Göttergold

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Zweites Buch
Schwarzmoos

Nalumbin lag noch schlafend neben der Glut des Feuers, als Ardevi die Höhle über die Leiter verließ. Der nächtliche Regen hatte aufgehört. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich durch das Gezweig der Bäume. Der Wald war erfüllt vom Gesang der Vögel. Ein frischer Morgenwind hauchte Ardevi entgegen. Auf dem Rücken trug er einen Korb, beladen mit Arzneien in versiegelten Tongefäßen: Kräuterpulver, Steinabrieb, Tinkturen, Öle und Salben. Mit dabei waren auch kleine mit Bast verschnürte Schachteln und Röllchen aus Rinde und Schilf, die getrocknete Beeren, Pilze und Moose enthielten. Lagen von Stroh und Laub schützten den Korbinhalt gegen Stöße.

Durch grünes Dickicht wand sich der Pfad am Fluss entlang. Stellenweise verschwand er ganz im Gehölz. Dann hieb Ardevi mit einem sichelförmigen Messer den Weg frei. In Gedanken bat er die Baumfeen, die Störung zu verzeihen. Steil bergan führte der Weg auf eine karge Hochebene. Sie war übersät von hellen Steinen, geformt und ausgebleicht von Wind und Wetter. Sommerblumen wucherten zwischen ihnen.

Ardevis Ziel war die Siedlung der Firan. Über ihr spannte sich ein blassblauer Himmel, der die Landschaft in weiche Farben tauchte. Zwischen schlanken Wacholderbüschen weideten Schafe. Auf den Äckern, welche die Siedlung umgaben, hatte das Unwetter des gestrigen Tages seine Spuren hinterlassen.

Ein großer Teil des ohnehin dünn stehenden Korns lag vom Sturm niedergeworfen am Boden. Die Bauern gaben sich Mühe, die Ähren wieder aufzurichten. Kinder zupften Beeren von den Hecken, die die Äcker voneinander trennten. Von weitem schon wurde Ardevi an seinem rostroten Gewand erkannt, und so hoben sich auch schon die Hände zum Gruß.

Das Dorf der Firan zählte zu den größten auf der weiten Hochfläche. Es bestand aus gut zwei Dutzend Hauptgebäuden von unterschiedlicher Größe, die einen mit breiter Vorderfront, an denen starke Firstbäume die Hauptlast des Daches trugen; die anderen schmal und lang, zweischiffig. Hinzu kamen die Nebengebäude: Vorrats- und Arbeitshütten und Stallungen. Inmitten dieser Hofgemeinschaft befand sich der Dorfplatz, auf den nun Ardevi zuschritt. Eiligst verbreitete sich die Kunde von seiner Ankunft. Die Hunde hatten ihn schon längst gewittert und angeschlagen.

Die Frauen und Mädchen, die unter der Dorflinde saßen und Schafwolle kardeten und sponnen, schauten ihm erwartungsvoll entgegen. Was mochte da alles in seinem großen Korb stecken? Die Männer, die vor einem baufälligen Haus Holzstämme mit Säge, Beil, Spaltkeil und Meißel bearbeiteten, ließen die Arbeit ruhen und kamen herbei. Retir, der Sippenführer, war aus seiner Tür getreten und begrüßte Ardevi.

„Sei willkommen, Ardevi! Was hast du uns diesmal mitgebracht?“

„Die Stimme des Feuers, die Stimme des Wassers, die Stimme der Luft, die Stimme der Erde“, antwortete Ardevi, indem er den Korb absetzte.

„Was könnt ihr diesmal zum Tausch bieten?“

„Das Schaf ist geschlachtet, die Wolle gesponnen, das Tuch gewebt, der Trunk gebraut!“

„Das lässt sich hören!“, sagte Ardevi.

Retirs Frau reichte dem Gast den Becher und schenkte ein. Der erste Schluck des Gärgetränks war für Ardevi bestimmt. Nun kreiste der Becher unter den Männern. Ardevi stellte Fragen zu anstehenden Bauarbeiten, zu Handwerk und Handel. Es entspann sich ein lebhafter Gedankenaustausch.

Die große Rede aber galt letztendlich der Sorge um die Ernte, die auch in diesem Jahr wieder mager ausfallen würde. Ardevi entnahm seinem Korb eine Schachtel aus Birkenrinde, versehen mit einem hell schimmernden Deckel aus dem Holz des Holders. Ritzzeichen befanden sich darauf: Zacken und Kreise.

