jeglichen Terrors war die unwillkürliche Verbreitung von Angst und Panik durch angedrohte oder ausgeführte Gewalt. Alle Terroristen, ob Dschihadisten, extreme politische Opportunisten oder Guerillakämpfer trachteten in ihrem Handeln letztendlich doch nur nach einem: den Schrecken und die Verzweiflung in den Augen ihrer Opfer zu erkennen; daran weideten sie sich, dafür lebten sie.

Überdies traten sie aber auch für ihre Dogmen ein, wie auch Shadow für seine Überzeugungen eingetreten war. Das war es, was er bewundert hatte: diesen Tatendrang, etwas verändern zu wollen, auch wenn es mit den falschen Mitteln geschah. Das Gros der Bevölkerung verschiedenster Länder akzeptierte vorbehaltlos die vorgefertigten, von oben diktierten Meinungen. Es war richtig, sich dagegen zu erheben! Aber nicht mit Hilfe des Terrors, das hatte er inzwischen erkennen müssen.

Ein leises Poltern im Hintergrund ließ seine Gedanken pausieren. Langsam drehte er sich, so weit es sein gebrochenes Bein zuließ, herum, und spähte angestrengt in die Dunkelheit. War es den Rettungstrupps mittlerweile gelungen, durchzubrechen? Seine Hand schloss sich fester um die Taschenlampe. Ein Anflug von Angst streifte seinen Geist – unwillkürliche, instinktive Angst, die keine konkrete Ursache hatte. Mehr ein böse Vorahnung.

Er ließ den Lichtkegel der kleinen Led-Lampe kreisen, erst nach rechts dann nach links. Gerade als er zurückschwenken wollte, sah er etwas, das sich in der Dunkelheit bewegte: ein Schemen, der sich nur schwach vom Hintergrund abhob. Der Lichtkegel schnellte auf den Schemen zu, doch bevor er ihn erwischte, verschwand dieser hinter einem Büroschrank.

Shadows Herz begann schlagartig so laut zu pochen, dass er glaubte, es würde jeden Moment aus ihm herausspringen. Wer außer ihm hielt sich noch in dem Komplex auf? Die Techniker waren allesamt im Außeneinsatz und Heckler leitete mit Meinhard die Führung. War einer der Techniker früher zurückgekehrt und versuchte nun, die Verbindung zum Hotel wieder zu öffnen? Doch wieso reagierte die Person nicht auf das Licht? Sie musste es unweigerlich bemerkt haben. Oder hatte er sich den Schemen nur eingebildet?

Die nächste Möglichkeit war die beunruhigendste: Der oder die Unbekannte wollte nicht gesehen werden.

Jahrelange Undercover-Missionen hatten Shadows Überlebensinstinkte geschult, und er spürte: Wer oder was auch immer sich zusammen mit ihm hier im Raum aufhielt, war eine potenzielle Bedrohung. Fieberhaft suchte er seine Umgebung nach einem Gegenstand ab, den er notfalls zur Verteidigung benutzten könnte, entdeckte jedoch nichts außer einem Stapel Papier, der ihm höchstens weiterhalf, wenn er sein Testament hätte schreiben wollen.

Eine gespenstische Stille, die nur durch das Zischen beschädigter Stromleitungen und dem gedämpften Tosen aus der Wüste unterbrochen wurde, senkte sich über das Kontrollzentrum. Es polterte und krachte erneut, so als würde gerade ein Wandregal mitsamt Schrauben und Dübeln aus dem Mörtel gerissen. Shadow spitzte die Ohren und vernahm Schritte, leise und schlurfend. Die Taschenlampe fiel ihm vor Aufregung aus den Händen, schepperte geräuschvoll beim Aufprall und blieb irgendwo im Dunkeln liegen. Shadows Herz krampfte sich erneut zusammen. Ein länglicher Schatten, unverkennbar der eines Menschen, ragte vor ihm auf.

»Name und Dienstnummer!«, forderte eine relativ junge, aber dennoch schockierend harte Stimme.

»Brian Goldwer, 1876«, log Shadow, obwohl ihm eigentlich klar war, dass die fremde Person nicht dem Unternehmen angehörte. Sie war seinetwegen hier – und nur seinetwegen! Seine einzige Chance bestand darin, Zeit zu schinden.

»Können Sie mir aufhelfen, mein Bein ist eingeklemmt? Und was ist überhaupt passiert?«, erkundigte er sich so beiläufig wie möglich, doch es gelang ihm nicht, die Furcht gänzlich aus seiner Stimme zu vertreiben.

»Was passiert ist? Das dürften Sie doch wohl am besten wissen! Oder haben Sie nur versehentlich Trojaner ins Netzwerk eingeschleust und die Sicherungen der Sammelstellen ausgetauscht?«

Das Englisch klang grauenhaft, möglicherweise ein deutscher Akzent. Der Fremde war offenbar bestens informiert und wusste um seine wahre Identität. Shadow spürte, wie die Wahrscheinlichkeit zu überleben mit jeder Sekunde drastisch sank. Doch weshalb war der Fremde hier? Shadows Auftraggeber hätten niemals einen zweiten Agenten ins Rennen geschickt. Oder wussten sie von …

Nein, unmöglich! Sie konnten nichts davon erfahren haben, konnten den Diebstahl nicht bemerkt haben. Nicht jetzt schon!

»Keine Angst. Sie werden nicht auffliegen, das verspreche ich Ihnen.« Das Versprechen des Fremden war zu schön, um wahr zu sein – es war eine Lüge.

Shadow nahm all seinen Mut zusammen und stellte die Frage, die ihn am stärksten beschäftigte. »Wer sind Sie und warum sind Sie hier?« In seinen eigenen Ohren klang es so banal und zugleich doch so bedeutend.

»Wer ich bin, ist irrelevant! Warum ich hier bin? Wie Ihnen sicherlich bekannt sein dürfte, bestehen unsere Auftraggeber auf Diskretion. Äußerste Diskretion. Sie haben stets gute Arbeit geleistet, das wurde nicht vergessen, jedoch mussten meine Vorgesetzten leider eine Diskrepanz in der – sagen wir: Buchführung – feststellen. Das Stehlen beziehungsweise unerlaubte Kopieren vertraulicher Daten werten wir als illoyalen Akt. Es handelt sich hierbei schließlich nicht um ein Kavaliersdelikt. Nein, wirklich nicht.« Der Unbekannte ging leise vor Shadow auf und ab. Seine Stimme hatte nun etwas Süffisantes, Bedrohliches angenommen. »Über einen gestohlenen Keks könnten wir wohl noch hinwegsehen«, fuhr er fort, »doch in Ihrem Fall bedarf es einer entsprechenden Disziplinarmaßnahme. Ich habe entschieden, die Bestrafung hier und jetzt durchführen.«

Shadow wollte den Mund aufreißen, schreien, doch eine ungewöhnlich kräftige Hand schloss sich um seinen Kiefer und drückte so lange zu, bis sein Widerstand erlahmte. Die Hand hinderte ihn nicht nur am Schreien, sondern nahm ihm auch die Luft zum Atmen. Verzweifelt krümmte er sich vor Schmerz zusammen. Was das das Aus?

Eine schallende Ohrfeige befreite ihn aus seinem Krampf. »Nicht einschlafen! Noch nicht!«

Der Fremde verschwand wieder in der Dunkelheit, und Shadow vernahm erneut die Laute, die sich wie ein stürzendes Wandregal anhörten. Doch da war noch ein weiteres Geräusch, ein Knistern, das ihm nur allzu vertraut war. Während seiner Zeit an der Universität hatte er es nur allzu oft während seiner Experimente im Physiklabor vernommen. Dieses Knistern konnte nur durch elektrischen Strom hervorgerufen werden. Eine grauenhafte Vorahnung beschlich ihn. Das Knistern kam unaufhaltbar näher. Mit all seiner Kraft versuchte er, das gebrochene Bein unter dem Serverschrank hervorzuwuchten, doch es war aussichtslos.