„Nehmt dies und vergrabt es in eurem Land. Es soll im Reich der Erde einen neuen Zyklus schaffen.“

Ardevi überreichte Retir die Schachtel. Mit Staunen blickten alle auf das seltsame Geschenk. Die Frage nach dem Inhalt wagte niemand zu stellen. Dann zogen die Firan auf die Felder hinaus. Ardevi überließ es Retir, den richtigen Platz für das Ritual zu finden. Inmitten von Brachland, durch das sich ein Bach schlängelte, hob Retir eine Grube aus.

Er legte Ardevis Gabe hinein und schaufelte Erde darüber. Alles schwieg. Nur der Schrei eines Adlers und das Klingen der Schellen an den Hälsen der Weidetiere war zu hören.

Als sich eine Wolke vor die Sonne schob und das Gras verdunkelte, sprach einer der Alten des Dorfes:

„Steig hernieder, Licht,

gib Sein und Werden.

Alle Mühe, alles Ringen

kann nur Frucht und Leben tragen,

wenn deine Helferhände dringen

tief in den Schoß dieser Erde.

Lass auferstehen Reife,

von Tag zu Tag,

von Nacht zu Nacht,

von Jahr zu Jahr.

Steig hernieder, Licht!“

Eine junge Frau trat herbei, anmutig und von klarer Schönheit. In der Hand hielt sie einen Krug mit Wasser, das sie dem Bach entnommen hatte. Ardevi blickte in Augen, die so blau leuchteten wie die blaue Wegblume. Seltsam fern und doch nah stand die Frau vor ihm. Mit einer Geste forderte er sie auf, den Krug auszugießen. Während das Wasser langsam im Boden versickerte, vernahm er ihre Worte.

„Kein ungetanzter Tanz mehr,

kein ungelebtes Leben,

alle Tränen weggewischt,

wie ein nimmermüder Bach sprudelt das Leben.“

Die Wolke, die die Sonne verdunkelt hatte, verschwand. Das Sonnenlicht ergoss sich aus dem Himmel. Das Gras leuchtete in hellem Grün. Die Menschen nahmen es als gutes Zeichen. Erleichterung machte sich breit. Noch immer stand die Frau vor Ardevi. Er sah auf ihren Scheitel, auf gelocktes, kupferrotes Haar, auf die Rundung der Schultern, auf die atmende Brust unter dem Stoff des Kleides. Auf ihren Lippen lag ein schmerzliches Lächeln.

Ein Mann erschien, breit und groß von Wuchs, mit einem dunklen Bart und zornfunkelnden Augen. Mit grobem Griff packte der Mann die Frau am Gürtel und zerrte sie mit sich fort. Die Hände vors Gesicht geschlagen, wandte sie sich noch einmal um. Ardevi vernahm den erstickten Ton, der ihre Kehle würgte, und der zu einem Stöhnen wurde.

Der Friede des Sommertages war gebrochen. Unmut machte sich breit. Frauen drängten zusammen und tadelten die harte Vorgehensweise des finsteren Mannes.

„Er heißt Math. Er hat sie aus dem Nordland mitgebracht und hält sie wie eine Gefangene“, hörte Ardevi die Frauen reden.

„Eifersüchtig wacht er über sie, dass sie sich ja keinem anderen Mann nähert. Sie wohnen drüben am Schwarzmoos in einem der zwei Häuschen. Manchmal hört man die Frau in einer fremden Sprache singen, und es klingt traurig. Vielleicht kommt dies vom Schwarzmoos, wo es ohnehin nicht geheuer sein soll. Die Schwermut ergreife einen, wenn man dem Moor zu nahe komme, sagen die Leute. Manchmal sieht man die Frau aber auch allein oben auf dem Findelfels. Wenn ihr Mann auf Jagd ist, sitzt sie dort von morgens bis abends und spricht vor sich hin. Sie heißt Dilata. Dieser Name ist hier fremd.“

Auch die Männer berieten den Vorfall.