 

Sich in sein Schicksal ergebend, schloss er die Augen und wurde mit einem letzten, wundervollen Bild belohnt, das seinen gesamten Geist auszufüllen schien. Mit der endlosen, unbeschreiblich schönen Wüste und seiner Familie vor Augen empfing er, was am Ende eines jeden Lebens stand: den Tod.

Der Starkstrom fraß sich in Nanosekundenschnelle bis hinauf in sein Gehirn und ließ sämtliche Gedanken explodieren. Seine letzten Sekunden waren erfüllender als alles, was er je zuvor gefühlt hatte.

Kapitel 15

Irrte er sich oder hatte er tatsächlich einen Schrei gehört? Shane atmete die schal schmeckende, aber gefilterte Luft durch das breite Mundstück tief ein und aus, bis sich sein Puls wieder normalisierte.

Zwar hatte er in seinem Leben viel erlebt, doch war er gerade dadurch vorsichtiger, ja sogar ängstlicher geworden. Seine Selbstsicherheit war ungebrochen, doch er ertappte sich des Öfteren dabei, wie er noch einmal alle Schlösser und Fenster vor dem Zubettgehen überprüfte. Kein Kontrollzwang, aber ein Zeichen, dass sich in seinem Leben etwas verändert hatte.

Als Jugendlicher hatte er sich unerlaubt Horror-Filme aus der Videothek ausgeliehen und am Wochenende, wenn die Eltern verreist waren, angeschaut. Mit zunehmendem Alter hatte er sich jedoch von solchen Filmen distanziert. Nicht, weil es ihn nicht weiter gereizt hätte, er liebte den Nervenkitzel, aber Erlebnisse in seinem Leben hatten dazu geführt, dass er die Dunkelheit und alles was damit zusammenhing, fürchtete. Erlebnisse, die tief verborgen in den hintersten Ecken seiner Erinnerung ihr Dasein fristeten, nun jedoch wieder an die Oberfläche zu gelangen drohten. Er begann daran zu zweifeln, ob es eine gute Idee gewesen war, vor Fritzsch den Helden markieren zu müssen.

Soeben ließen sie den langen und mit dichtem Rauch gefüllten Glastunnel hinter sich, stiegen eine Treppe hinab und postierten sich links und rechts der Zugangstür zum Kontrollzentrum. Fritzsch tastete vorsichtig die Oberfläche der Stahltür ab, um herauszufinden, wie heiß es auf der anderen Seite war. Der Rauch kam jedoch nicht aus der Schiebetür; die Quelle lag außerhalb des Gebäudes, von wo aus er durch eine undichte Stelle eindrang. Glücklicherweise sprangen just in diesem Moment die Kühl- und Luftfilteraggregate wieder an und begannen, die dichten Schwaden einzusaugen und abzuleiten.

»Ich denke, wir können es riskieren«, konstatierte Fritzsch. »Keine Hitze.«

Flink setzte er den Rucksack mit den Ausrüstungsgegenständen ab und holte eine kurze Brechstange zum Vorschein, die er gekonnt im Türspalt ansetzte. Gemeinsam wuchteten sie die schweren Stahlplatten auseinander.

Als ob es kein leichteres Material gibt!, dachte Shane säuerlich.

Als der Spalt breit genug war, quetschte sich Fritzsch dazwischen und stemmte die Platten endgültig auseinander. Augenblicklich wurde es wieder still – eine unangenehme, drückende Stille. Im Kontrollzentrum herrschte totale Finsternis. Shane hörte zwar das Knistern Funken schlagender Leitungen, eine Lichtquelle war jedoch nirgends auszumachen.

»Sie sind nicht hier«, flüsterte er, während er Fritzsch durch die Öffnung folgte.

Der Sicherheitschef ließ den Kegel seiner Taschenlampe über die Szenerie huschen. Es sah wüst aus, wie sich die Computer und Schaltpulte übereinander stapelten. Etliche Serverschränke waren, ausschließlich durch die Gewalt der Elektrizität, umgestürzt und blockierten nun den Weg. Ansonsten schien die Situation unter Kontrolle: keine Brände oder Gefahr durch einstürzende Träger. Shane räumte einige Trümmerteile beiseite, um eine Nische freizulegen. Sie mussten nach Überlebenden suchen.

»Oh, mein Gott!« Fritzsch stand einige Meter weit von Shane entfernt und beugte sich über etwas, das am Boden lag.

Shane eilte zu ihm – und stoppte jäh. Vor ihnen lag ein verrenkter, größtenteils verschmorter Leichnam. Fritzschs Taschenlampe tauchte die grausige Szenerie zudem in ein kaltes, unnatürliches Licht. Der bläuliche Schein der LED-Lampe ließ die Person, bei der es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Mann gehandelt hatte, wie einen halbverwesten Zombie aus einem alten Gruselschocker aussehen.

Unwillkürlich stieg Übelkeit in Shane auf. Leichen waren für ihn kein unbekannter Anblick, nicht viele waren jedoch auf diese Weise verunstaltet gewesen. Instinktiv riss er sich die Atemmaske herunter, trat einen Schritt und sog gierig die relativ frische Luft ein, um nicht zu hyperventilieren.

»Ich werde … zusehen, dass ich die Seitentüren geöffnet kriege«, sagte Fritzsch gedrückt, überreichte Shane die Taschenlampe und stolperte davon.

Der Schock saß auch ihm tief in den Gliedern, was seine zitternden Händen nur allzu deutlich verrieten.

Shane blieb alleine mit den verkohlten Überresten zurück. Die Zeit schien stehen zu bleiben, dehnte sich ins Endlose: Alles wirkte so surreal und unheimlich wie auf einem Gemälde Dalis.

Obschon ihn der Ekel würgen ließ und er sich am liebsten übergeben hätte, ging Shane in die Hocke, um die Leiche genauer zu untersuchen. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, er konnte nur noch nicht genau sagen was. Er versuchte sich alle Details einzuprägen: Die Spuren an der Leiche, die Umgebung … Das Stromkabel, das den Mann getötet haben musste, pendelte noch immer hinter ihm in der Luft. Es schien, als hätte eine gewaltige Macht die Leitung aus der Wand gerissen. Der Techniker – das schloss Shane aus dem Overall – hatte sich nicht in Sicherheit bringen können, da sein Bein unter einem Serverschrank eingeklemmt war. Ein furchtbares Ende, dem herannahenden Tod so gnadenlos ausgeliefert zu sein.

Ein dumpfes Geräusch ließ Shane aufhorchen. Es klang, als hätte jemand ein Notizbuch oder eine Zigarettenschachtel fallengelassen. Er stand auf und ging langsam in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Suchend tastete sich der Lichtkegel seiner Taschenlampe durch den Raum. Nichts! Nichts Ungewöhnliches, soweit er das beurteilen konnte.

Wo zum Teufel blieb Fritzsch? Die Türen müssten längst geöffnet sein!

Shane wollte einfach nicht verstehen, weshalb das Unternehmen nicht auf eine derartige Situation besser vorbereitet war. Vermutlich gab es nicht einmal ausgebildetes Lösch- und Rettungspersonal. Bei der Planung war ein Unfallszenario dieser Größenordnung anscheinend gar nicht berücksichtigt worden. Mindestens eine Person war jedoch bereits an den Folgen dieses Fehlers gestorben. Eine zu viel!