„Ein finsterer Bursche, dieser Math. Jagen kann er wie kein anderer. Treffsicher ist er wie kein zweiter und stark wie ein Bär. Aber dass er sein Weib so hart anfasst, das ist nicht recht. Schön wie die Sonne ist diese Frau. Da kann man schon verstehen, dass er sie wie seinen Augapfel hütet. Und doch möchte man sich am liebsten einmischen.“

Allmählich verblasste die eben geschaute Szene. Die Leute machten sich auf den Weg zurück ins Dorf. Ardevi folgte. Bald schon umstanden sie ihn und baten um Medizin gegen ihre Beschwerden. Ardevi verteilte Arzneikräuter gegen Kopfschmerzen und Krämpfe. Tinkturen gegen Fieber und Wassersucht, gegen Husten und Heiserkeit, Salben und Tränke, die der Fruchtbarkeit der Frauen dienen sollten. Dazu Essenzen von getrockneten Blüten, Beeren und Nüssen für Herz und Magen.

Die Vielfalt von Ardevis Angebot war groß, und die Reihe derer, die seinen Rat suchten, ebenfalls. Im Tausch erhielt Ardevi geräuchertes Fleisch, Salz, Linsen, Erbsen und Hirse. Dazu Käse und Butter, eingewickelt in die kühlenden Blätter der Neunwurz.

Auch Werkzeuge nahm er entgegen: Feilen, Nadeln und Schnitzmesser. Kaum, dass der Tauschhandel abgeschlossen war, näherte sich Ardevi ein Mann, gebeugt von der Last seiner späten Jahre.

„Auch wenn ich dir nicht viel zum Tausch bieten kann“, sagte der Alte.

„So bitte ich dich, mit mir zu kommen. Mein Enkel wird von Tag zu Tag kränker. Nichts will helfen. Vielleicht sind's die Moorgeister, die von ihm Besitz genommen haben.“

Ardevi, der bereits zum Aufbruch gerüstet hatte, horchte auf und fragte: „Wo wohnst du?“

„Am Schwarzmoos“, antwortete der Alte. „Drüben beim Findelfels.“

„Ein weiter Umweg für einen Mann, der sein Tagewerk beenden möchte. Da muss sich der Tausch aber lohnen. Was ist es denn, das du bietest?“, fragte Ardevi.

„Ein Band, gewebt von der Mutter meines Enkels. Es scheint wenig, und doch ist es viel.“

„Viel vielleicht für dich, aber für mich?“

Der Alte gab keine Antwort, nur der Kummer sprach aus seinem Gesicht. Da nickte Ardevi kurz. Sein Ton war rau.

„Gehen wir!“

Der Alte wohnte nicht allein in der Hütte, die er und Ardevi nach einer guten Wegstrecke betraten. Ein junges Mädchen saß an einem Webstuhl und ließ das Schiffchen mit flinker Hand durch die Kettfäden gleiten. Das Mädchen war von außergewöhnlicher Schönheit.

Im Herd zischte und knatterte ein Feuer, das seinen Schein in den hinteren Teil der Hütte entsandte. Im Dämmerlicht sah Ardevi einen Jungen auf einem Laubsack und Fellen liegen. Gesicht und Arme waren geschwollen. Den Kranken hatte er schon beim Eintreten in die Hütte gerochen.

 

„Arwe“, sagte der alte Mann, indem er auf den Kranken deutete.

„Seit Tagen liegt er hier und kann sich nicht rühren vor Schmerzen.“

Jetzt trat auch das Mädchen hinzu. Mit einer weichen Handbewegung strich sie dem Jungen über die Stirn.

„Kannst du ihn wieder gesund machen?“, fragte sie Ardevi. Ein zartes Beben schwang in ihrer Stimme.

Ardevi beugte sich über den Kranken und betastete seine Gelenke. Doch bei aller Behutsamkeit schrie der Junge auf.

„Bring mir Himmelsbrot, Brennnessel und Tierfett! Und Bast vom Lindenbaum!“, wies Ardevi den Alten an. Zu dem Mädchen gewandt sagte er: „Kennst du die Waldbrustwurz?“

Das Mädchen nickte.

„Gut zwei Handvoll Samen brauche ich. Aber pass auf, verwechsle sie nicht mit dem giftigen Schierling. Bevor du gehst, koche einen Krug Wasser.“

Seinem Korb entnahm Ardevi blühendes Heidekraut, das er auf dem Weg zu den Firan geschnitten hatte. Nachdem das Mädchen das Feuer stärker angefacht und das Wasser zum Kochen gebracht hatte, zerkleinerte er das Kraut und übergoss es mit dem heißen Wasser. Inzwischen war der Alte mit einem Arm voll der angeforderten Pflanzen und dem gewünschten Fett erschienen.