Shane blieb keine Zeit, seine in Gedanken formulierte Kritik zu Ende zu bringen. Vor ihm tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein Schemen auf. Für einen kurzen Moment glaubte er, Fritzsch sei zurückgekehrt, doch die Person, die sich ihm unauffällig von der Seite genähert hatte, war klein und gedrungen. Ein warmer Luftzug eilte ihr voraus, und in letzter Sekunde duckte sich Shane unter dem heranrasenden Schlag hinweg

Seine Instinkte und die automatisierten Formen jahrelangen Kampfsporttrainings hatten ihn vor einem K.O.-Schlag bewahrt. Der Angreifer, durch die Schwungkraft des eigenen, trefferlosen Schlags ins Wanken geraten, taumelte auf Shane zu, der augenblicklich reagierte und ihn mit aller Kraft von sich stieß. Vor Wut brüllend schlug der Unbekannte auf dem harten Betonboden auf, rappelte sich jedoch mindestens genauso schnell wieder auf und stürzte sich erneut auf Shane. Nur diesmal war er vorbereitet, seine Attacken kamen jetzt schnell und gezielt.

Shane glitt die Taschenlampe aus den schweißnassen Händen. Sie zerschellte am Boden, und augenblicklich wurde das Kontrollzentrum in fast undurchdringliche Schwärze getaucht. Zwar konnte man noch Umrisse erkennen, doch viel mehr auch nicht. Der Angreifer umkreiste Shane in weiten Bahnen, versuchte sich an die Dunkelheit anzupassen, indem er absichtlich Gegenstände in eine andere Richtung warf und dann vorpreschte. Doch jedes einzelne Mal gelang es Shane, die Angriffe abzuwehren, die zusehends verzweifelter wurden. Er wartete, bis die Faust des Unbekannten ein weiteres Mal vorschnellte, packte ihn geschickt am Unterarm und rammte ihm sein Knie in die gefühlte Magengegend. Stöhnend krümmte sich der Angreifer zusammen. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Doch anstatt mit einem Tritt nachzusetzen, ließ Shane von ihm ab.

Was, wenn das Ganze nur ein Missverständnis war? So dunkel, wie es war, konnte er nicht einmal erkennen, auf wen er da einschlug. Dieser Augenblick der Unachtsamkeit wurde Shane jedoch zum Verhängnis. Blitzschnell richtete sich der Unbekannte auf, holte aus und versetzte ihm einen Schlag gegen die rechte Schläfe.

Es war wohl kein Missverständnis, brachte Shanes Verstand gerade noch hervor, bevor er zusammensackte und in ein Bad aus Schwindel und Desorientierung abtauchte.

Kapitel 16

Die Welt verschwamm vor Shanes Augen. Wie ein großer, milchiger Haufen lag sie vor ihm – besser gesagt: über ihm. Er nahm undeutlich wahr, wie sich der Fremde zu ihm herabbeugte; zwischen der trüben Masse, die sein Körper sein musste, blitzte etwas auf. Etwas Goldenes, klein, aber doch von Bedeutung. Ja, es war eine Goldkrone, da war sich Shane sicher.

Wie in einem Déjà-vu zog ein bereits durchlebtes Ereignis an ihm vorbei. Es war noch gar nicht so lange her …

Die Goldkrone in seiner verwaschenen Erinnerung gehörte dem jungen arroganten Assistenten von David Meier. Viele Menschen trugen solche Goldkronen, doch sein sechster Sinn beharrte auf dem jungen Mann. Wie war doch gleich sein Name? Dirk Wagner? Jedenfalls beugte sich Wagner, so er es denn war, in diesem Augenblick über ihn und streckte die Hand nach ihm aus, und das ganz bestimmt nicht, um ihm aufzuhelfen.

Shane mobilisierte noch einmal all seine Kräfte und rollte sich schwungvoll zur Seite, wobei er aus Versehen, aber doch wirkungsvoll Wagners Knie erwischte. Allmählich ließ auch der Schwindel nach; der Schlag hatte nicht ausgereicht, um ihn für längere Zeit bewusstlos zu halten. Zu seiner Überraschung ergriff Wagner die Flucht – völlig unerwartet, denn Shane kannte ja nun die Identität seines Angreifers. Der Mann war entlarvt und konnte nirgendwo hin.

Shanes Gehirnzellen begannen zu arbeiten. Hinter dem Ganzen steckte mehr als nur ein einfacher Brand, mehr noch als ein Sabotageakt. Was war Wagners Rolle in diesem abgekarteten Spiel?

Fritzsch zufolge hatte es bereits lange Zeit vor der Ankunft des Assistenten Probleme in der Anlage gegeben. Wagner schied für die Sabotage also aus. Doch aus welchem Grund war er sonst hier? War Meier ebenfalls involviert oder handelte Wagner auf eigene Faust? Shane würde es herausfinden, koste es, was es wolle!

Er kam sich vor wie in einem Spionageroman, nur dass er mittendrin war, statt gut behütet hinter den Seiten. Trotz des überwältigenden Schwindelgefühls und des Pochens hinter seiner Schläfe rappelte er sich auf. Er steckte zu tief in dem Ganzen mit drin, als dass er es sich jetzt noch hätte erlauben können, aufzugeben. Nicht nachdem ihm dieses Arschloch von Wagner fast das Licht ausgeknipst hätte. Die Situation hatte jetzt etwas Persönliches, und Shane lachte grimmig, als er auf den Ausgang des Kontrollzentrums zu stolperte. Meier hatte seine Drohung von gestern wahrgemacht und ihm seinen Assistenten auf den Hals gehetzt. Zu Schade, dass er nicht hatte zu Ende bringen können, womit er begonnen hatte. Schade für Meier! Shane schwor sich, ihm die Eingeweide rauszureißen, wenn er die nächsten Minuten überlebte. Hustend trat er auf den Gang vor dem Kontrollzentrum hinaus.

In welche Richtung war Wagner gelaufen? Den Glastunnel zurück zum Hotel konnte er schwerlich genommen haben. Welche Möglichkeiten gab es noch? Nur die Büroräume! Alle anderen Wege führten unweigerlich nach draußen, wo noch immer Brände wüteten.

Wagner hatte etwas gesucht – oder jemanden? Shane blickte flüchtig zu dem verkohlten Leichnam. War Wagner für den Tod des Technikers verantwortlich? Die Stelle, an der das Starkstromkabel beim Opfer angesetzt worden war, wirkte sehr punktuell, was darauf hindeutete, dass es absichtlich am Nacken, dort wo der Hirnstamm saß, angesetzt worden war. Indes nur eine Vermutung, die womöglich niemals bewiesen werden würde.

Mit noch immer pochenden Schläfen nahm Shane die Verfolgung auf: raus aus dem Kontrollzentrum, die Treppe hoch und nach rechts. In der Eile und durch den unerwarteten Zweikampf hatte er Fritzsch völlig vergessen, jetzt kam ihm der Sicherheitschef wieder in den Sinn. Ob Fritzsch etwas zugestoßen war? Wagner war schließlich alles zuzutrauen.

 

Shane fand sich in einem steril anmutenden und verlassenen Flur wieder, der durch einfallendes Sonnenlicht erhellt wurde. Mehrere eingefärbte Dachfenster befanden sich direkt über ihm. Die neue Umgebung bot einen starken Kontrast zum undurchdringlichen Halbdunkel des Kontrollzentrums.

Augenblicklich fühlte sich Shane wohler, selbstsicherer.

Alle Türen waren verschlossen, bis auf eine. Shane hatte das dumpfe Gefühl, dass das, wonach Wagner so dringend zu suchen schien, dahinter verborgen lag.

Der Rauch war weitestgehend durch die Filteraggregate entfernt worden, doch die Luft roch noch immer bitter und brannte in der Nase. Allzu lange durfte man sich auch dieser geringen Schadstoffkonzentration nicht aussetzen.