Ardevi bat ihn, die Blätter von den Stängeln zu zupfen. Die Blätter des Himmelsbrotes zerrieb er in einem Mörser zu Brei, gab Talg hinzu und mischte beides zu einer Salbe. Mit ihr bestrich er die stark angeschwollenen Gelenke des Jungen: Finger-, Hand-, Arm-, Schulter-, Hüft-, Knie- und Fußgelenke. Wieder schrie der Junge auf!

Mit dem weichen Rindenbast umwickelte Ardevi die kranken Stellen, damit die Salbe gut einziehen konnte. Die Blätter der Brennnessel fügte er dem aus Heidekraut gewonnenen Absud hinzu. Beides vermengte er, goss heißes Wasser dazu und gab es dem Jungen in kleinen Schlucken zu trinken. Dem Alten trug er auf, dies noch mehrere Male am Tag in gleicher Weise zu tun.

Das Mädchen trat ein und reichte Ardevi ein Säckchen mit den Samen der Waldbrustwurz. Ardevi nahm ein paar Samen heraus, prüfte sie, indem er sie zwischen den Fingern rieb und daran roch. Als er alles für gut befunden hatte, verlangte er ein weiteres Gefäß mit kochendem Wasser. Wieder verließ das Mädchen den Raum. Die Türe blieb offen.

Ardevi hörte die Schritte des barfüßigen Mädchens auf dem Sandweg, der zum Nachbarhäuschen führte. Er hörte, wie es anklopfte, wie sich knarrend eine Tür öffnete. Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr. Jemand weinte. Dann ein leises Wimmern, ein hilfloses Schluchzen.

Eine Männerstimme schrie: „Du hast es nicht anders verdient! Und wenn du noch so weit fortzulaufen versuchst, ich werde dich finden, ganz gleich wo du bist! Du hast dem fremden Mann schöne Augen gemacht!“

Ardevi hörte es poltern. Es klang klatschend wie Schläge. Sofort verließ Ardevi den Raum. Er sah das Mädchen an der Tür des Nachbarhauses stehen. Eine mächtige Gestalt füllte ihren Rahmen.

„Was willst du?“, schrie der Mann, in dem Ardevi Math erkannte.

„Ich will Dilata um einen Trog bitten. Wir haben keinen mehr. Arwe ist krank. Ardevi, der Heiler braucht ein Gefäß.“

Mit einer heftigen Armbewegung gab der Mann den Weg frei und deutete auf ein Wandbord, auf dem ein paar Gefäße standen. Das Mädchen ergriff eines davon und hastete aus dem Haus.

Ardevi trat vor den finsteren Mann. Dabei fiel sein Blick in das Haus. Er sah, wie eine Frau am Boden kauerte. Unter einem zerrissenen Hemd sah er einen Rücken, über den sich blutige Striemen zogen. Rot gelocktes Haar fiel über die zuckenden Schultern. Neben ihr lag ein Amulett. Ihre Hand tastete danach. Der Mann sah es, entriss es ihr und schleuderte es durch die offene Luke. Ein Geräusch war zu hören, als schlüge Metall auf Stein.

Die Frau wandte den Kopf. Erschrocken blickte sie auf Ardevi. Ein kalter Windstoß fuhr herein. Die Spannung zwischen den Männern wuchs. Draußen heulte der Kettenhund. Mit einer Stimme, schneidend scharf, herrschte Ardevi den Mann an:

„Du bist zu weit gegangen, Math! Du hast diese Frau nicht verdient! Gib sie frei und lass sie in ihre Heimat zurückkehren!“

Außer sich vor Zorn stürzte sich Math auf Ardevi, die Fäuste zum Schlag geballt, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Ardevi duckte sich. Maths Faust traf den Türrahmen. Jetzt hielt ihn nichts mehr zurück. Sein Atem geiferte. Mit wilden Schlägen hieb er auf Ardevi ein. Ardevi, standhaft und mit angespannten Muskeln, wehrte die Schläge ab. Geschickt wich er zurück. Math folgte ihm. Aus seinen Mundwinkeln troff Speichel.

Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand, mit dem er Ardevi angriff. Die Frau am Boden sah es. Blitzschnell erhob sie sich. Mit einem Sprung war sie hinter Math und trat ihm mit der ganzen Wucht ihres zierlichen Körpers in die Kniekehlen. Math verlor das Gleichgewicht. Lange genug für Ardevi, um dem Angreifer den Arm herumzudrehen und ihm das Messer zu entwinden. Es war der Augenblick, in dem die Frau aus dem Haus stürzen und in Richtung Moor fliehen konnte.

Auf dem Hof stand Arwes Großvater. Die Angst vor dem rohen Nachbarn stand ihm im Gesicht. Und doch wagte er es plötzlich, sich dem Rasenden in den Weg zu stellen. Wie ein welkes Blatt fegte dieser ihn zu Boden. Entschlossen, die flüchtende Dilata einzufangen, rannte Math davon, dem Moor entgegen, wo er alle Wege und Moorlöcher kannte, Dilata jedoch nicht.

Mit einer Stimme, die metallen klang, rief Ardevi ihm hinterher:

„Wenn du der Frau etwas antust, wirst du verflucht! Ich verfluche dich!“

Dann half Ardevi dem alten Mann vom Boden auf und ging mit ihm zurück an Arwes Lager. Das Mädchen reichte ihm das Gefäß mit heißem Wasser. Ardevi legte das Säckchen mit den Samen der Waldbrustwurz hinein. Seinem Mantel entnahm er einen Kristallstein, den er dem Alten mit den Worten überreichte:

„Sobald der Absud nur noch körperwarm ist, wasche Arwe damit. Dann lege den Stein auf seine Stirn. Und vergiss nicht, ihm von Nessel und Heide zu trinken zu geben.“

Das Mädchen hatte wieder seinen Platz am Webstuhl eingenommen. Hin und her glitt das Schiffchen. Dies erinnerte den Alten an sein Versprechen. Einem Wandkasten entnahm er ein Band und reichte es Ardevi. Ardevi hielt es übers Herdlicht und betrachtete es gründlich. Es war ein dicht gewebtes ockerfarbenes und starkes Band. Es war stark genug, das Gewicht eines Pfluges zu ziehen. Ardevi entdeckte ein eingewobenes Augenmuster darin.

„Behaltet es“, sagte er. „Wenn sich das Auge öffnet und den Vorhang der Nacht beiseitedrängt, erkennt es die Morgenröte.“

Ardevi legte das Band auf Arwes kranken Körper. Zu der jungen Weberin gewandt, sagte er:

„Wenn die Sonne am höchsten steht, webe mir ein neues Band. Farbe und Muster sollen dir überlassen sein. Wie heißt du?“

„Ich bin Tara!“

„Und wer bist du?“, fragte Ardevi den Alten.

„Ich bin Ribor, der Torfstecher.“

„Woher wusstest du, das ich mich bei den Firan aufhalte?“

„Dilata, die Nachbarsfrau, hat es mir erzählt und geraten, sobald wie möglich zu dir zu gehen. Sie sagte, wenn jemand helfen könne, dann nur du.“

„Und woher will sie das wissen?“

„Sie sagte, sie kenne dich.“

Da wandte sich Ardevi um und schritt unvermittelt zur Tür.

„Ich komme wieder“, kündigte er an.

„Bis dahin pflegt den Kranken, wie ich es euch gezeigt habe. Wiederholt die Waschungen und wendet die Salbe an.“

Ardevi verließ das Haus. Es zog ihn zum Moor. Ein schmaler Pfad, neben dem es in Tümpeln und Löchern gluckerte, führte hinein. Gelbe Schilfbüschel raschelten und flüsterten. Ardevi blieb stehen und ahmte den Ruf der Weihe nach, als erwarte er Antwort. Eine Antwort aber blieb aus.

Dies beunruhigte ihn; erst recht, als er an der Stelle, wo der Weg fast ganz im Dickicht verschwand, ein Lederriemchen fand, das zu einer Sandale gehören konnte. Den Vogelruf wieder und wieder in die Stille des Moores entsendend, versuchte er die Dunkelheit der Mooroberfläche zu ergründen, die sich düster zusammenballte. Doch das Moor blieb stumm. Nichts regte sich. Nach angespannter Suche kehrte Ardevi schließlich um.

Eilends ging er davon, in die entgegengesetzte Richtung, auf einen Abhang zusteuernd. Ein schmaler Grat führte ihn auf eine markante Felsnase, die Spitze des Findelfelsens. Senkrecht abfallend verloren sich die darunterliegenden mächtigen Wände im grünen Blätterdach des dichten Hangwaldes.