An jeder der Türen war ein kleines in Plastikschild mit dem Namen und der Position des Mitarbeiters, der den jeweiligen Raum bewohnte, angebracht. Auf der rechten Seite lagen ausnahmslos Wohnquartiere, bestimmt auch das des toten Technikers. Shane verlangsamte seinen Schritt, um den Rest der Strecke lautlos zurückzulegen. An die Wand gepresst tastete er sich langsam vor.

Auf einem der Schilder stand: Yusuf Bagdshira, Techniker. Die Tür war nur angelehnt.

Shanes Puls stieg rasant in die Höhe. Falls sich Wagner in dem Quartier aufhielt, lief er unter Umständen direkt in eine Falle.

Aber er war nicht so weit gekommen, um jetzt einen Rückzieher zu machen.

Ohne einen weiteren Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, stürmte Shane in das Quartier – doch statt Wagner beim Durchsuchen zu überraschen, blickte er nur in ein leeres, wenn auch chaotisches Zimmer. Bücher waren aus den Regalen gerissen worden, Speicherdiscs lagen hüllenlos auf dem Boden und auch das restliche Mobiliar war offensichtlich auf den Kopf gestellt worden. Wagner war zweifelsohne hier gewesen und höchstwahrscheinlich hatte er auch gefunden, wonach er gesucht hatte.

Wie hatte er nur geschafft, alles innerhalb weniger Minuten so gründlich zu durchforsten? Gedankenverloren hob Shane eine der zwei Zoll großen und grünlich schimmernden Discs auf, die in diesem Fall wohl, wie der Titel verriet, Lehrmaterial einer Universität enthielt. Dabei trat er versehentlich auf eine weitere Disc, die aber glücklicherweise weder zersprang noch sonstige Beschädigungen aufwies. Die Discs, die unter der Bezeichnung ›Laser Data‹ auf den Markt gekommen waren, hatten mittlerweile sämtliche Speichermedien, die es vorher gegeben hatte, abgelöst. Im Vergleich mit älteren USB-Sticks oder der guten alten DVD bestachen sie vor allem durch ihre fast absolute Robustheit. Weder Wasser, Hitze, Kälte, noch Stöße oder sogar schwere Belastungen wie Shanes Fußtritt konnten einer solchen Disc etwas anhaben. Vor allem deswegen hatte sie sich auf dem Markt durchgesetzt und nicht, wie einstmals vermutet, die schmalen Sticks.

Shane drehte sich um, bereit, den Raum wieder zu verlassen - doch neben der Tür, in einem toten Winkel, stand lässig angelehnt Dirk Wagner. In seiner rechten Hand hielt er einen futuristisch anmutenden Gegenstand, sehr wahrscheinlich eine Waffe. Sie war aus mehreren Stücken verschiedener Materialien zusammengesetzt und überaus eindrucksvoll. Ihr Lauf deutete direkt auf Shanes Brust.

»Ich hoffe, Ihre Neugier ist nun befriedigt. Ein Mann wie Sie stirbt doch sicherlich nicht gerne mit dem Gefühl, das Wichtigste verpasst zu haben«

Shane war zu geschockt, um auf Wagners Drohungen zu reagieren. Er hatte sich tatsächlich in Sicherheit gewägt, nicht damit gerechnet, dass ihn Wagner die ganze Zeit aus einem Schlupfwinkel beobachtete. Der Deutsche war in seine Muttersprache verfallen.

»Im Kontrollzentrum habe ich Sie verschont, Sie waren keine wirkliche Bedrohung für meinen Auftrag. Aber ich kann nicht zulassen, dass Sie mich mit Bagdshira in Verbindung bringen! Sie können mir glauben, das Ganze bereitet mir keine Freude. Ich werde Sie nicht unnötig leiden lassen. Jetzt drehen Sie sich um!«

Wagner fuchtelte mit der improvisierten Kanone Marke Eigenbau herum und bedeutete Shane, sich auf das Bett zu setzen, das mit einer hellen Tagesdecke bespannt war. Der Assistent trug eine dunkle Hose aus dünnem Leinenstoff sowie eine dazu passende Strickjacke, aus deren Bauchtasche etwas hervorblitzte – eine Laser Data Disc. Danach hatte Wagner also gesucht, nach einer Disc, die mit ziemlicher Sicherheit brisante Daten enthielt. Doch welche Rolle spielte Yusuf Bagdshira dabei?

»Da sitzen bleiben«, sagte Wagner, während er mit der freien Hand etwas in sein Smartphone tippte. Endlose Sekunden vergingen, in denen Shane seine Chancen, lebend aus der Situation herauszukommen, drastisch schwinden sah. Wagner steckte sein Smartphone in die Hemdtasche und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. »Kommen Sie, wir machen einen kleinen Spaziergang!«

Shane tat wie ihm geheißen. So wie die Dinge lagen, bestand für ihn nicht die geringste Chance, den vermeintlichen Auftragsmörder zu überwältigen. Wagner verstand offenbar sein Handwerk und hielt konstant einen Abstand von mindestens zwei Metern; eine Distanz, die bei Weitem nicht ausreichte, um sich schnell herumzudrehen und seinen Gegner zu entwaffnen. Diese Machtlosigkeit war das Schlimmste an der ganzen Situation: dem Gegner schutzlos ausgeliefert zu sein, den eigenen Tod vorausahnend.

Als sie die nach unten führende Treppe erreichten, spürte Shane unterbewusst die Anwesenheit einer weiteren Person. Ob sich Fritzsch wieder erholt hatte? Wagner schien davon nichts mitzubekommen, immer wieder warf er hektische Blicke auf sein Smartphone. Was ihm kurz darauf zum Verhängnis werden sollte! Als sie die Hälfte der Treppe hinter sich gelassen hatten, geschah es. Wagner wurde nach vorne gestoßen, überschlug sich und stürzte an Shane vorbei die Treppe hinunter, wobei er gequält aufschrie.

Shane wirbelte herum. Oben, am Treppenabsatz, stand der junge Sicherheitsbeamte, der ihnen vorhin die Schutzausrüstung gebracht hatte. Lässig schwenkte er eine schwere Taschenlampe, die er Wagner von hinten über den Kopf gezogen hatte. Shane, der sich bereits mit seinem Schicksal abgefunden hatte, atmete erleichtert auf.

Williams grinste ihm stolz zu, merkte jedoch nicht, dass sich Wagner noch regte. Shane sah es kommen, schrie warnend auf, doch Williams war zu langsam. Stöhnend hob Wagner seine Waffe und schoss! Dann sackte er wieder in sich zusammen.

Der Schuss klang kreischend, so wie ein Luftpfeifer in der Silvesternacht, nicht zu vergleichen mit einem Schuss aus einer herkömmlichen Pistole. Das Projektil traf Williams in die Brust und fegte ihn von den Beinen.

Shane eilte zu ihm, riss mit einer einzigen Bewegung seinen Overall entzwei und presste ihn auf die Wunde, doch das Blut quoll erbarmungslos darunter hervor. Die Brust des jungen Mannes und das provisorische Verbandszeug färbten sich dunkelrot. Aus den Mundwinkeln liefen ebenfalls kleine rote Rinnsale. Für Williams kam jede Hilfe zu spät. Sein Körper zuckte noch einige Male, dann wurde er ruhig, unnatürlich ruhig.

Shane konnte seine Tränen nicht zurückhalten, der Schock setzte augenblicklich ein. Hysterisch versuchte er, einen nicht existenten Puls zu fühlen, einen nicht existenten Atem zu spüren, doch da war nichts außer dem tiefen Brummen der Aggregate.