Sich am bemoosten Fels festklammernd ragte eine Eberesche auf, die sich im späten Licht fast schwarz gegen den Himmel abhob. Mit seinem Messer schnitt Ardevi ein paar Äste ab, entfernte die Blätter und kürzte sie zu geraden, gleich langen Stäben, neun an der Zahl. In jeden der Stäbe ritzte er ein Zeichen. Die gesungenen Worte, die seine Tätigkeit begleiteten, verhauchten im Rauschen der Windschwestern.

Das Auge nach innen gerichtet, warf er die zu einem Bündel gefassten Stäbe in die Luft. Kaum hörbar fielen sie zu Boden. Ardevi betrachtete ihre Lage. Sechs Stäbe lagen fächerartig ausgebreitet, ein siebter hatte sich quer darüber gelegt, die Spitze des Fächers zeigte nach Osten. Rechts und links davon flankierten je ein weiterer Stab in deutlichem, fast gleichen Abstand den Fächer. Ardevis Züge entspannten sich.

Durch eine aus zerklüfteten Steinen gebildete Spalte, die einer Luke glich, fiel sein Blick auf einen darunterliegenden Sporn. Er zwängte sich durch die schmale Öffnung. Mit einem Seil, das er an einem Felszacken befestigte, ließ er sich hinab. Von diesem tiefer liegenden Sporn aus gelangte er in eine Halbhöhle, die sich in der Felswand auftat. Zwei Sitze waren in den Fels gehauen. Den Boden überzog ein Muster aus feinen Rinnen.

Die Abendsonne fiel auf ein kreisrundes Loch in der Höhlenwand. Ardevi griff hinein und legte ein Päckchen ab. Ein herber Kräuterduft entströmte ihm. Er nahm die Flöte, deren Klänge nun den steinernen Raum ausfüllten. Dann brach er auf.

Der Rückweg war kühl und dunkel. Büsche und Bäume wurden fahl und sanken in die Schatten zurück. Erste Sterne glommen auf. Sicher schritt Ardevi durch die Nacht, getragen von einer Flut von Gedanken. Er sah Sternschnuppen, die regellos durch den Himmel jagten. Bei seiner Rückkehr in die heimische Höhle fand er Nalumbin vor, neben sich die Angelrute und den Trog mit ein paar Fischen darin. Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch.

„Warum bist du noch hier?“

Mit einer schwachen, unsicheren Handbewegung deutete der Junge auf den Trog und die Angel.

„Hier sind deine Sachen, und Fische habe ich auch mitgebracht,“ antwortete er zögernd. „Das Feuer hab' ich gehütet und ...“

„Und du dachtest, du könntest deswegen noch eine Nacht hierbleiben?“, unterbrach ihn Ardevi.

Nalumbin starrte hinaus in die Nacht. Er zog die Schultern hoch. Unsicherheit und Furcht waren ihm anzusehen.

„Aber morgen wirst du dich nützlich machen! Ich kann dich als Träger brauchen!“

Die Worte Ardevis ersparten Nalumbin die Bitte nach einem weiteren nächtlichen Lager. Er seufzte erleichtert, denn draußen vor der Höhle kündeten die Windschwestern von einem heranziehenden Gewitter.

„Jetzt nimm die Fische aus. Ich will essen!“ Und nach einer Weile fügte Ardevi hinzu: „Und du? Hast du Hunger?“

Nalumbin nickte. Wieder bohrte der Hunger in ihm.

„Dann mach schon, ich kümmere mich ums Brot.“

Da setzte sich Nalumbin an den Rand der Höhle und begann mit Jors Messer die Fische zu säubern. Die Innereien warf er in die Tiefe, aus der er Schritte zu hören glaubte. Waren es die Füße der Riesen, die umherstapften? Wo stand die Mondin? Doch da war keine Mondin. Die Schwärze des Waldes verschluckte jeden Lichtschein.

Als er sah, wie Ardevi im Feuer das Brot buk, wurde ihm leichter ums Herz. Trotz der kühlen Strenge gingen Kraft und Ruhe von diesem Mann aus, der ihm jetzt wieder so fremd schien, wie die Sonne der Mondin. Er war es, der diese Höhle wie mit einem unsichtbaren Schutzschild vor den Gefahren der Nacht abschirmte ...